Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2005
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Nichts als die reine Wahrheit!
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2005
Gustav Kanter
Kennen Sie auch diese Situation? Wenn zu einer Sache lang und breit gesprochen, behauptet, begründet, verneint, bezweifelt, schließlich nur noch in Variationen wiederholt wird und sich in dem allgemeinen Argumentationswirrwarr niemand mehr zurechtfindet oder gar zu einem abschließenden Urteil gelangen kann, stellt sich irgendwann die Frage: Worum geht es denn eigentlich genau?
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45 Kennen Sie auch diese Situation? Wenn zu einer Sache lang und breit gesprochen, behauptet, begründet, verneint, bezweifelt, schließlich nur noch in Variationen wiederholt wird und sich in dem allgemeinen Argumentationswirrwarr niemand mehr zurechtfindet oder gar zu einem abschließenden Urteil gelangen kann, stellt sich irgendwann die Frage: Worum geht es denn eigentlich genau? Als Teilnehmer solcher Erörterungen im Bereich (Sonder-)Pädagogik scheint einem das, was da vorgetragen wurde und wird, wohl vielfach zutreffend, also wahr zu sein, aber dann u.U. auch wieder nicht, wenn man die gleiche Sache unter veränderter Perspektive - evtl. auch durch weitere Informationen ergänzt - betrachtet und zu neuen Einsichten gelangt. Erfolgreich in derartigen Disputen ist dabei nicht selten derjenige, der gut reden, viel zitieren und seine Position überzeugend vortragen kann, gleich, ob sie nun ernsthafterer Prüfung standzuhalten vermag oder eben nur gelungene Meinungsmache ist. Rhetorik ist hier das Wichtigste. Mit der Sache selbst gibt es dagegen bei solcher Gelegenheit meist einige Schwierigkeiten. War da in den jeweiligen Darlegungen die Rede von Fakten, Einschätzungen, philosophischen Erwägungen, Glaubensbekenntnissen? Ging es um Gesellschaftsveränderung, Klagen über ökonomische Zwänge oder tatsächlich um Pädagogik (was immer das sei - oder gehört das ohnehin alles zur Pädagogik)? Damit wären wir wieder bei der Eingangsfrage: Worum geht es denn eigentlich in Angelegenheiten heutiger Sonder-, Heil-, Behinderten-, Förder-, Rehabilitationspädagogik oder wie auch immer genannt? In vielen Vorträgen und Diskussionen, in Aufsätzen und Büchern fällt auf, dass (Sonder-) Pädagogik sehr bemüht ist, sich Fragen der Zeit gegenüber aufgeschlossen und modern zu zeigen, verständig für die Situation und für Problemlagen der Kinder, Jugendlichen und ihrer Eltern, eingeschlossen die Nöte des Umfeldes. Um das Verstehen des anderen geht es dabei vor allem. Forderungen an ihn zu stellen, Erwartungen zu äußern, ist dagegen tunlichst zu vermeiden. Gar in den Ruch von Repressionen zu geraten, hieße das Ende allen Verständnisses. Was da gar nicht so selten auf Schulhöfen, unter der Hand in Klassenzimmern, auf den Heimwegen bei Jugendlichen und auch schon bei Grundschulkindern untereinander (von Lehrer- oder auch Hochschullehrerkollegien gar nicht erst zu sprechen) abläuft, übersieht man besser, denn das pflegt nur Ärger zu geben bis hin zu persönlichen Bedrohungen und Angriffen. 45 Nichts als die reine Wahrheit! Aber wie steht es um die Wahrhaftigkeit, und worum geht es eigentlich genau? Gustav Kanter Trend Für jedes Heft wird ein Repräsentant oder eine Repräsentantin eines heilpädagogischen Fachgebiets dazu eingeladen, einen persönlich gefärbten Kurzbeitrag zu voraussichtlichen Trends der kommenden Jahre in Forschung, Theorie und Praxis zu verfassen. In den ersten Nummern der neuen VHN lassen wir nochmals einige Personen zu Wort kommen, welche die deutschsprachige Heilbzw. Sonderpädagogik in früheren Jahrzehnten maßgeblich geprägt haben. VHN, 74. Jg., S. 45 - 47 (2005) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Mit derartigen Überlegungen lässt sich überleiten zu dem Wortspiel in der Überschrift „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“ (Nida-Rümelin). Uneingeschränkt wahr ist z.B., dass Erziehung, wie wir sie verstehen, nur auf der Basis grundlegenden menschlichen Verständnisses stattfinden kann, über den Weg gegenseitiger Annahme und wechselseitiger Achtung der Person. Richtig und notwendig ist es also, auf allen Ebenen menschlichen Umgangs und insbesondere pädagogischen Geschehens dieses Verständnis einzufordern und aus dieser Haltung heraus jegliche repressiven Tendenzen zu unterbinden. - Unterbinden? ? Nein, das wäre ja in sich repressiv! Es muss hier wohl richtiger lauten, Repressionen gegenstandslos werden zu lassen. Aber was soll das heißen, gegenstandslos werden zu lassen? Tabuisieren? ? - Machen wir uns nichts vor, repressives und abgrenzendes Verhalten gänzlich zu unterlassen (und sei es in der subtilen Form des Liebesentzugs), ist im menschlichen Umgang nicht möglich, weder praktisch noch