Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2005
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Schulische Integration hörgeschädigter Schüler
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2005
Annette Leonhardt
Die Beschulung von hörgeschädigten Schülern in einer allgemeinen Schule hat sich heute neben einer Beschulung in einer Schule für Hörgeschädigte als gleichwertig etabliert. Dabei ist besonders die Einzelintegration zu beobachten, bei der ein einzelner hörgeschädigter Schüler in einer Klasse der allgemeinen Schule unterrichtet wird. Lange Zeit standen sich Befürworter und Gegner einer integrativen Beschulung von hörgeschädigten Schülern kompromisslos gegenüber, bevor man zu einer differenzierten Diskussion überging. – Im Beitrag wird über Teilergebnisse aus einem Forschungsprojekt berichtet, das die einzelnen „Akteure“ (Begleitlehrer, Lehrer der allgemeinen Schule, hörgeschädigte Schüler, Mitschüler) an der allgemeinen Schule, aber auch nach einem möglichen Wechsel zur Schule für Hörgeschädigte, mittels qualitativer Leitfadeninterviews befragt hat. Die hier vorgestellten Teilergebnisse beschränken sich auf die Aussagen der Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes und der allgemeinen Schule bezüglich der hörgeschädigten Schüler, der Mitschüler, der eigenen Situation (als Lehrer) und des Umfeldes unter den Bedingungen der Einzelintegration.
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28 1 Einzelintegration hörgeschädigter Schüler Die Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik stieg in die aktuelle Integrationsdiskussion erst relativ spät ein. Nach den Erfahrungen der Verallgemeinerungsbewegung - sie setzte am Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts ein und hielt etwa bis Ende der siebziger Jahre des gleichen Jahrhunderts an - gab es keine ernsthaften Bemühungen mehr seitens der Taubstummen- und später Gehörlosensowie Schwerhörigenpädagogik, gehörlose und schwerhörige Schüler integrativ zu beschulen. Nachdem mehr Fachbeitrag Schulische Integration hörgeschädigter Schüler Die Sicht der Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes und der Lehrer der allgemeinen Schule Annette Leonhardt Universität München Zusammenfassung: Die Beschulung von hörgeschädigten Schülern in einer allgemeinen Schule hat sich heute neben einer Beschulung in einer Schule für Hörgeschädigte als gleichwertig etabliert. Dabei ist besonders die Einzelintegration zu beobachten, bei der ein einzelner hörgeschädigter Schüler in einer Klasse der allgemeinen Schule unterrichtet wird. Lange Zeit standen sich Befürworter und Gegner einer integrativen Beschulung von hörgeschädigten Schülern kompromisslos gegenüber, bevor man zu einer differenzierten Diskussion überging. - Im Beitrag wird über Teilergebnisse aus einem Forschungsprojekt berichtet, das die einzelnen „Akteure“ (Begleitlehrer, Lehrer der allgemeinen Schule, hörgeschädigte Schüler, Mitschüler) an der allgemeinen Schule, aber auch nach einem möglichen Wechsel zur Schule für Hörgeschädigte, mittels qualitativer Leitfadeninterviews befragt hat. Die hier vorgestellten Teilergebnisse beschränken sich auf die Aussagen der Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes und der allgemeinen Schule bezüglich der hörgeschädigten Schüler, der Mitschüler, der eigenen Situation (als Lehrer) und des Umfeldes unter den Bedingungen der Einzelintegration. Schlüsselbegriffe: Schulische Integration hörgeschädigter Schüler, mobiler sonderpädagogischer Dienst, hörgeschädigte Schüler, Mitschüler School Integration of Pupils with Hearing Impairments as Seen by Mobile Special Teachers and Teachers of Ordinary Schools Summary: Nowadays the schooling of pupils with hearing impairments in ordinary classes is an equal alternative to the schooling in special