Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte (2/05)
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Mobile Sonderpädagogische Dienste im Förderschwerpunkt Lernen – Ergebnisse einer Lehrerbefragung
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163 Mobile Sonderpädagogische Dienste im Förderschwerpunkt Lernen - Ergebnisse einer Lehrerbefragung Ulrich Heimlich, Dominik Röbe Ludwig-Maximilians-Universität München 1 Problemstellung In Bayern befinden sich derzeit über 4.000 Schüler/ innen mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ in der Allgemeinen Schule. Sie werden dort unterstützt von Förderschullehrkräften im Rahmen des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes (MSD). Konzeptionell ist der MSD von einem überregionalen Arbeitskreis von Koordinatoren/ innen begleitet und durch die Beratung des „Staatsinstitutes für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB)“ in München weiter entwickelt worden. Sowohl zur Tätigkeit der Förderschullehrkräfte und zu den eingesetzten Förderkonzepten als auch zur Entwicklung der sonderpädagogischen Kompetenz in diesem neuen sonderpädagogischen Arbeitsfeld lagen bislang jedoch kaum empirische Befunde vor. Aus diesem Grunde beauftragte das „Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus (SMUK)“ den Lehrstuhl für Lernbehindertenpädagogik der Ludwig-Maximilians- Universität München mit der Durchführung einer Bestandsaufnahme zur Tätigkeit von Förderschullehrkräften im MSD. Dabei steht besonders der Zusammenhang von MSD im Förderschwerpunkt „Lernen“ mit dem gemeinsamen Unterricht im Vordergrund. 2 Forschungsdesign Forschungsmethodisch haben wir uns für einen mehrphasigen Prozess entschieden, bei dem eine populationsbeschreibende Strategie im deskriptiv-statistischen Sinne leitend war. In der ersten Phase des Forschungsprozesses wurden die vorhandenen konzeptionellen Dokumente zum MSD aus den Regierungsbezirken in Bayern analysiert (vgl. Heimlich 2002). Außerdem haben wir die verfügbaren amtlichen Schuldaten zum MSD in einem Datenreport zusammengetragen (vgl. Heimlich/ Röbe 2003). Den Schwerpunkt der Untersuchung bildete in der Phase 2 eine schriftliche Befragung aller Förderschullehrkräfte im MSD in Bayern. Der Fragebogen wurde in einer Pilotstudie mit 20 überregionalen MSD- Koordinatoren/ innen erprobt und revidiert. Die endgültige Fassung des Fragebogens wurde Ende 2002 an 936 Förderschullehrkräfte im MSD versendet. Wir erhielten bis April 2003 insgesamt 454 Fragebögen zurück, was einer Rücklaufquote von 48,3% entspricht, die für schriftliche Befragungen allgemein als zufrieden stellend gilt. Sowohl bezüglich der Verteilung der Befragten nach sonderpädagogischen Förderschwerpunkten als auch in der regionalen Zuordnung zu Regierungsbezirken bildet die Untersuchungsgruppe die Grundgesamtheit gut ab, so dass von einer ausreichenden Repräsentativität der Untersuchungsergebnisse für den MSD in Bayern ausgegangen werden kann. Dabei hat allerdings der Förderschwerpunkt „Lernen“ einen deutlichen Einfluss auf die Ergebnisse, da in diesem Bereich allein 337 Lehrkräfte befragt wurden. Für die Auswertung der Befragung erwies es sich schließlich als hochproblematisch, dass der MSD ein intern stark vernetztes sonderpädagogisches Arbeitsfeld darstellt, in dem kaum nach Förderschwerpunkten getrennt gearbeitet wird. So sind beispielsweise aus der Untersuchungsgruppe nur 28 Förderschullehrkräfte ausschließlich im Förderschwerpunkt „Lernen“ tätig. Die Phase 3 des Projektes wird im Wesentlichen in einer Dokumentation von regionalen MSD-Projekten bestehen, in denen im Sinne des „best-practice“- Modells besonders gelungene Beispiele der Kooperation von Allgemeinen Schulen und Förderschulen vorgestellt werden sollen. Aktuelle Forschungsprojekte In dieser Rubrik stellt die VHN laufende Forschungsprojekte zu heilpädagogischen Fragestellungen in Kurzform vor. Für das Einholen weiterer