Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte (4/05)
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Psychosozialer Unterstützungsbedarf von Eltern frühgeborener Kinder auf neonatologischen (Intensivtherapie-)Stationen
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Psychosozialer Unterstützungsbedarf von Eltern frühgeborener Kinder auf neonatologischen (Intensivtherapie-)Stationen Dörthe Machul Humboldt-Universität zu Berlin Ausgangslage In der Bundesrepublik Deutschland kommen jährlich ca. 6 - 8 % aller Kinder zu früh, d.h. vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt. Für Kinder und Eltern ist eine Frühgeburt ein einschneidendes Ereignis mit kurz-, mittel- und langfristigen Folgen. Frühgeborene reagieren anders als reifgeborene Kinder und werden öfter als diese von ihren Eltern als „schwierig“ wahrgenommen. Längsschnittstudien belegen ein erhöhtes biologisches Entwicklungsrisiko und eine Vulnerabilität gegenüber zusätzlichen psychosozialen Entwicklungsrisiken. Ein großer Teil der Eltern erlebt die Umstände der Frühgeburt als emotional belastend; viele Eltern wünschen sich eine professionelle Unterstützung bei der Bewältigung der neuen und komplexen Anforderungssituation. Anhaltende emotionale Belastungen wirken sich nachteilig auf den elterlichen Gesundheitszustand aus. Zusätzlich bedrohen sie die Qualität der frühen Eltern-Kind-Beziehung, die eine zentrale psychosoziale Einflussgröße für die weitere kindliche Entwicklung darstellt. Günstige familiäre Rahmenbedingungen (auch ausreichende frühgeburtsspezifische Kenntnisse und Handlungskompetenzen der Eltern) können im Sinne von Schutzfaktoren die durch die Frühgeburt bedingten biologischen Entwicklungsrisiken der Kinder kompensieren. Die Reduktion elterlicher Belastungen und frühkindlicher Entwicklungsrisiken und die Stärkung protektiver Faktoren (Ressourcen) sind Ziele einer multiprofessionellen Unterstützung der Eltern während des Klinikaufenthaltes ihrer Kinder. Grundlage für die Zusammenstellung entsprechender Angebote ist eine genaue Kenntnis des elterlichen Unterstützungsbedarfs. Nicht nur der expertendefinierte Bedarf, sondern auch die subjektive Bedürfnislage der Eltern bzw. der Familien sollten hierbei berücksichtigt werden, um Akzeptanz und Effektivität der Unterstützungsangebote zu gewährleisten. Eine Vernachlässigung des zweitgenannten Aspektes führte in der Vergangenheit zu negativen Interventionseffekten. Angaben zum (vor allem subjektiven) Unterstützungsbedarf lassen sich in der Fachliteratur nur vereinzelt finden. Meist wird ein hoher Informationsbedarf hervorgehoben. Für die Durchführung standardisierter Erhebungen zum Bedarfsumfang wurden Beschreibungskategorien aus anderen Feldern entlehnt, weil eine kategoriale Beschreibung des elterlichen Bedarfs speziell in neonatologischen Kliniken bislang fehlt. Fragestellung Dies gab den Ausschlag dazu, im Rahmen des im Folgenden skizzierten explorativen Forschungsprojektes den psychosozialen Unterstützungsbedarf von Eltern frühgeborener Kin- 342 Aktuelle Forschungsprojekte In dieser Rubrik stellt die VHN laufende Forschungsprojekte zu heilpädagogischen Fragestellungen in Kurzform vor. Für das Einholen weiterer Informationen durch interessierte Leserinnen und Leser geben die Autoren eine E-Mail-Adresse an. Wir bitten unsere Leserschaft um die Zusendung solcher Kurzberichte über laufende Forschungsprojekte. VHN, 74. Jg., S. 342 - 348 (2005) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel der zu untersuchen. Da sich