schools and classes. It is mostly a matter of individual integration, i. e. one particular pupil with a hearing impairment is integrated within a regular class. For a long time, the integrated schooling of this group of pupils has been very controversial, but lately opponents and advocates are ready for a differentiated discussion. - This article presents a number of partial outcomes of a research project. It shows the results of the qualitative interviews with the „actors“ (special teachers, regular teachers, hearing impaired pupils, class-mates) at the ordinary school, but also after a change from an ordinary school to a special institution for children with hearing impairments. These partial outcomes represent the answers of the two groups of teachers with regard to the pupils with hearing impairments, the classmates, their own situation (as a teacher) and the environment under the circumstances of individual integration. Keywords: School integration, pupils with hearing impairments, mobile special service, class-mates VHN, 74. Jg., S. 28 - 36 (2005) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel und mehr Taubstummenanstalten errichtet worden waren, rückte man vom Gedanken der schulischen Integration wieder ab. Man setzte auf ein flächendeckendes Angebot der speziellen Einrichtungen. Auch nach Einsetzen der aktuellen Integrationsdiskussion in den anderen Fächern (besonders in der Geistigbehinderten- und Lernbehindertenpädagogik) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Themen wie „Gehörlose und schwerhörige Schüler in der allgemeinen Schule“ oder „Das gemeinsame Lernen von hörenden und hörgeschädigten Schülern“ im Rahmen der Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik kaum - und wenn, dann sehr kontrovers - diskutiert. Da standen auf der einen Seite konsequente Befürworter (z. B. Löwe 1974, 1985, 1987, 1989, 1992) und auf der anderen Seite konsequente Gegner (z. B. Tiefenbacher 1974). Erst schrittweise kam es zu einer differenzierten Diskussion, wie sie z. B. Claußen (1989) in seinem Artikel zur schulischen Integration schwerhöriger Schüler führte. Den Publikationen dieser Zeit ist gemeinsam, dass sie nicht auf empirischen Untersuchungen beruhten, sondern fachliche Diskussionen und Auseinandersetzungen aus persönlicher Sicht (im Rahmen der Theorie des Faches) oder nach praktischen Erfahrungen im Schulalltag darstellten. Mit der Dissertation von Müller (1993) lag eine erste umfassende, auf empirischen und statistischen Daten beruhende Arbeit vor. Die Auseinandersetzungen um Fragen der schulischen Integration basierten auf den Möglichkeiten und Bedingungen der Zeit, in der die Beiträge verfasst wurden. So fehlte es beispielsweise zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Tiefenbacher an begleitenden Diensten für die integrativ beschulten hörgeschädigten Schüler, die technischen Hörhilfen boten nicht heutige Leistungsparameter, und die Früherziehung war noch wenig ausdifferenziert und setzte sehr viel später als heute ein. Seither hat sich Umfassendes getan - nicht zuletzt deshalb, weil inzwischen auch auf bildungspolitischer Ebene angestrebt wird, möglichst viele behinderte (und damit auch schwerhörige und gehörlose) Kinder und Jugendliche in allgemeinen Schulen zu fördern und dort, falls erforderlich, zusätzliche sonderpädagogische Hilfen und sonstige angemessene Betreuung zur Verfügung zu stellen. Die gemeinsame Unterrichtung von hörgeschädigten und hörenden Kindern und Jugendlichen verläuft in den einzelnen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland unterschiedlich: Sie ist z. B. abhängig von • der gesetzlichen Verankerung • den schülerbezogenen Zugangskriterien • der finanziellen Ausstattung • den beteiligten Schulstufen und Schulformen • der quantitativen Verbreitung und • dem Einfluss