Informationen durch interessierte Leserinnen und Leser geben die Autoren eine E-Mail-Adresse an. Wir bitten unsere Leserschaft um die Zusendung solcher Kurzberichte über laufende Forschungsprojekte. VHN, 74. Jg., S. 163 - 168 (2005) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 3 Ergebnisse Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse beziehen sich auf die Hauptuntersuchung im Rahmen des Projektes (Phase 2), in der die Lehrerbefragung durchgeführt wurde. Der MSD ist demnach insgesamt ein Förderangebot, das überwiegend mit einzelnen Schülern/ innen außerhalb des Klassenunterrichts in einem separaten Raum durchgeführt wird. Diese Förderung findet in der Regel nur an einem Wochentag und im Durchschnitt für eine Dauer von 1 - 2 Stunden statt. Für einen Großteil der Schüler/ innen ist die Förderung laut Auskunft der Lehrkräfte bereits nach sechs Monaten beendet, so dass die Teilnahme am Unterricht der Allgemeinen Schule ohne Unterstützung durch Förderschullehrkräfte erfolgen kann. Die MSD-Lehrkräfte sind überwiegend beratend und fördernd tätig. Eine Kooperation mit den Lehrkräften der Allgemeinen Schulen erfolgt auf der Basis von organisatorischen Absprachen. Intensivere Formen der Zusammenarbeit, etwa das team-teaching im Klassenunterricht, finden eher selten statt. Wichtig ist den befragten Lehrkräften die enge Kooperation im Team der MSD-Lehrkräfte - und zwar sowohl innerhalb der Stammschule (der jeweiligen Förderschule) als auch bezogen auf die überregionalen MSD-Koordinatoren/ innen und die regionalen MSD-Teams. Die Qualifikation für den MSD erfolgt in der Regel selbst organisiert, Fortbildung findet meist erst nach dem Einstieg in den MSD statt, die sonderpädagogische Lehrerbildung hat bislang kaum Bedeutung bei der Vorbereitung auf den MSD. Im Rahmen der MSD-Tätigkeit verschiebt sich das sonderpädagogische Kompetenzprofil. Während Unterrichtskompetenzen eine abnehmende Bedeutung zugeschrieben wird, erfahren Beratungs-, Kooperations- und Diagnosekompetenzen eine Ausweitung. Besonders die Beratungskompetenz muss von vielen Förderschullehrkräften neu erworben werden. Die Förderangebote des MSD zielen gegenwärtig nach Auskunft der befragten Lehrkräfte am ehesten auf solche Schüler/ innen, die die Ziele der Allgemeinen Schule noch erreichen können. 4 Interpretation Der MSD ist in Bayern für über 10.000 Schüler/ innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine effektive Möglichkeit zur integrativen Förderung. Die hohe Verbleibsquote von Schülern/ innen, die durch den MSD in der Allgemeinen Schule gefördert werden, ist umso erstaunlicher, als vergleichsweise geringe Ressourcen pro Schüler/ in aufgewendet werden können. Mehr als drei Viertel der Förderschulen in Bayern haben dieses mobile Förderangebot mit in ihr Leistungsspektrum aufgenommen. Allerdings beschränkt sich dieses Förderangebot auf solche Schüler/ innen, die zielgleich in der Allgemeinen Schule gefördert werden können. Schüler/ innen mit gravierenden Lernschwierigkeiten und Schüler/ innen mit dem Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ werden nach wie vor überwiegend in Förderschulen überwiesen. Bezogen auf die sonderpädagogische Kompetenz steht der MSD exemplarisch für ein modernes sonderpädagogisches Kompetenzprofil, in dem die Unterrichtskompetenz ihre dominierende Stellung verliert und gleichwertig neben der Beratungs-, Kooperations- und Interventionskompetenz steht. Eine Unterscheidung der MSD-Tätigkeit nach Förderschwerpunkten ist angesichts des hohen Grades an Vernetzung in diesem Arbeitsfeld nicht nachweisbar. Insofern liegt die Annahme nahe, dass die MSD-Tätigkeit ein sonderpädagogisches Arbeitsfeld mit einem Aufgabenprofil darstellt, das quer zu den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten liegt. Zumindest für die Förderschwerpunkte „Lernen“, „Sprache“ sowie „emotionale und soziale Entwicklung“ kann von großen Überschneidungen