eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 74/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2005
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Selbstkonzepte körperbehinderter Menschen zum selbstbestimmten Leben

71
2005
Meinolf Schultebraucks
Behinderte Menschen erfahren auch in der postmodernen Gesellschaft Ausgrenzung, Ungleichstellung und Fremdbestimmung. Wie reagieren sie darauf, welche Strategien entwickeln sie? Drei Autobiographen haben in biographischen Interviews der Jahre 1982 und 2002 ihre Selbstkonzepte vorgestellt, die vor allem das Ziel verfolgen, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten. Weiteres Anliegen ist es, sich in Gleichstellung mit anderen Menschen in Richtung „gesellschaftliche Normalität“ zu bewegen. Eine Hauptstrategie ist dabei die Herstellung von Leistung. Da behinderten Menschen von der gesellschaftlichen Mehrheit eine normale Leistungsfähigkeit abgesprochen wird, bemühen sich die Autobiographen, die eigene Leistung überdurchschnittlich stark zu produzieren und zu akzentuieren.
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1 Hinweise zur Methodologie und zu den Bezugstheorien Dem Beitrag liegt eine biographieanalytische Studie mit körperbehinderten Erwachsenen aus den Jahren 1982 und 2002 zugrunde. Das Forschungsdesign bezieht sich auf den von Fritz Schütze (1983) entwickelten und von Armin Nassehi (1995), Gabriele Rosenthal (1995) sowie Wolfram Fischer-Rosenthal (1997) weitergeführten Ansatz zur empirischen Biographieforschung und seiner Methode des narrativen Interviews. Empirische Biographieforschung ermöglicht einen methodisch kontrollierten Zugang zur Lebensgeschichte der befragten Autobiographen, hier von körperbehinderten Menschen, in ihrer subjektiven und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das wesentliche Merkmal dieser qualitativen Untersuchungsmethode besteht darin, dass die Befragten während des Interviews ihre Biographie frei explorieren und dabei ihre eigenen Plausibilitäten entwickeln können, ohne durch Vorstellungen des Interviewers eingeschränkt zu werden. Dadurch erhält der Forscher einen ungehinderten Zugang zur subjektiven Lebenswirklichkeit seines Interviewpartners. Für den Autobiographen von Vorteil ist, dass ihm diese Methode der empirischen Sozialforschung die Möglichkeit eröffnet, den ‚roten Faden‘ in seiner Biographie zu entdecken; die Methode verfügt somit auch über identitätsfördernde Merkmale. 218 Selbstkonzepte körperbehinderter Menschen zum selbstbestimmten Leben Meinolf Schultebraucks Bad Sassendorf ■ Zusammenfassung: Behinderte Menschen erfahren auch in der postmodernen Gesellschaft Ausgrenzung, Ungleichstellung und Fremdbestimmung. Wie reagieren sie darauf, welche Strategien entwickeln sie? Drei Autobiographen haben in biographischen Interviews der Jahre 1982 und 2002 ihre Selbstkonzepte vorgestellt, die vor allem das Ziel verfolgen, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten. Weiteres Anliegen ist es, sich in Gleichstellung mit anderen Menschen in Richtung ‚gesellschaftliche Normalität‘ zu bewegen. Eine Hauptstrategie ist dabei die Herstellung von Leistung. Da behinderten Menschen von der gesellschaftlichen Mehrheit eine normale Leistungsfähigkeit abgesprochen wird, bemühen sich die Autobiographen, die eigene Leistung überdurchschnittlich stark zu produzieren und zu akzentuieren. Schlüsselbegriffe: Selbstkonzept, Selbstbestimmt-Leben, Körperbehinderung ■ Self-Concepts of Physically Handicapped Persons with Regard to Self-Determined Living Summary: In post-modern societies, handicapped persons still experience social exclusion, unequal opportunities and heteronomy. How do they react? What coping strategies do they develop? By means of biographical interviews in 1982 and 2002, three autobiographers present their self-concepts that mainly aim at a self-determined