der Erziehungsberechtigten (vgl. Bundesministerium 1998). Vor allem landesspezifische und regionale Bedingungen bestimmen, was für Kinder mit besonderem pädagogischem Förderbedarf ausschließlich oder alternativ möglich ist: • der Besuch einer traditionellen Schule für Hörgeschädigte • der Besuch einer Schule für Hörgeschädigte mit engen Kooperationsbeziehungen zu einer allgemeinen Schule • die Unterrichtung in einer ausgelagerten Klasse von hörgeschädigten Schülern im Gebäude der allgemeinen Schule • der Besuch einer wohnbezirksübergreifenden Integrationsschule, die Schüler mit unterschiedlichsten Behinderungen aufnimmt oder • der Schulbesuch in der wohnortnahen Schule, zumeist in Form von Einzelintegration. Letzteres ist die in Deutschland bei hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen am häufigsten zu beobachtende Integrationsform. Sie setzt sich zunehmend als gleichberechtigte, alternative Form zur Beschulung in Schulen für Hörgeschädigte durch. Vorzugsweise wird dieser Integration hörgeschädigter Schüler 29 VHN 1/ 2005 Weg gewählt für schwerhörige Kinder und Jugendliche sowie Kinder, die frühzeitig mit einem Cochlea-Implantat versorgt wurden. Vereinzelt werden jedoch auch gehörlose Schüler in dieser Integrationsform beschult. Einzelintegration bedeutet, dass im Regelfall ein einzelnes hörgeschädigtes Kind in einer Klasse der allgemeinen Schule unterrichtet wird. Über Erfahrungen der Lehrer bei der Unterrichtung, Förderung und Begleitung dieser Schüler soll zunächst aus Sicht der Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes und dann aus der Sicht der Lehrer der allgemeinen Schule (also der Lehrer, die die Kinder täglich unterrichten) berichtet werden. Diese Aussagen sind einem umfassenderen Forschungsprojekt des Lehrstuhls für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München zur schulischen Integration hörgeschädigter Schüler entnommen. Die Untersuchung begann 1999 und ist noch nicht abgeschlossen. In diesem Projekt werden neben den Erfahrungen der Lehrer auch Meinungen der hörgeschädigten Schüler und der hörenden Mitschüler erhoben. Ebenso werden junge hörgeschädigte Erwachsene befragt, die ihre Schullaufbahn als „integrierte Schüler“ abgeschlossen haben und diesen Weg nun aus rückwärtiger Perspektive, mit einem gewissen zeitlichen Abstand, reflektieren können. Ein weiterer Untersuchungsgegenstand bilden hörgeschädigte Schüler, die - aus welchen Gründen auch immer - von der allgemeinen Schule in die Schule für Hörgeschädigte gewechselt haben. Im Rahmen dieser Teilstudie werden die hörgeschädigten „Schulwechsler“, deren Eltern sowie die Lehrer der Schulen für Hörgeschädigte (die die Kinder und Jugendlichen also in ihre Klasse aufnahmen) und die Lehrer der allgemeinen Schule (die die Schüler zuvor unterrichteten) befragt. Im Folgenden sollen aus den Ergebnissen des Projektes einige Kernaussagen vorgestellt werden, und zwar Aussagen der Lehrer in unterschiedlichen Aufgaben- und Tätigkeitsfeldern. 2 Ausgewählte Ergebnisse der Befragung der Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes 2.1 Hintergrundinformationen zur Untersuchung Aus fünf der sechs Regierungsbezirke Bayerns konnte mit jeweils zwei, also mit insgesamt zehn Lehrern ein qualitatives Leitfadeninterview geführt werden. Es handelte sich um Lehrer, die seit mehreren Jahren im mobilen sonderpädagogischen Dienst tätig waren. Sie sehen die integrative Situation der hörgeschädigten Schüler „von außen“ und sind doch zugleich die „Interessenvertreter“ dieser Kinder. Zu ihren Aufgaben gehört es, einen engen Kontakt zu den Eltern der hörgeschädigten Schüler zu halten. Gleichzeitig vermitteln sie den Kollegen der allgemeinen Schule Informationen über Maßnahmen, die das integrativ-pädagogische Handeln unterstützen können. Durch ihre Berufserfahrung als Sonderschullehrer an einer Schule für Hörgeschädigte kennen sie darüber hinaus Möglichkeiten und Chancen dieser Einrichtungen. 