gesprochen werden. Allenfalls die überregionale MSD- Tätigkeit in den Förderschwerpunkten „Hören“, „Sehen“ sowie „körperliche und motorische Entwicklung“ könnte ein eigenständiges konzeptionelles Profil ausgebildet haben. Die Zahl der Befragten in diesen Förderschwerpunkten war jedoch in dieser Studie zu gering, als dass darüber fundierte Aussagen möglich wären. Weitere Informationen und Literaturhinweise können eingeholt werden unter heimlich@spedu.unimuenchen.de sowie www.paed.uni-muenchen.de/ ~lkp/ CONMAN/ forschung Qualitätssicherung in der Integrationsarbeit (QSI) Gottfried Wetzel Universität Salzburg Im Rahmen der europäischen Gemeinschaftsinitiative EQUAL entwickeln und erproben 58 österreichische Entwicklungspartnerschaften von 2002 bis 2005 innovative Standards, um Diskriminierung Aktuelle Forschungsprojekte 164 VHN 2/ 2005 und Ungleichheiten im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt zu bekämpfen. Gefördert wird dieses Projekt aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und aus Mitteln des BM für Wirtschaft und Arbeit. Im Bereich der Integrationsarbeit mit behinderten Menschen erarbeitet QSI Curricula und Qualitätskriterien für die Ausbildung von Integrationsfachkräften (Hladschik 2004) und verfolgt damit zwei arbeitsmarktpolitische Ziele: 1. Entwicklung einheitlicher Standards für Ausbildungen im Integrationsbereich: Einerseits gibt es zwar viele verschiedene Ausbildungen, andererseits aber existieren keine einheitlichen, österreichweit gültigen Qualitätskriterien für diese Lehrgänge. 2. Integration behinderter Menschen in den Arbeitsmarkt: Es braucht die Unterstützung von Profis, die nicht nur praktische Erfahrung und theoretisches Wissen mitbringen, sondern auch um die Rahmenbedingungen Bescheid wissen. In den letzten Jahren ist der Bedarf an Fachkräften, die Menschen mit einer Behinderung und ihre Angehörigen im täglichen Leben unterstützen, stark gestiegen. Die Bemühungen um (außer-)schulische Integration und die Einführung der Pflegesicherung ließen zahlreiche Unterstützungsstrukturen entstehen bzw. wachsen. Allerdings hinkt die Ausbildung der in der Integration Tätigen den praktischen Erfordernissen hinterher. Im QSI-Projekt wurde eine umfassende Analyse der Ausbildungsgänge im Gesundheits- und Sozialbereich erstellt, welche Ausbildungen es in diesem Bereich gibt, wie sie geregelt sind und vor allem wie „integrativ“ sie ausgerichtet sind (Schmid/ Prochazkova 2004). Im Zentrum der Arbeit von QSI stehen vier Pilotlehrgänge, die qualifizierte Integrationsfachkräfte ausbilden: • für Elternbildung: Neben theoretischen Grundlagen der Erwachsenenbildung wird vor allem der Aufarbeitung der eigenen Betroffenheit und der speziellen Situation von Familien mit behinderten Kindern ein hoher Stellenwert eingeräumt. • für Familienberatung: Es wird vor allem auf Beratungskompetenz und Persönlichkeitsbildung Wert gelegt. Es geht darum, Ressourcen und Kompetenzen des Einzelnen in seiner Rolle jeweils zu stärken, Perspektiven für Familien mit behinderten Kindern und Jugendlichen aufzuzeigen und ein Angebot zur Entscheidungshilfe zu setzen. • für Schulbegleitung: Kinder mit besonders hohem Unterstützungsbedarf haben in Oberösterreich das Recht auf eine eigene Begleitperson in integrativen Klassen. Für eine gelungene Integration braucht es neben ausgebildetem Lehrpersonal auch eine qualifizierte Begleitung. • für individuelle Hilfe, Familienentlastung und Freizeitgestaltung: Parallel zur Teilnahme am Lehrgang arbeiten die Teilnehmer/ innen bereits in ihrem künftigen Berufsfeld. Sie erweitern durch ihre Tätigkeit den sozialen Bezugsrahmen behinderter Menschen und entlasten das System Familie. Die dreisemestrigen Lehrgänge bauen auf einem Basislehrplan von 72 Stunden auf, der aus sechs Grundblöcken besteht (Feyerer/ Schwarz 2004). Darauf aufbauend besteht jeder Lehrgang aus einem zusätzlichen individuellen Curriculumteil. Die Inhalte