organization of their life. But they are also anxious to move towards ‚social normality‘ with regard to the equality of treatment. One of their main strategies is to establish ‚performance‘. As a social majority denies handicapped persons a normal achievement potential, the autobiographers strive to produce and accentuate performances higher-than-average. Keywords: Self-concept, self-determined living, physical handicap Fachbeitrag VHN, 74. Jg., S. 218 - 231 (2005) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Ereignissen in der Vergangenheit werden vom Biographen im Bezug zu seiner Gegenwartssituation gedeutet. Das hier gewählte Panel-Design (Interviewserien in den Jahren 1982 und 2002) schließt deshalb die Möglichkeit unterschiedlicher Deutungsvarianten desselben Geschehens durch den jeweiligen Autobiographen ein. Es interessieren die Differenzerfahrungen im biographischen Prozess: Welche Entwicklungen können beobachtet werden, was ist gleich geblieben, was hat sich auf Dauer als cantus firmus gehalten, was wurde in eine habitualisierte Form übertragen, was hat sich verändert? Anliegen des Panels ist die Nachzeichnung der Einzigartigkeit von Subjekten in ihrer historischen Tiefe. Den theoretischen Hintergrund der biographieanalytischen Untersuchung bilden zum einen die Theologische Subjekttheorie (Metz 1978; Luther 1992; Bach 2002) und zum anderen der Normalismusdiskurs (Normalität als gesellschaftliche Macht- und Handlungsstrategie), insbesondere die Verbindung zwischen der Normalismusforschung Jürgen Links (1998) und der Behindertenpädagogik durch Ulrike Schildmann (2000) und Ute Weinmann (2001). Der Normalismusforschung entstammen zentrale Begriffe des diesem Beitrag zugrunde liegenden Forschungsprojekts wie Selbstkonzepte, Leistung, Produktion von Normalität. Der Mensch steht als Subjekt in Geschichte und Gesellschaft und wird von ihnen geprägt, hat aber auch die Möglichkeit, sich zu einem neuen selbstbestimmten Subjektsein zu befreien, welches wiederum die Wirklichkeit verändern kann. Der Subjektbegriff ist zunächst ein empirisch-analytischer Begriff, der die geschichtliche und gesellschaftliche Realität in den Blick nimmt und Situationen entdecken lässt, in denen Subjekt-Sein ermöglicht, verhindert oder behindert wird. Darüber hinaus ist ‚Subjekt‘ auch ein Reflexionsbegriff, der sich auf die Wahrnehmung der eigenen Person, der des Anderen und der Welt bezieht und die gesamte Lebenssituation des Menschen und deren Rahmenbedingungen berücksichtigt. Im Sinne der biblischchristlichen Tradition bezeichnet der Begriff Subjekt nicht den Einzelnen in isolierter Identität und Lebensgeschichte, sondern seine Existenz als intersubjektives und kommunikatives, auf Transzendenz hin angelegtes Geschöpf. Subjekt ist ein Praxis- und Handlungsbegriff, der auf eine Selbstbestimmung des Einzelnen und die Veränderung jener Strukturen abzielt, die Selbstbestimmung gefährden und verhindern. Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit gelten als Lebenskategorien für alle Menschen. Normalisierung ist der Prozess zur Herstellung von Normalität im gesellschaftlichen Kontext durch die Entwicklung von Selbstkonzepten durch das Subjekt und kann damit als eine diskursive Strategie aufgefasst werden. Ziel der Normalisierung ist es, das Risiko der Abweichung von der Mitte der Gesellschaft auszubalancieren. Normalität ist für Jürgen Link (1998) ein Sich-Einpendeln des Subjekts im sozialen Diskurs auf einer statistischen Messskala. Dadurch versichert sich das Subjekt angesichts einer allgemeinen gesellschaftlichen Verunsicherung. Das Basisfeld zur Produktion von Normalität ist die Leistung. 