2.2 Aussagen zu den hörgeschädigten Schülern Nach Aussagen der Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes beschreiten primär intensiv und erfolgreich in der Frühförderung betreute Kinder diesen Weg der Beschulung. Damit wird in der Frühförderung der Ausgangspunkt für eine spätere integrative Beschulung gesehen. Von zentraler Bedeutung für den Erfolg im schulischen Alltag ist laut den Lehrern die Akzeptanz der technischen Hörhilfen (Hörgeräte und Mikroportanlage). Auch müssen die integrierten Schüler bereit sein, trotz erhöhter Konzentration im Unterricht auch am Nachmittag mehr Zeit für die Hausaufgaben sowie die Vor- und Nachbereitung des Stoffes zu investieren als ihre hörenden Mitschüler. Aus den Aussagen der Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes lassen sich drei Annette Leonhardt 30 VHN 1/ 2005 kritische Zeitabschnitte (Phasen) während der Schullaufbahn ableiten: der Übergang von der 2. zur 3. Klasse, die Pubertät und der Übergang von der Schule zur Berufsschule. Während dieser Phasen kommt es gehäuft zu Problemen und teilweise auch zu Abbrüchen der schulischen Integration. Gute Chancen für ein Gelingen der schulischen Integration sehen die befragten Lehrkräfte beispielsweise dann, wenn • die Schüler über ausreichende kommunikative Möglichkeiten verfügen, • die hörgeschädigten Schüler Freunde mit gleichen Interessen unter den Mitschülern finden können und/ oder wenn • die Schüler schon ältere hörgeschädigte Geschwister haben und so von den Erfahrungen des Geschwisterkindes, der Eltern und der Schule profitieren können. Für eine gelingende Integration ist es jedoch am wichtigsten, so betonen fast alle Lehrer, dass das hörgeschädigte Kind sich in seiner Klasse wohl fühlt. 2.3 Aussagen über die hörenden Mitschüler Die meisten Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes schätzen ein, dass Grundschüler zwanglos mit dem hörgeschädigten Mitschüler umgehen, dessen „Anderssein“ akzeptieren und gerne hilfsbereit sind. Sie vergessen aber auch schnell, Rücksicht zu nehmen, was auf ihr Alter zurückzuführen ist. Ebenso kommen Spott und Ausgrenzung vor. In der Pubertät lässt das Interesse am hörgeschädigten Mitschüler nach. Die hörenden Klassenkameraden empfinden es als anstrengend, ihre Aussagen mehrfach zu wiederholen und in Gesprächen Rücksicht zu nehmen. „Schnelle Kommunikation“ zwischen dem hörenden und dem hörgeschädigten Banknachbarn, von der der Lehrer nichts mitbekommen soll, ist kaum möglich. Die Bereitschaft, dem hörgeschädigten Mitschüler „etwas lang und breit zu erklären“, nimmt ab. 2.4 Aussagen über die Lehrer 2.4.1 Zur eigenen Situation (der Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes) Eine zentrale Stellung nimmt die Information und Beratung von Kollegen der allgemeinen Schule ein. Auf diese Aufgaben fühlen sich die Sonderschullehrer jedoch nicht oder zu wenig vorbereitet, da sie in erster Linie für das Unterrichten von (hörgeschädigten) Kindern oder Jugendlichen (und nicht für eine beratende Tätigkeit) ausgebildet wurden. Die meisten Befragten wünschen sich daher spezielle Aus- und Weiterbildungsangebote. Besonders gefordert sei die soziale Kompetenz, auf andere zugehen zu können und sie für die schulische Integration zu begeistern. Kritisiert wurde wiederholt der Einsatz von jungen, unerfahrenen Lehrern im mobilen Dienst - beispielhaft soll dafür folgende Aussage stehen: „Dann seh’ ich das Problem, dass zu viele junge Leute das machen sollen, wobei jetzt nicht das Junge im Vordergrund steht, sondern mit zu wenig Dienstzeit. Also man braucht, um das zu machen, dienstpraktische Erfahrungen. Wie will ich eine 25 Jahre im Dienst seiende Lehrkraft beraten, wenn ich selbst nur ein Jahr… Unterricht gehalten habe …“. 