der Forschungsgegenstand aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedlich darstellen kann, wird er in dieser Studie aus mehreren Perspektiven betrachtet. Ein Schwerpunkt wird auf die qualitative Erfassung des subjektiv wahrgenommenen (und erfragbaren) elterlichen Bedarfs gelegt. Diese Erfassung soll möglichst getrennt von der Frage erfolgen, inwieweit der Bedarf im konkreten Einzelfall tatsächlich als gedeckt empfunden wird. Offenheit besteht gegenüber weiterführenden Angaben der Eltern, die zum Beispiel die Abhängigkeit des subjektiven Unterstützungsbedarfs von verschiedenen Faktoren oder die Trennung zwischen dem Bedarf an professioneller und anderweitiger Unterstützung betreffen können. Die zweite forschungsleitende Frage des Projekts richtet sich auf die Beurteilung des elterlichen Unterstützungsbedarfs durch Vertreter verschiedener, in neonatologischen Kliniken tätiger Berufsgruppen. Auch hier interessieren in erster Linie Einschätzungen zu den Arten des elterlichen Bedarfs. Darüber hinausgehende Kontextangaben wie zum Beispiel zur Praxis der Bedarfszuschreibung oder zur Reflexion des Verhältnisses zwischen selbst- und fremddefiniertem Bedarf können ebenfalls von Interesse sein. Die Bedeutung von Kontextangaben für die untersuchte Thematik kann jedoch erst im Verlauf des Forschungsprozesses beurteilt werden. Untersuchungsmethoden Im Hinblick auf den Forschungsgegenstand und dessen bisher wenig untersuchte Struktur wurde ein qualitativer Forschungsansatz gewählt. Als Datenbasis für die angestrebte Bedarfserfassung werden nicht Bedarfsindikatoren (wie Belastungsintensität oder Nachfrage), sondern die im Untersuchungsfeld vorhandenen Bedarfseinschätzungen herangezogen. Um sowohl Selbstals auch Fremdeinschätzungsdaten erheben zu können, werden einerseits betroffene Eltern selbst, andererseits vor Ort tätige Experten befragt. Die Datenerhebung erfolgt über offene leitfadengestützte Interviews. Zur Erstellung der Interviewleitfäden wurden die vor der Datenerhebung bereits vorhandenen theoretischen Konzepte der Forscherin genutzt; in der Interviewsituation selbst bleibt jedoch genügend Raum für die Darstellung der persönlichen Relevanzen der Befragten. Ein zusätzlicher Kurzfragebogen dient der Erhebung ausgewählter elterlicher Sozialdaten. Die Gespräche sind als einmalige Einzelinterviews konzipiert und werden in mehreren neonatologischen Kliniken beziehungsweise auf Wunsch der Eltern auch bei diesen zu Hause durchgeführt. Die Auswahl der zu befragenden Eltern wird zu Beginn des Forschungsprozesses nur wenig eingeschränkt und richtet sich im weiteren Verlauf zunehmend gezielter nach inhaltlichen Kriterien, die sich aus dem jeweiligen Erkenntnisstand ergeben. Die Expertenbefragungen beziehen sich auf die Berufsgruppen, die das Forschungsfeld aktiv durch die von ihnen vorgenommenen Zuschreibungen und Entscheidungen mitgestalten. Die gewonnenen Daten sollen eine Rekonstruktion expliziten und impliziten Erfahrungswissens und handlungsleitender Regeln ermöglichen. Der Zugang zum Feld wird über Mitarbeiter/ innen der verschiedenen Kliniken gewährleistet. Vor Beginn der Datenerhebung wurden unter Beachtung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen schriftliche Elterninformationen und Formulare für Einwilligungserklärungen angefertigt. Alle Interviews werden mit Einverständnis der Befragten auf Tonband aufgezeichnet und im Anschluss vollständig beziehungsweise teilweise transkribiert. Das vorgestellte Forschungsvorhaben befindet sich aktuell (Mai 