des Basis-Curriculums sind: • Persönliche Perspektiven: Eine kritische Reflexion der eigenen Einstellungen und subjektiven Theorien zur Integration/ Inklusion von Menschen mit Behinderung und der Arbeit in heterogenen Gruppen ist wichtig. • Theorien, Methoden und Ansätze integrativer Pädagogik: Dieser Baustein regt eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Grundhaltungen der Integration und die Umsetzung im eigenen Arbeitsfeld an und stellt Inhalte und Methoden für spezielle Aufgaben in der Arbeit in integrativen Gruppen vor. • Gesellschaftliche Perspektiven - von der Aussonderung zur Integration: Anhand von Beispielen sollen frühere und heutige Mechanismen der Aussonderung sowie die Motive, welche dabei eine Rolle gespielt haben, bearbeitet werden. Anhand der Geschichte soll die Bedeutung der Initiativen von Eltern mit behinderten Kindern für die Entwicklung der Integrationsbewegung sichtbar gemacht werden. Es werden auch wesentliche Rechtsgrundlagen für die integrative Arbeit mit Menschen mit Behinderung vorgestellt. • Perspektiven und Grundsätze eines selbstbestimmten Lebens: Die unterschiedlichen Perspektiven der Betroffenheit aus Sicht von be- Aktuelle Forschungsprojekte 165 VHN 2/ 2005 hinderten Frauen und Männern und betroffenen Eltern werden präsentiert. Betroffene als Expert/ innen in eigener Sache geben Einblicke in die Entwicklung der Selbstbestimmt-Leben-Initiative und vermitteln Konsequenzen für begleitende, beratende und assistierende Berufsgruppen sowie das (mögliche) Spannungsverhältnis von Betroffenen und Professionist/ innen. • Interdisziplinäres Arbeiten: Grundlagen der Kommunikation und Kooperation in integrativen Gruppen innerhalb und außerhalb von Institutionen werden behandelt. • Transfer, Evaluation und Qualität integrativer Arbeit: Es werden die verschiedenen Aspekte von Qualität in der Integration diskutiert. Durch konkrete Beispiele aus der Praxis wird ein Einblick in die praktische Umsetzung eines Qualitätsmanagements gegeben. Die Vision, die das Projekt QSI bestimmt, ist die Gleichberechtigung von behinderten und nicht behinderten Menschen in allen Lebensbereichen. Dazu gehört auch, dass gemeinsam mit behinderten Menschen und ihren Angehörigen an der Entwicklung von Qualitätsstandards für die Ausbildung von Integrationsfachkräften gearbeitet wird, wie z. B. beim Film BlickBestimmung (Feuerstein/ Hruska 2003), der elf Portraits von Menschen, die in Stadt und Land selbstbestimmt ihr Leben gestalten, vorstellt. Er zeigt ihren Arbeitsalltag ebenso wie ihre Freizeitgestaltung und bietet Einblicke in großteils unbekannte Lebenssituationen. Gemäß dem Motto des Independent Living Movement „Nothing about us without us! “ nehmen es behinderte Menschen in diesem Film selbst in die Hand, die stereotypen Bilder von Behinderung, die noch immer in unseren Köpfen verankert sind, zu korrigieren. Zur Qualitätssicherung wurde ein Instrument zur Erfassung der Integrativen und Selbstbestimmt-Leben-Grundhaltung in grundlegenden Tätigkeitsbereichen (Bildung, Arbeit, Freizeit, Wohnen, persönliche Rechte usw.) entwickelt, die für Integrationsfachkräfte relevant sind. Im Rahmen der QSI- Pilotlehrgänge und mit Studierenden der Erziehungswissenschaft in Salzburg und Wien wurde der Fragebogen erprobt und hat sich bewährt. Konzipiert wurde dieser in erster Linie für den Einsatz im Ausbildungsbereich und bei der Personaleinstellung/ bei Bewerbungen, als Feedback-Instrument für Ausbildner/ innen bzw. Ausbildungsträger (individuelle Rückmeldungen, Gruppendiskussionen usw.) bzw. bei Evaluationen und Qualitätssicherungsmaßnahmen. In der Broschüre werden theoretische Ansätze, bisherige Studien zu dieser Thematik zusammengefasst und die Ergebnisse zu dem von Wetzel und Zettl (2004) entwickelten Fragebogen (inklusive der Auswertungsmöglichkeiten) präsentiert. Das Buch zur „Qualitätssicherung in der Integrationsarbeit“, der Film „BlickBestimmung“, die