2.4.2 Aussagen über die Lehrer der allgemeinen Schule Die Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes schätzen ein, dass die Lehrer der allgemeinen Schule wenig über die Auswirkungen einer Hörschädigung, den Aufbau und die Struktur des Sonderschulwesens und die neuen Möglichkeiten der Integration wissen. Auch müssen die Lehrer der allgemeinen Schule immer wieder überzeugt werden, technische Hilfen zu nutzen. Sie stehen der Benutzung der Mikroportanlage oftmals skeptisch gegenüber, was sich wiederum ungünstig auf die Motivation der hörgeschädigten Schüler auswirken kann, diese zu nutzen. Integration hörgeschädigter Schüler 31 VHN 1/ 2005 Es zeigt sich aber auch durchwegs, dass die Lehrer der allgemeinen Schule durch den „normalen Schulalltag“ sehr belastet sind (Klassenstärken, Wünsche der Eltern, Zusammensetzung der Klasse, Kinder aus nichtdeutschen Familien mit eingeschränkten Deutschkenntnissen, zunehmende Zahl der verhaltensauffälligen Kinder u. a.), so dass es schwierig ist, weitere Bitten/ Forderungen an sie heranzutragen. In der Sekundarstufe neigen die Lehrer der allgemeinen Schule zu mehr Distanz und weniger Offenheit den Schülern gegenüber. Dadurch fällt es den hörgeschädigten Schülern oftmals schwerer, auf ihre Bedürfnisse hinzuweisen, und es treten leichter Missverständnisse auf. 2.5 Umfeld Die Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes erleben es als belastend, dass Ansprüche von verschiedenen Seiten an sie herangetragen werden, so z. B. von der eigenen Stammschule, der sie angehören, von den Eltern sowie den Lehrern der allgemeinen Schulen. Hinzu kommen die oft weiten Strecken, die sie nahezu täglich zurücklegen müssen, um die einzelnen Schulen zu erreichen. Während ihrer Ausbildung, die oftmals Jahre oder sogar Jahrzehnte zurückliegt, hatten sie nur wenig oder nichts über die Aufgaben des „mobilen Lehrers“ erfahren. 3 Ausgewählte Ergebnisse der Befragung der Lehrer der allgemeinen Schule 3.1 Hintergrundinformationen zur Untersuchung Es wurden mit 18 Klassenlehrern der 3. bis 6. Schuljahrgangsstufe aus Bayern qualitative Leitfadeninterviews geführt. Sie waren an allgemeinen Grund-, Haupt- und Realschulen oder einem Gymnasium tätig. Diese Lehrer hatten mindestens einen hörgeschädigten Schüler in ihrer Klasse. Vier Schüler waren hoch-, 13 mittel- und einer leichtgradig schwerhörig. Bei drei der 18 Schüler wurde der Hörschaden erst in der Grundschule erkannt. 17 Schüler waren beiderseits mit Hörgeräten versorgt, von diesen benutzten sieben zusätzlich eine Mikroportanlage. Ein Schüler trug keine Hörgeräte. Es handelte sich um einen leichtgradig schwerhörigen Jungen. Von den interviewten Lehrern gab die Hälfte an, weitere Schüler mit Behinderungen (z. B. Lern-, Körper-, Sprach- und Sehbehinderung) sowie verhaltensauffällige Schüler in ihrer Klasse zu unterrichten. 3.2 Aussagen über die hörgeschädigten Schüler Die Lehrer der allgemeinen Schule schätzen das emotionale Wohlbefinden der hörgeschädigten Schüler als „im Wesentlichen positiv“ ein. Sie sehen die soziale Eingebundenheit mehrheitlich im Mittelfeld der Klasse, wobei sie auch deutliche Abweichungen wie „Star der Klasse“ oder „richtiger Außenseiter“ formulieren. Die meisten Lehrkräfte gehen jedoch davon aus, dass das Verhalten des hörgeschädigten Kindes in der Klasse nicht wesentlich von seiner Hörschädigung beeinflusst wird. Trotzdem werden bei genauerem Nachfragen Schwierigkeiten genannt. Diese beziehen sich zunächst auf das Selbstbild des hörgeschädigten Schülers und im Zusammenhang damit auf den offenen Umgang mit der Hörschädigung in der Klasse. Zum einen werden die individuellen Hörgeräte möglichst so getragen, dass sie nicht auffallen (Verdecken mit dem Haar), oder Mikroportanlagen werden vom