2005) in der ersten Phase der Datenerhebung. Die Datenerhebung wird einen Zeitraum von insgesamt circa acht Monaten umfassen. Auswertung Datenerhebung und -auswertung finden in mehreren, flexibel aufeinander bezogenen Phasen statt. Für die Auswertung der Gesprächsprotokolle werden inhaltsanalytische Techniken ge- Aktuelle Forschungsprojekte 343 VHN 4/ 2005 nutzt, um eine zunächst fallbezogene, dann fallübergreifende materialgestützte Kategorienbildung vorzunehmen. Das erstellte Kategoriensystem ermöglicht eine qualitative Beschreibung des berichteten psychosozialen Unterstützungsbedarfs. Die aus der Elternbefragung resultierenden Angaben zu den Arten des Unterstützungsbedarfs sollen im Anschluss zu dem über die Experteninterviews ermittelten professionellen Wissensstand in Beziehung gesetzt werden. Weitere Studienergebnisse werden in Abhängigkeit von ihrer Relevanz für die untersuchte Thematik publiziert. Der Forschungsprozess wird in einer bestehenden Arbeitsgruppe gemeinsam reflektiert. Zentrales Ziel des insgesamt auf ungefähr zwei Jahre angelegten Forschungsprojektes ist es, im Feld tätige Professionelle für die Bedarfslage betroffener Eltern und für das Spannungsfeld zwischen selbst- und fremddefiniertem Unterstützungsbedarf zu sensibilisieren. Zugleich soll eine empirische Grundlage für die derzeit vorgenommene Konzeptualisierung, Implementierung und Optimierung elternorientierter Angebote in verschiedenen Kliniken geschaffen werden. Weitere Informationen sowie Literaturhinweise können eingeholt werden unter doerthe. machul@staff.hu-berlin.de Informationsverarbeitung bei Kindern mit Autismus Christoph M. Müller Universität zu Köln Ausgangslage und theoretischer Hintergrund An der Universität zu Köln (Heilpädagogische Fakultät, Prof. Dr. Susanne Nussbeck) läuft seit 2003 ein Forschungsprojekt zur visuellen Informationsverarbeitung bei Kindern mit Autismus. Mit Hilfe psychologischer Versuchsdesigns wird untersucht, ob sich Kinder mit Autismus eher an perzeptuellen oder konzeptuellen Merkmalen von Informationen orientieren. Das Projekt wird durch ein Promotionsstipendium der Stiftung der Deutschen Wirtschaft gefördert. Autismus ist eine tief greifende Entwicklungsstörung, welche mit Auffälligkeiten im Bereich der Kommunikation und des Sozialverhaltens sowie mit stereotypen und repetitiven Verhaltensweisen einhergeht. Die aktuell durchgeführte Untersuchung beschäftigt sich mit der psychologischen Grundlage der Störung und orientiert sich an der Theorie der schwachen zentralen Kohärenz von Uta Frith (1989; 2003). Frith versteht Veränderungen innerhalb der Informationsverarbeitung als eine Ursache für autistische Verhaltensweisen. In ihrem Modell geht sie davon aus, dass Menschen mit Autismus besondere Stärken im Bereich der lokalen detailorientierten Verarbeitung und Schwächen im Bereich der globalen bedeutungsbezogenen Verarbeitung zeigen (vgl. Überblick bei Happé 2000). Autistische Menschen können demnach z. B. Gesamtbilder sehr gut in ihre Einzelheiten aufgliedern, haben aber Schwierigkeiten, Bedeutungszusammenhänge zwischen verschiedenen Informationen herzustellen. Insbesondere für die Stärken im Bereich der lokalen Verarbeitung gibt es eine recht hohe Evidenz (z. B. Plaisted u. a. 2003). Auf der anderen Seite nimmt die Zahl der Publikationen zu, welche entgegen der Annahme von Frith unauffällige globale Verarbeitungsfähigkeiten autistischer Personen beschreiben (z. B. Mottron u. a. 2003). Problemstellung Das Problem der widersprüchlichen Ergebnisse zu den