Ist-Analyse, die Curricula und der Fragebogen zur „Integrativen Haltung“ sowie Literaturhinweise können bei gottfried.wetzel@sbg.ac.at bestellt werden. Unter www.qsi.at stehen weitere Informationen zum Projekt zur Verfügung. Sonderpädagogische Fördersysteme im 20. Jahrhundert - ein deutsch-amerikanischer Vergleich Justin J. W. Powell Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin Im Rahmen der Selbständigen Nachwuchsgruppe „Ausbildungslosigkeit: Bedingungen und Folgen mangelnder Berufsausbildung“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Leitung: Prof. Dr. Heike Solga) wurde von Dr. Justin Powell ein historischvergleichendes Forschungsprojekt zur Entwicklung sonderpädagogischer Fördersysteme in Deutschland und den USA im 20. Jahrhundert durchgeführt. Seit dem Jahr 2000 beschäftigt sich die Forschergruppe mit Untersuchungen von Bildungsinstitutionen und der gesellschaftlichen Produktion gering qualifizierter Personen und deren Lebensläufen. Ähnlich wie in den Disability Studies ist es unser Ziel, weniger individuelle Merkmale, sondern vielmehr institutionell definierte Kontexte zu analysieren. Deshalb richtet sich unser Blick vor allem auf Bildungssysteme und ihre Folgen für soziale Gruppen. Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind in der Gruppe gering qualifizierter Personen deutlich überrepräsentiert. In Deutschland sind ganze 40 % der Schulabgänger/ innen ohne Abschluss Sonderschulentlassene, obwohl Sonderschüler/ innen weniger als 5 % aller Schulkinder ausmachen. Auch in den USA haben Schüler/ innen in sonderpädagogischen Maßnahmen ein deut- Aktuelle Forschungsprojekte 166 VHN 2/ 2005 lich erhöhtes Risiko, die Sekundarstufe ohne Abschluss zu verlassen, jedoch erreicht mehr als die Hälfte den Standard „high school diploma“. Ausgangspunkt des Promotionsprojektes war deshalb die Frage: Warum sind die Bildungschancen von Schüler/ innen im hoch spezialisierten deutschen Sonderschulwesen so viel niedriger als in den sonderpädagogischen Förderklassen der amerikanischen Gesamtschulen? Vier Aspekte wurden untersucht: (1) die langfristige Entwicklung von Behinderungsparadigmen und Klassifikationssystemen; (2) der Prozess der Klassifizierung von Schüler/ innen als „sonderpädagogisch förderbedürftig” und die variierenden Klassifizierungsraten sozialer Gruppen; (3) die Verteilung dieser Schülergruppen auf vorhandene Lerngelegenheitsstrukturen, die durch die Organisationsformen der Bildungssysteme bestimmt werden, sowie (4) die erworbenen bzw. fehlenden Schulabschlüsse, die für die späteren Berufs- und Lebenschancen von Bedeutung sind (Powell 2004 a). Die Definitionen sowie die Institutionalisierungsprozesse von „Behinderung“ bzw. die sonderpädagogische Förderung in Deutschland und den USA wurden in ihrer Entwicklung im Verlauf des 20. Jahrhunderts untersucht. Der Schwerpunkt der Analyse lag in der qualitativen und quantitativen Beschreibung der unterschiedlichen Strukturen der sonderpädagogischen Förderung. Es wurden institutionelle, soziokulturelle und bildungspolitische Kontextfaktoren herausgearbeitet, die zu den unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken und Institutionalisierungsprozessen der Fördersysteme in Deutschland und den USA beigetragen haben. In Deutschland und den USA hat, auch im Bereich der Sonderpädagogik, im letzten Jahrhundert eine massive Bildungsexpansion stattgefunden. Seit den 1960er Jahren öffnen sich die öffentlichen Bildungssysteme zunehmend für behinderte Kinder. In beiden Ländern erhalten immer mehr Schüler/ innen eine sonderpädagogische Förderung. Gleichzeitig gibt es in beiden Ländern eine deutliche Überrepräsentanz von männlichen Schülern, ethnischen Minoritäten und sozial Benachteiligten in den sonderpädagogischen Maßnahmen. Dennoch zeigen die Ergebnisse auch bedeutende Unterschiede in den individuellen Schülerkarrieren und den institutionellen Strukturen der sonderpädagogischen