hörgeschädigten Schüler selbst abgelehnt, weil dies sie zusätzlich „herausstellt“. So sagte ein Lehrer: „… da sagt er, es würde ihn mehr stören … er empfindet es als lästig … er mag es nicht…“, oder ein anderer Lehrer: „…ich hatte damals so den Eindruck, dass ihm das unangenehm ist…“. Auch bei der Zuweisung eines „hörgeschädigtengerechten“ Sitzplatzes werden zu Ungunsten guter Abseh- und Hörbedingungen Kompromisse geschlossen. „… das hat ihn ge- Annette Leonhardt 32 VHN 1/ 2005 stört, dass er da sitzen sollte … und jetzt sitzt er halt wieder so wie vorher…“. Als Grund für diese Entscheidung wird immer wieder das bessere Wohlbefinden des hörgeschädigten Schülers genannt. Die verschlechterte Abseh- und Hörsituation wird dabei in Kauf genommen, da viele Lehrer meinen, so zur emotionalen Stabilität des hörgeschädigten Schülers beizutragen. „Er will halt auch nicht als anders auffallen … er will halt ganz gleich sein … und das verstehe ich auch …“. Bezogen auf die schulischen Leistungen gelten die hörgeschädigten Schüler als „im Durchschnitt liegend“ und als tendenziell nicht negativ auffällig. Auf die Frage, wie sich nach Ansicht des jeweiligen Lehrers der hörgeschädigte Schüler in seiner Klasse fühlt, antwortete der Großteil positiv. Nur einige wenige Lehrkräfte haben den Eindruck, dass sich der hörgeschädigte Schüler in seiner Klasse nicht vollkommen angenommen fühlt. Wiederholt wurde seitens der Lehrer auf Probleme beim Sprachverstehen hingewiesen. So häuften sich Aussagen wie „… muss sich wahnsinnig konzentrieren“, „… muss viel kombinieren“ oder „… versteht weniger als man denkt“. 3.3 Aussagen über die hörenden Mitschüler Der Umgang zwischen den hörenden und den hörgeschädigten Schülern wird von den Lehrern der allgemeinen Schule als unauffällig eingeschätzt. Es kommt vor, dass die hörenden Schüler den hörgeschädigten Mitschüler unterstützen und im Sinne eines Tutors wirken. Über viele hörgeschädigte Schüler wurde geäußert, dass sie „nur“ einen besten Freund oder eine beste Freundin haben: „… er hat eben Kontakt vor allem zu dem einen aus der Klasse … und wohl eher losen Kontakt zu den anderen …“ Eine Lehrerin beschreibt die Situation wie folgt: „Wenn man sich das [die Klassengemeinschaft] als Kreis vorstellt, dann steht er am Rand vom Kreis und nicht in der Mitte.“ Die Kommunikation zwischen hörenden und hörgeschädigten Schülern wird als „funktionierend“ eingeschätzt. Die hörenden Schüler verstehen die hörgeschädigten Schüler trotz teilweise vorhandener sprachlicher Auffälligkeiten gut. Verstehensprobleme gibt es eher auf Seiten der hörgeschädigten Schüler. Die Lehrer äußerten aber auch, dass sie die Klasse immer wieder zu deutlichem Sprechen auffordern müssen. Schwierigkeiten treten vor allem beim Unterrichtsgespräch auf. Einige Lehrer machen deutlich, dass das Verstehen für den hörgeschädigten Schüler durchaus besser möglich wäre, wenn die Klassengröße reduziert würde. Das wird bestätigt von Lehrern, die kleine Klassen unterrichten. Sie geben weit häufiger an, dass die Kommunikation in der Klasse „funktioniere“. Allgemein wird eingeschätzt, dass die Akzeptanz einer Hörschädigung im Vergleich zu anderen Behinderungen oder Auffälligkeiten höher ist. 3.4 Zur eigenen Situation (der Lehrer der allgemeinen Schule) Etwa die Hälfte der befragten Lehrer wusste zu Schuljahresbeginn nicht, dass sie ein hörgeschädigtes Kind in der Klasse haben würden. Wie wenig der Informationsfluss gesichert ist, wird beispielhaft durch folgende Aussage belegt: „Das ist mir dann erst so nach zwei, drei Wochen aufgefallen, dass der ein Hörgerät hat.