theoretisch. Es gibt ständig Grenzen und Abgrenzungen, mit denen sich jedes Lebewesen auseinandersetzen muss. Das will in unserem Beispiel besagen, eine einzige „reine Wahrheit“ (Erziehen heißt Verstehen) ist nicht immer die volle Wahrheit, sondern diese ergibt sich annäherungsweise erst aus der möglichst umfassenden Einbeziehung sämtlicher Bedingungsmomente, unter denen eine Wahrheitsaussage gilt. Konkret: Zwar sind menschliche Akzeptanz und gegenseitiges Verständnis fraglos eine wesentliche Basis von Erziehung, aber damit allein ist es in der Erziehung noch nicht getan. Es gehören hierzu ebenso pädagogische Zielprojektionen wie Handlungswissen und Handlungskompetenz. Die Forderung nach „Wahrhaftigkeit“ bedeutet hier, die Prämissen, unter denen eine Aussage gilt, möglichst umfänglich offen zu legen (d. h. zu sagen, was zu Erziehung außer „Verständnis“ und „Akzeptanz“ noch erforderlich ist). Auch Gegenpositionen zu den eigenen Wahrheitsverkündigungen wären hier zu referieren und zu würdigen. Das alles sind Selbstverständlichkeiten wissenschaftsorientierten Denkens und Argumentierens, die aber, so meine Erfahrung, in heutigen pädagogischen Disputen um Reformnotwendigkeiten und -vorhaben auf bestem Wege sind, verloren zu gehen, ganz so, wie dies in der allgemeinen politischen Diskussion in geradezu erschreckender Weise seit geraumer Zeit geschieht. Da finden sich z.B. freudige Meldungen über die Neueinstellung von Lehrern, ohne den Hinweis, dass in der Bilanz der Zu- und Abgänge die Abgänge überwiegen. Da wird stolz der Erfolg von staatlichen Zuwendungen für die Einrichtung von Ganztagsschulen verkündet, ohne zu sagen, dass es um Ausstattungszuschüsse, nicht aber um Personalzuweisungen geht und gleich laufend die Bezuschussung der personalintensiveren Horteinrichtungen eingefroren wird. Da werden Arbeitslosenzahlen geschönt, indem Gruppen von Beschäftigungslosen zu „nicht arbeitslos“ umdefiniert werden. Die Liste ließe sich verlängern, ebenso wie die der Vernebelungs- und Chaosvorgänge in den derzeitigen politischen Auseinandersetzungen um die Staatsfinanzen, die Wirtschaftslage und den Abbau von Sozialleistungen. Wer daher mit Halbwahrheiten lautstark Fortschritte propagiert, dem fehlt es offensichtlich an Überblick in der Sache, oder es wird versucht, die Umwelt mit selektiven (Teil-)Wahrheiten bewusst in die Irre zu führen. Verallgemeinernd: Mit (Halb-)Wahrheit wird der Wahrhaftigkeit unbedacht oder wissentlich Hohn gesprochen. (Sonder-)Pädagogik sollte, im Versuch, „trendy“ zu erscheinen, nicht zum Mitläufer derartiger Zeitströmung werden, sondern sich stets auf das Gebot der Wahrhaftigkeit besinnen. Bleibt abschließend kurz zu umreißen, worum es denn nun tatsächlich in der Heil- und Sonderpädagogik geht: In menschlichen Gesellschaften ist Erziehung der Heranwachsenden explizit eine der Grundfunktionen, die deren Humanität konstituieren; und höher entwickelte Gesellschaften zeichnen sich durch Obsorge um ihre schwachen und alten Mitglieder aus, und zwar zunehmend unter bewusster Ein- Gustav Kanter 46 VHN 1/ 2005 Nichts als die reine Wahrheit! 47 VHN 1/ 2005 beziehung aller ihrer Mitglieder, auch der schwächeren, in den Erziehungsprozess (Auf das Problem „unwertes Leben“ kann hier in Kürze nicht eingegangen werden). Heil- und Sonderpädagogik ist, historisch belegbar, erfolgreicher Ausdruck dieses Bemühens. Die organisatorische Umsetzung und Ausformung dieser Bemühungen war und ist dabei allerdings unausweichlich an die je zeitgebundenen (und stets veränderbaren) Organisationsstrukturen des jeweiligen gesamten Erziehungs- und Bildungswesens gebunden. Alle Bemühungen, die diese Erziehung unterstützen, sind Zeichen entwickelter Kulturen, und alles, was hier bisher erreichte Standards absenkt, muss als Zeichen kulturellen Rückschritts gesehen werden. Und in diesem Zusammenhang ist die Wahrhaftigkeit gefordert. Viele der im heutigen Bildungswesen real ablaufenden Vorgänge bringen sichtlich Absenkungen des pädagogischen Förderpotenzials mit sich, und dieser Trend, so ist zu befürchten, hält an. Dabei lässt sich angesichts der Gesamtlage manches nicht vermeiden. Im Sinne der Wahrhaftigkeit sollte dieses offen gelegt und zur Diskussion gestellt werden. „Schönreden“ widerspricht eklatant dem Wahrhaftigkeitsgebot. Um mit meinen sicherlich etwas polemischen Negativanalysen nicht selbst die Erfordernis nach Wahrhaftigkeit zu missachten, sei ausdrücklich eingeräumt, dass sich vielerorts und auf allen Ebenen auch Beispiele positiver Fortentwicklungen der Erziehungs- und Bildungsbemühungen aufzeigen ließen. Sie treten nur leider nicht in gleicher Deutlichkeit hervor. Literatur Nida-Rümelin, J. (2002): Ethische Essays. Frankfurt: Suhrkamp Prof. Dr. Dr. hc. mult. Gustav Kanter Heilpädagogische Fakultät der Universität zu Köln Frangenheimstrasse 4 D-50931 Köln