globalen Fähigkeiten von Menschen mit Autismus soll in der Studie aufgegriffen werden. Diese Problematik wird zu lösen versucht, indem zusätzlich zu der Erforschung von kognitiven Stärken und Schwächen auch der intuitive Vorzug eines bestimmten Verarbeitungsstils untersucht wird. Eine schwache zentrale Kohärenz könnte nach diesem Konzept auch dann vorliegen, wenn zwar normale globale Fähigkeiten bestehen, jedoch ein lokaler Verarbeitungsstil spontan präferiert wird Aktuelle Forschungsprojekte 344 VHN 4/ 2005 (Müller/ Nussbeck, eingereicht). Durch die Annahme eines intuitiven lokalen Vorzugs bei Menschen mit Autismus ließen sich Untersuchungsergebnisse von intakten globalen Fähigkeiten möglicherweise in eine weiter entwickelte Theorie der schwachen zentralen Kohärenz integrieren. Der Schwerpunkt der Studie bezieht sich auf die Rolle von perzeptuellen und konzeptuellen Merkmalen in der Informationsverarbeitung von autistischen Kindern. Bisherige Forschungsarbeiten haben meist das Verhältnis zwischen Detailinformation und Kontextinformation betrachtet. Möglicherweise liegt neben der Detailorientierung zusätzlich auch eine Ausrichtung an anderen perzeptuellen Merkmalen wie Farbe und Form vor. Kinder mit Autismus könnten spontan einen Verarbeitungsstil anwenden, der sich eher an wahrnehmungsbasierten und weniger an bedeutungsvollen Merkmalen von Informationen orientiert. Der Bottom-up Verarbeitung (datengeleitet) käme in diesem Fall gegenüber der Top-down Verarbeitung (konzeptgeleitet) eine dominantere Rolle als normalerweise zu. Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgende Arbeitshypothese: Kinder mit Autismus zeigen im Gegensatz zu nicht autistischen Kindern in ihrer Informationsverarbeitung einen Vorzug von perzeptuellen gegenüber konzeptuellen Merkmalen. Aufbau des Versuchsdesigns Als perzeptuelle Eigenschaften von Objekten werden die Merkmale „Detailinformation“, „Gestaltinformation“ und „Farbe“ definiert. Als konzeptuelle Merkmale gelten „Zugehörigkeit verschiedener Objekte zur gleichen Oberkategorie“ und „Funktionszusammenhang zwischen Objekten“. Mit Hilfe dieser Merkmale wird ein Versuchsdesign entwickelt, in welchem sich die Probanden zwischen unterschiedlichen Lösungsstrategien entscheiden müssen. Beispielhaft kann folgende Aufgabe genannt werden: Den Probanden wird ein Blatt laminiertes Papier, auf dem drei Objekte dargestellt sind, präsentiert. Dem unteren Bild eines Pantoffels soll eines der beiden oberen Bilder zugeordnet werden, wobei das nicht passende Bild wegzuklappen ist. Zur Auswahl stehen ein Stöckelschuh (konzeptuell passend, perzeptuell unpassend) und ein Auto, welches dem Pantoffel sehr ähnlich sieht (perzeptuell passend, konzeptuell unpassend). Hypothese ist, dass die autistischen Kinder im Gegensatz zu den nicht autistischen Kindern das Auto wählen. In einer Kontrollaufgabe wird sichergestellt, dass alle Probanden sowohl den konzeptuellen Bezug zwischen Pantoffel und Stöckelschuh als auch den perzeptuellen Bezug zwischen Pantoffel und Auto herstellen können. Nach dem dargestellten Prinzip werden die oben genannten perzeptuellen und konzeptuellen Merkmale zueinander ins Verhältnis gesetzt (z. B. Detailinformation vs. gleiche Oberkategorie etc.). Untersuchungsablauf und Relevanz der Ergebnisse Derzeit werden Voruntersuchungen mit nicht behinderten Kindern unterschiedlicher Altersstufen durchgeführt. Sie dienen vor allem der Generierung geeigneter Untersuchungsaufgaben und können erst im Vergleich mit einer Gruppe autistischer Kinder