2 Kurzvorstellung der Autobiographen der biographieanalytischen Studie Im Rahmen eines Panel-Designs auf der Grundlage von zwei Interviewserien mit jeweils drei befragten Personen wurden in der vorliegenden biographieanalytischen Studie die Lebenssituation behinderter Menschen sowie deren Selbstkonzepte und Strategien zur Überwindung körperlich und gesellschaftlich bedingter Einschränkungen untersucht. Frau A. wurde im Jahre 1952 geboren und wuchs mit drei Geschwistern in einer Großstadt auf. Erste Anzeichen ihrer Erkrankung machten sich im Alter von vier Jahren bemerkbar. Einige Jahre später wurde die Diagnose „Progressive Muskeldystrophie“ gestellt. Frau A. besuchte von 1959 - 1963 die Volksschule, anschließend das Gymnasium und machte 1971 das Abitur. Sie studierte Heilpädagogik (Lehr- Selbstkonzepte körperbehinderter Menschen 219 VHN 3/ 2005 amt für Sonderschulen). Nach dem Bestehen des Ersten Staatsexamens für das Lehramt an Sonderschulen 1976 begann sie ihr Referendariat in einer Schule für Körperbehinderte, die einem Rehabilitations-Zentrum angegliedert war. Seit dieser Zeit benutzt sie zur Fortbewegung einen Elektrorollstuhl. 1978 schloss sie die Lehrerausbildung mit dem Zweiten Staatsexamen ab und verblieb als Sonderschullehrerin an dieser Schule. 1989 erkrankte Frau A. lebensbedrohlich: Die Atemmuskulatur war zum Atmen zu schwach geworden. In einer Spezialklinik erhielt die Autobiographin ein Beatmungsgerät mit einer Nasenmaske. Seit 1991 ist Frau A. Rentnerin, arbeitet aber dennoch für einige Stunden ehrenamtlich weiter in der Schule und erteilt Einzelunterricht. Im Jahre 2000 zog sie in eine größere Wohnung mit einer organisierten 24- Stunden-Pflege durch einen ambulanten Pflegedienst im Haus. Frau B. wurde 1953 geboren. Bei ihrer Geburt kam es zu Blutungen, deren Folge eine cerebrale Bewegungsstörung in Form der Spastik und eine Sprachbehinderung waren. Zur Fortbewegung ist Frau B. auf einen Rollstuhl angewiesen. 1961 wurde sie in die Schule für Körperbehinderte eingeschult. Ab dieser Zeit lebte sie zwölf Jahre lang in einem Internat. Von 1971 bis 1973 besuchte sie eine Handelsschule für körperbehinderte Mädchen und begann 1973 eine Lehre als Bürokauffrau in einem Rehabilitationszentrum, die sie 1974 abbrach. Anschließend absolvierte sie die zweijährige Höhere Handelsschule. Zu jener Zeit wohnte sie im Studentenwohnheim einer Katholischen Studentengemeinde. Danach machte sie ein soziales Praktikum an einer Schule für Körperbehinderte, da sie vom kaufmännischen in den sozialen Bereich wechseln wollte. 1976 lernte sie ihren späteren Mann kennen und lebt seitdem - zunächst im Studentenwohnheim - mit ihm zusammen. Von 1977 bis 1980 studierte Frau B. Sozialpädagogik an einer Fachhochschule. 1979 heiratete sie und bezog mit ihrem Mann eine gemeinsame Wohnung. Bis 1981 machte sie in einer Schule für Körperbehinderte ihr Anerkennungsjahr als Sozialpädagogin. Im Januar 1982 gebar sie ihre erste Tochter. Im Oktober 1982 zog Frau B. mit ihrer Familie in eine andere Stadt. Ihr zweites Kind, einen Sohn, gebar sie im August 1983, vier Jahre später bekam sie ihre zweite Tochter. Nach deren Geburt erkrankte sie an Rheuma. 1995 stellte sie ihre Ernährung konsequent auf Rohkost um, und seitdem fühlt sie sich völlig gesund. Seit 1996 arbeitet Frau B. halbtags im Büro ihres Ehemannes mit. Im Januar 2002 trat sie aus der Kirche aus. Herr C. wurde 1938 geboren. 1945 wurde die Diagnose morbus erb, Muskelschwund, gestellt mit der Prognose, dass er die Pubertät nicht überleben werde. 1946 fand die Einschulung in die Volksschule statt. Ab dem 10. Lebensjahr konnte er nicht mehr laufen. Bis 1953 bewegte sich der Autobiograph selbständig mit einem so genannten Holländer fort, einem Spielzeug, das im Sitzen mit den Füßen gelenkt und durch ein Hin- und Zurückbewegen von senkrecht stehenden Stäben fortbewegt wurde. Von 1950 bis 1956 besuchte Herr C. die Realschule, und im Anschluss daran erteilte er bis 1972 in seinem Elternhaus Nachhilfeunterricht. Nach dem Tode der Mutter 1972 schaffte sich Herr C. einen Rollstuhl an und bewegt sich seitdem mit diesem fort. 1972 - 73 nahm er an medizinischen und Eignungsuntersuchungen zur Berufsfindung des Arbeitsamtes teil. Ab 1973 arbeitete er in der politischen Behindertenselbsthilfe mit, und von 1974 bis 1977 studierte er Sozialarbeit. Seit 1977 arbeitet Herr C. als Sozialarbeiter in einer Beratungs- und Frühförderstelle für Behinderte. 