Förderung sowohl zwischen den beiden Ländern als auch innerhalb des jeweiligen Landes. Von den zahlreichen Unterschieden scheinen insbesondere die Behinderungsbegriffe und die Organisationsformen der sonderpädagogischen Unterstützung von zentraler Bedeutung zu sein. Während sich in Deutschland ein hoch differenziertes Sonderschulwesen (“interschulische Segregation”) etabliert hat, stellt die Partizipation einzelner Kinder im Einheitsschulsystem in den USA das primäre Ziel dar. Diese „Integration“ (früher: “mainstreaming”) erfolgt aber zumeist in separaten Klassen (“intraschulische Separierung”). Aufbauend auf die Erfolge anderer Bürgerrechtsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre konnte die amerikanische “Disability Rights“-Bewegung die schulische Integration sowie Antidiskriminierungsgesetze durchsetzen (Powell 2004 b). Seit den 1990er Jahren richten Policy-Eliten wie Bürgerbewegungen beider Länder ihre Diskurse zunehmend auf ähnlich ambitionierte Ziele: auf den Ausbau einer „Pädagogik der Vielfalt in Gemeinsamkeit“ (Preuss-Lausitz) bzw. im Amerikanischen einer „inclusive education“. Die US-amerikanischen Schulsysteme gehören heute zu den eher integrierenden Systemen. So besuchten in den Vereinigten Staaten im Jahr 2000 über 95 % aller Schüler/ innen mit Förderbedarf die Regelschule, wo sie nach einem individuell erstellten Förderplan lernen. In Deutschland hingegen sind weniger als 15 % aller Schüler/ innen mit Förderbedarf in Regelklassen integriert; für über 85 % der Kinder bedeutet Förderung den Besuch einer Sonderschule. Dieses Bild verdeckt aber angesichts der ausgeprägten föderalistischen Struktur beider Länder die starke Heterogenität auf der Ebene der Bundesländer bzw. Bundesstaaten und der Kreise, und natürlich auch die Vielfalt an den Schulen und in den Schülergruppen. Die Analysen zeigen, dass Klassifizierungspraktiken und Institutionalisierungen des Förderbedarfs regional deutlich variieren - und damit auch die Verteilung der jeweils erreichten Schulabschlüsse. Diese empirischen Befunde legen nahe, dass das Klassifizieren von förderbedürftigen Schüler/ innen, wie es in beiden Bildungssystemen praktiziert wird, keineswegs einer Naturgesetzmäßigkeit unterliegt (Powell 2003 a). Institutionelle Kontexte spielen eine außerordentlich wichtige Rolle für die Klassifikation der Kinder, für ihren Schulbesuch, für die bereitgestellten Ressourcen, für ihre Schulabschlüsse und die daraus folgenden Berufschancen im weiteren Lebensverlauf (Powell 2003 b). Aktuelle Forschungsprojekte 167 VHN 2/ 2005 Aktuelle Forschungsprojekte 168 VHN 2/ 2005 Trotz der ähnlichen historischen Ausgangslagen haben sich die sonderpädagogischen Fördersysteme der beiden untersuchten Staaten im Verlauf des letzten Jahrhunderts zunehmend auseinander entwickelt. Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass institutionelle Grenzen sowie bildungspolitisches Handeln die Verteilung der Schüler/ innen auf die Strukturen der schulischen Lerngelegenheiten bestimmen, nicht jedoch die zumeist klinisch-abgeleiteten Kategorien des sonderpädagogischen Förderbedarfs: Es besteht kein eindeutiger Zusammenhang zwischen der diagnostizierten Behinderungskategorie und dem zugewiesenen Förderort. Es wird gezeigt, dass regionale, soziale, ethnische und geschlechtsspezifische Risikofaktoren den Förderort sowie den Schul(miss)erfolg bestimmen. Dies gilt nicht nur für so genannte lernbehinderte Schüler/ innen, sondern auch für vermeintlich objektive Kategorien wie körperliche oder geistige Behinderung. Der Vergleich der deutschen Bundesländer und der US-Bundesstaaten zeigt die unterschiedlichen Erfolge bzw. Grenzen einer inklusiven Pädagogik in föderalen Bildungssystemen. Weitere Informationen sowie Literaturhinweise können eingeholt werden unter powell@mpib-berlin.mpg.de, www.mpib-berlin.mpg.de oder http: / / library.mpib-berlin.mpg.de/ catalog/ opac/ searchform.php