bezüglich der Hypothese ausgewertet werden. Zusätzlich geben sie Hinweise darauf, wie sich die Bedeutung perzeptueller und konzeptueller Merkmale in der Informationsverarbeitung im Entwicklungsverlauf von Kindern verändert. An der Hauptuntersuchung sollen autistische und nicht autistische Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis fünfzehn Jahren teilnehmen. Die Ergebnisse der Untersuchung lassen wichtige Informationen über die Grundlagen der autistischen Informationsverarbeitung erwarten. Insbesondere der Fokus auf den intuitiven Vorzug eines Verarbeitungsstils verspricht interessante Hinweise auf die alltägliche Herangehensweise an Informationen. In diesem Aktuelle Forschungsprojekte 345 VHN 4/ 2005 Zusammenhang können die neuen Erkenntnisse einen Beitrag zu einem besseren Verständnis des Verhaltens autistischer Kinder leisten und Anregungen für Bildung und Therapie geben. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können erfragt werden unter christoph. supermueller@gmx.de Zum Selbstkonzept im Lebensbereich Beruf bei Lehrern für Sonderpädagogik - am Beispiel von Lehrern für Sonderpädagogik in Rheinland-Pfalz Roland Stein Universität Würzburg Ausgangslage Die Sonder- und Heilpädagogik befindet sich in einer Phase erheblicher Veränderungen, die auch schulische Handlungsfelder betreffen, beispielsweise in Form der zunehmenden integrierten Förderung behinderter und beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher. In diesem Rahmen wird in den letzten Jahren die Frage, was Lehrer für Sonderpädagogik in den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern an erforderlichen Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben mitbringen sollen, engagiert diskutiert. Allerdings gibt es dazu nur wenig dezidierte Informationen, die direkt aus der Praxis kommen. Lehrpersonen in diesem Bereich sind in verschiedensten Sonder- und Förderschulen tätig, die nach wie vor insbesondere nach Arten von Behinderungen oder Beeinträchtigungen ausgerichtet sind. Zunehmend sind viele Lehrpersonen jedoch nicht mehr nur als Sonderschullehrer tätig, sondern als Lehrer für Sonderpädagogik an Regelschulen, in der integrierten Förderung einzelner Schüler oder von Schülergruppen, in der Beratung von Lehrern an allgemeinen Schulen, in mobilen Diensten usw. Für all diese Lehrpersonen in sonderpädagogisch-schulischen Arbeitsfeldern wird daher im Rahmen dieses Forschungsprojektes der Oberbegriff „Lehrer für Sonderpädagogik“ gewählt. Unter dem Forschungsschwerpunkt des berufsbezogenen Selbstkonzepts lässt sich untersuchen, wie Lehrer für Sonderpädagogik ihre Arbeit sehen, was ihnen wichtig ist und was sie als Erwartungen erleben. Das Selbstkonzept gilt als eine zentrale Steuervariable für eigenes Handeln. Von professionell Tätigen wird erwartet, dass sie ihr berufliches Handeln bewusst, reflektiert und gezielt ausrichten. Insofern ist davon auszugehen, dass das berufsbezogene Selbstkonzept einen erheblichen Einfluß auf das Handeln im Aufgabenbereich hat. Dabei sind insbesondere drei Aspekte eines „Selbstkonzepts im Lebensbereich Beruf“ von Bedeutung: • Das „Aktual-Selbstkonzept“: Wie erleben sich professionell Tätige im Beruf selbst? Welche Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben glauben sie zu realisieren? • Das „Ideal-Selbstkonzept“: Welche Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben werden im Hinblick auf das eigene Berufsfeld persönlich für besonders wichtig gehalten? • Das „Sollte-Selbstkonzept“: Welche Erwartungen, die von außen