“ Die Lehrer der allgemeinen Schule geben an, die Information über das Phänomen „Hörschädigung“ von den Kollegen des mobilen sonderpädagogischen Dienstes erhalten zu haben. Im Allgemeinen wird dies von ihnen als ausreichend angesehen, obwohl auch die Lehrer der allgemeinen Schule wiederholt Weiterbildungsmöglichkeiten anmahnen. Sie sind der Meinung, dass sie durch die Anwesenheit des hörgeschädigten Schülers keinen speziellen Mehraufwand betreiben müssen. So kam es wiederholt zu Aussagen wie: „Nein, kann man nicht sagen, es ist anders, aber nichts Integration hörgeschädigter Schüler 33 VHN 1/ 2005 Annette Leonhardt 34 VHN 1/ 2005 Besonderes oder mehr.“ Dennoch erkennen sie die Notwendigkeit von methodischen Veränderungen im Unterricht. Hervorgehoben wird „verstärktes Visualisieren“ oder „…ich kann weniger spontan sein“. Notwendige Veränderungen werden vor allem bei den äußeren Gegebenheiten gesehen. Genannt werden ein besonderer Sitzplatz für den hörgeschädigten Schüler, eine veränderte Sitzordnung der Klasse und räumliche Veränderungen (z. B. Reduzierung von Störlärm durch Verlegen eines Teppichbodens). 3.5 Umfeld Die Lehrer der allgemeinen Schule haben laut ihren Aussagen im Durchschnitt einbis zweimal pro Jahr Kontakt zum Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes. Zusätzliche Fortbildungsangebote werden als äußerst positiv und wünschenswert angesehen. Erstaunlich ist, dass es in den meisten Lehrerkollegien offensichtlich keinen (oder höchst selten) Austausch über das Thema „Hörschädigung“ gibt. Dadurch kommt der hörgeschädigte Schüler (und auch die Lehrer) immer wieder in Situationen, die für beide Seiten „vermeidbar“ gewesen wären, so z. B. bei Vertretungsstunden oder Lehrerwechsel. Der Kontakt zu den Eltern der hörgeschädigten Kinder wird als gleichwertig zu dem Kontakt zu Eltern der anderen Kinder erlebt. Zusammenkünfte mit den Eltern der hörgeschädigten Kinder finden tendenziell nicht häufiger statt. Seitens des Lehrers des mobilen Seitens der Lehrer der allgemeinen Schule sonderpädagogischen Dienstes Aussagen über die hörgeschädigten Schüler drei kritische Phasen: 2./ 3. Klasse; Pubertät; soziales Eingebundensein „im Mittelfeld“; Übergang zur Berufsschule; positiv wirkt: gute unterschätzen möglicherweise Schwierigkeiten kommunikative Möglichkeiten; Freundschaft mit der Schüler; gehen auf Wünsche des Schülers zu Mitschülern; Erfahrungen durch ältere Ungunsten einer besseren Teilhabe am Unterricht hörgeschädigte Geschwister ein; „weniger auffallen“ vs. „besseres Sprachverstehen“ (Mikroportanlage); schulische Leistungen durchschnittlich Aussagen über die hörenden Mitschüler Veränderungen von der Grundschulzur Akzeptanz vom hörgeschädigten Schüler selbst Sekundarstufe abhängig eigene Situation Hauptaufgabe besteht in Beratung; hohe wird eher unproblematisch gesehen (kein Mehr- Anforderungen an soziale Kompetenz aufwand, aber methodische Veränderungen) Umfeld Erwartungsdruck durch Stammschule, Eltern und wenig Unterstützung durch Lehrerkollegium; Lehrer der allgemeinen Schule; Einarbeitung Informationen über Hörschäden und Ausnotwendig wirkungen kommen vom mobilen Dienst; guten Kontakt zu Eltern hörgeschädigter Kinder Abb. 1: Zusammenfassung der Kernaussagen 4 Abschließende Bemerkungen In den Ausführungen wurden ausgewählte Ergebnisse eines größeren Forschungsprojektes vorgestellt. Die Darstellung beschränkte sich ausschließlich auf Aussagen der Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes und der allgemeinen Schule und war nach folgenden Kategorien geordnet: • Aussagen über die hörgeschädigten Schüler • Aussagen über die hörenden Mitschüler • Aussagen über die eigene Situation, wobei bei den Lehrern des mobilen sonderpädagogischen Dienstes zusätzlich die Einschätzung über die Situation der Lehrer der allgemeinen Schule wiedergegeben wurden, und • Aussagen zum Arbeitsumfeld des jeweiligen Lehrers Aufgrund dieser Beschränkung können die Aussagen der Lehrer nur nach deren Tätigkeitsfeldern verglichen werden. Eine Gegenüberstellung mit Aussagen