an die eigene Rolle herangetragen werden, nehmen professionell Tätige wahr? Welche Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben erfahren sie als besondere Erwartungen an sich selbst in der Rolle? Forschungsziel und Fragestellungen Zum berufsbezogenen Selbstkonzept von Lehrpersonen allgemein gibt es bisher sehr wenige empirische Arbeiten. Dies gilt umso mehr für den engeren Bereich der Lehrer in sonderpädagogischen Handlungsfeldern. Das hier vorgestellte Forschungsprojekt hat sich zum Ziel gesetzt, das berufsbezogene Selbstkonzept dieser speziellen Lehrergruppe zu untersuchen. Dabei ist neben dem Blick auf die Gesamtgruppe der Lehrer für Sonderpädagogik auch der Blick auf die einzelnen sonderpädagogischen Ar- Aktuelle Forschungsprojekte 346 VHN 4/ 2005 beitsbereiche mit ihrer jeweils spezifischen Ausrichtung interessant. Zugrunde liegen insbesondere folgende Hauptfragestellungen: • Lassen sich klare inhaltliche Dimensionen bestimmen, mit denen man das berufsbezogene Selbstkonzept dieser Gruppe beschreiben kann - im Hinblick auf Aktual-, Ideal- und Sollte-Selbstkonzept? • Sind besondere inhaltliche Profile einzelner sonderpädagogischer Arbeitsbereiche erkennbar? • Im Hinblick auf welche Aspekte ihres beruflichen Selbstverständnisses sehen Lehrer für Sonderpädagogik (allgemein sowie bestimmter Arbeitsbereiche) eine Abgrenzung zu Regelschullehrern? • Lassen sich besondere Spannungsfelder der beruflichen Tätigkeit für die Gesamtgruppe sowie für bestimmte Teilgruppen herausarbeiten? • Bestehen Zusammenhänge zwischen bestimmten Dimensionen des berufsbezogenen Selbstkonzepts und den Begleitvariablen „Berufs-Unzufriedenheit“ sowie „Burnout“ (also beruflichem „Ausbrennen“)? Aus der Untersuchung dieser Fragestellungen sollten sich Rückschlüsse auf Notwendigkeiten für die Ausbildung von Lehrern für Sonderpädagogik in beiden Ausbildungsphasen ergeben, jedoch auch Konsequenzen für die Beratung, Supervision und Schulentwicklung in der Praxis sowie für die Berufsberatung. Methodisches Vorgehen Für die empirisch gestützte Beantwortung dieser Fragen musste ein eigenes Forschungsinstrument entwickelt werden, da kein adäquates Instrument verfügbar war. Obwohl das Selbstkonzept eine sehr individualisierte Variable darstellt, sollte eine größere Gruppe von Lehrpersonen befragt werden, weil nur so allgemeine Tendenzen im Arbeitsfeld erkennbar werden konnten. Daher erfolgte die Entscheidung für einen Fragebogen mit geschlossenen Antwortmöglichkeiten. Dieser wurde systematisch auf Basis der Selbstkonzept- und Rollentheorie entwickelt. Dabei flossen inhaltliche Aspekte der Diskussion um die Rolle von Lehrern allgemein und Lehrern für Sonderpädagogik im Speziellen sowie neuere Entwicklungstendenzen der Sonderpädagogik in die Fragebogenkonstruktion mit ein. Einschlägige vorliegende Untersuchungsinstrumente sowie empirisch gewonnene Erkenntnisse aus diesem Bereich und inhaltlich verwandten Feldern wurden gesichtet und für den neu zu konstruierenden Fragebogen ausgewertet. Zusätzlich wurde eine qualitative Vorstudie durchgeführt, um daraus weitere Fragebogen-Items zu möglicherweise in der Diskussion in der Literatur fehlenden Aspekten zu gewinnen. Erstes Ergebnis dieser Arbeiten war der „Fragebogen zur Erfassung des beruflichen Selbstkonzepts von Lehrern für Sonderpädagogik“ (FEBS-LS). Mit diesem recht umfangreichen Messinstrument wurde eine erste Hauptuntersuchung durchgeführt, an der 345 Lehrer für Sonderpädagogik im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz teilnahmen. Diese Lehrerinnen und Lehrer arbeiten an knapp 70 Schulen in acht Arbeitsfeldern. Hier finden sich Schüler mit unterschiedlichsten Behinderungen und Beeinträchtigungen: Menschen mit Lernbeeinträchtigungen, Geistigen Behinderungen, Körperbehinderungen, sprachlichen Beeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten, Sehbehinderungen und Blindheit, Hörbehinderungen und Taubheit, schwersten und mehrfachen Behinderungen. Eine größere Gruppe der befragten Lehrerinnen und Lehrer arbeitet auch in der integrierten Förderung in Regelschulen. Über Faktorenanalysen wurden anschließend zunächst zentrale Dimensionen des beruflichen Selbstverständnisses herausgearbeitet. Dabei ließ sich eine Fülle stabiler Dimensionen für die drei Bereiche des Aktual-, Ideal- und Sollte-Selbstkonzepts ermitteln. Auf Basis dieser Dimensionen konnten verschiedene klare Profile des beruflichen Selbstverständnisses in den einzelnen sonderpädago- Aktuelle Forschungsprojekte 347 VHN 4/ 2005 gischen Arbeitsbereichen bestimmt werden. Erkennbar wurden auch spezifische Abgrenzungen zur Arbeit von Regelschullehrern sowie besondere Spannungsfelder. Schließlich konnte gezeigt werden, dass viele der ermittelten Dimensionen deutliche positive oder negative Zusammenhänge zu Berufsunzufriedenheit und Burnout aufweisen. Ausgewählte Ergebnisse Aus den vorliegenden Ergebnissen resultiert eine Fülle von Erkenntnissen und Empfehlungen für die sonderpädagogische Praxis allgemein sowie in den einzelnen Arbeitsfeldern. Es ergeben sich aber auch verschiedene Konsequenzen für die Schulorganisation, für Beratung von Lehrern und Lehrer-Supervision in diesem Arbeitsbereich, für die Aus- und Weiterbildung sowie für die Berufsberatung. Besondere Erkenntnisse ergeben sich im Hinblick auf folgende Aspekte: • Realisierte Praxis im Selbsterleben: Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben, die in der schulischen Sonderpädagogik sowie in einzelnen Arbeitsbereichen im Mittelpunkt stehen; • spezifische Wünsche und Bedürfnisse: Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben, welche die befragten Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Arbeitsbereich für besonders wichtig halten; • erlebte Rollenanforderungen: Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben, die im jeweiligen Arbeitsbereich als allgemein wichtige Außenerwartungen erfahren werden; • Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben, die besonders günstig oder ungünstig mit Zufriedenheit und „Ausbrennen“ im Beruf zusammenhängen; • besondere Erschwernisse und Belastungen im Beruf. Die Forschungsarbeit zum theoretischen Konzept, der Fragebogenkonstruktion sowie der Erhebung in Rheinland-Pfalz einschließlich Auswertung und Diskussion wurde von der Universität Koblenz-Landau im Jahr 2003 als Habilitationsschrift angenommen. Es ist nun geplant, auf der Basis der vorliegenden Ergebnisse mit einem optimierten Messinstrument weitere Erhebungen folgen zu lassen: Dabei wird ein Ländervergleich möglich sein, die Erhebung größerer Teilgruppen in einzelnen sonderpädagogischen Arbeitsfeldern sowie auch die vertiefende Untersuchung spezifischer Fragestellungen (etwa zu Burnout oder Berufszufriedenheit, ihren Korrelaten im Bereich der Eigenschaften, Kompetenzen und Aufgaben sowie ihren Auswirkungen in bestimmten Arbeitsfeldern). Weitere Informationen und Literaturhinweise können eingeholt werden unter roland. stein@mail.uni-wuerzburg.de oder http: / / www. uni-wuerzburg.de/ vpaed Aktuelle Forschungsprojekte 348 VHN 4/ 2005