der hörgeschädigten und der hörenden Mitschüler ist (zumindest im Rahmen dieses Beitrages) nicht möglich. Aus den Antworten wird deutlich, dass an die Lehrer des mobilen sonderpädagogischen Dienstes spezielle Erwartungen und Aufgaben herangetragen werden, auf die sie sich nicht ausreichend vorbereitet fühlen. Hier gilt es, entsprechende Fort- und Weiterbildungsangebote zu schaffen, aber auch bereits während des Studiums an den Universitäten entsprechende Lehrinhalte anzubieten. Fort- und Weiterbildungsbedarf besteht auch für die Lehrer der allgemeinen Schule. So hat sich gezeigt, dass diese Lehrpersonen erst nach Besuch einer Fortbildungsveranstaltung die Auswirkungen einer Hörschädigung in der Ganzheit erfassen konnten. Schulische Integration wird von den Lehrern des mobilen sonderpädagogischen Dienstes und den Lehrern der allgemeinen Schule - nicht zuletzt aufgrund der gemachten Erfahrungen - als ein Weg der Beschulung für hörgeschädigte Kinder angesehen. Es hat sich aber auch gezeigt, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen. Dazu gehören beispielsweise eine professionelle Begleitung, eine gute Zusammenarbeit von Lehrern des mobilen sonderpädagogischen Dienstes und der allgemeinen Schule sowie den Eltern, die Sicherung des Sprachverstehens im Unterricht, die Akzeptanz der Hörgeräte und Mikroportanlagen, das Sichern von sozialen Kontakten zu anderen integriert beschulten hörgeschädigten Schülern, um Schüler in ähnlicher Situation kennen zu lernen u. v. a. m. Bundesweite Statistiken belegen, dass eine überraschend große Zahl hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher heute integrativ beschult werden. Eine Vielzahl von Hörgeschädigtenpädagogen sind gegenwärtig bereits teilweise oder vollständig in begleitenden Diensten für integriert beschulte hörgeschädigte Schüler tätig. Es ist davon auszugehen, dass diese Zahl weiter steigen wird. Literatur Biagosch, K. (2004): Schulische Integration Hörgeschädigter. Zur Wahrnehmung der Integrationssituation durch Lehrer, hörende Mitschüler und hörgeschädigte Schüler. Zwischenbericht (unveröffentlicht) Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.) (1998): Vierter Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation. Bonn Claußen, W. H. (1989): Reizwort „Integration“. Zur gegenwärtigen Krise der Schwerhörigenschule. In: Hörgeschädigtenpädagogik 43, Teil I: 195 - 207; Teil II: 280 - 290 Leonhardt, A. (2002): Einführung in die Hörgeschädigtenpädagogik. 2. Aufl. München/ Basel: Ernst Reinhardt Löwe, A. (1974): Gehörlose, ihre Bildung und Rehabilitation. In: Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studie der Bildungskommission, Sonderpädagogik 2. Stuttgart: Klett, 15 - 183 Löwe, A. (1985): Hörgeschädigte Kinder in Regelschulen. Ergebnisse von Untersuchungen und Erhebungen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz. Schriftenreihe Bd. 5. Dortmund: Geers-Stiftung Integration hörgeschädigter Schüler 35 VHN 1/ 2005 Löwe, A. (1987, 1989, 1992): Pädagogische Hilfen für hörgeschädigte Kinder in Regelschulen. Heidelberg: Schindele Müller, R. J. (1993): …ich höre - nicht alles! Hörgeschädigte Mädchen und Jungen in Regelschulen. Zürich Schmitt, J. (2003): Hörgeschädigte Kinder und Jugendliche in allgemeinen Schulen. Untersuchung von schulischer Einzelintegration in Bayern unter besonderer Berücksichtigung des Übergangs in die Sekundarstufe. Aachen: Shaker Tiefenbacher, R. (1974): Integration hörgeschädigter Kinder in der Regelschule. In: Hörgeschädigtenpädagogik 28, 8 - 19 Prof. Dr. Annette Leonhardt Ludwig-Maximilians-Universität München Lehrstuhl Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik Leopoldstrasse 13 D-80802 München Tel. ++49 (0)89 21 80 51 17 Fax. ++49 (0)89 21 80 63 20 E-Mail: leonh@spedu.uni-muenchen.de Annette Leonhardt 36 VHN 1/ 2005