3 Strategien zur Konstruktion des Selbstkonzepts 3.1 Integration der Erkrankung in das Leben „Man, äh (2), ich denke, man muss sich immer einrichten, eben in neue Lebensumstände und, äh, ja (4), wenn ich den Kopf nach der Decke Meinolf Schultebraucks 220 VHN 3/ 2005 strecken will, äh, das hört sich so negativ an, aber so mein’ ich das nicht, sondern einfach mit neuen Gegebe … Gegebenheiten, ja, sich auseinandersetzen und, äh, ja (4), und se zu akzeptieren und (3) ja, eben se zu integrieren, ne in, äh, ja, in det eigene Leben, in die eigene, die eigene Person“ (Frau A. 2002, 12). Frau A. präsentiert im Text die Integration der Erkrankung in ihr Leben als Kriterium ihrer Identität, hier der Selbstidentität. Krankheit bzw. der progressive Verlauf der Erkrankung wird von der Autobiographin nicht gleichgesetzt mit Fremdbestimmung, auch wenn sie auf den Verlauf der Erkrankung fast keinen Einfluss hat. Die Autobiographin hat sich entschieden, nicht der Situation auszuweichen, sondern sich der weiter sich verstärkenden Erkrankung zu stellen: Hier spricht die Autobiographin im Dialekt: „… se zu akzeptieren, … se zu integrieren, …in det eigene Leben“ (Frau A. 2002, 12). Dies sind Aussagen mit einer hohen Authentizität der Autobiographin, Aussagen zur Identität, die durch Offenheit gegenüber Veränderungen gekennzeichnet ist. Hätte die Autobiographin nicht die Möglichkeit, der Erkrankung konstruktiv zu begegnen, in Autonomie handelnd, mit aufrechter Haltung („… den Kopf nach der Decke strecken …“ [Frau A. 2002, 12]), mit einer positiven Grundstimmung und mit Optimismus trotz allem Belastenden, dann wäre die Erkrankung für sie mit ihren massiv eingeschränkten Lebensmöglichkeiten etwas, was außerhalb von ihr läge, eine Bedrohung von außen, und sie selbst wäre in einer Position, in der sie gefangen wäre, so dass eine Versöhnung, eine Integration von Erkrankung und Person nicht stattfinden könnte. „Denn sonst wär’ es ja nur ’n Zwang von außen, ’n Eingeschränkt-Sein, das so von außen, so wie im Gefängnis sitzen, ne. Und äh (2), ich glaub’, da bin ich kein Typ zu, dass ich, äh, dass ich das so auffassen könnte. (11) Ja“ (Frau A. 2002, 12). Die Autobiographin bricht die negative Bedeutung des Krankseins (des Behindert-Seins) auf: Das Kranksein gewinnt seinen Sinn durch die Integration in das eigene Leben. Dadurch verlieren die Krankheit und das damit einhergehende „Eingeschränkt-Sein“ ihre Eigendynamik und das Bedrohliche. Frau A. präsentiert sich nicht als Objekt des Krankseins, sondern sie ist das handelnde Subjekt, das der Erkrankung in Freiheit begegnet. Mit dieser Auffassung, bei der es sich um eine stabile Grundaussage über ihre Identität handelt, kann die Autobiographin leben. Frau A. hat dem Text zufolge ein großes Selbstvertrauen in ihre integrativen Kräfte, die sich durch die lebenslangen Erfahrungen der sich ständig verändernden gesundheitlichen Situation entwickelt haben. Wie Frau A. präsentieren auch die beiden anderen Autobiographen im Text ein Selbstkonzept, das durch ihre Fähigkeit gekennzeichnet ist, sich auf den ständig sich verändernden gesundheitlichen Zustand, d. h. die Schädigung und die damit im Zusammenhang stehende Beeinträchtigung, einzustellen. Alle präsentieren sich so als Subjekte ihres Lebens. Darüber hinaus verfolgen sie das Konzept, die sich verändernde Beeinträchtigung/ Behinderung stets neu in ihr Leben zu integrieren. Sie lassen nicht zu, dass sie durch ihr Beeinträchtigt-Sein fremdbestimmt werden. Ihr Selbstkonzept vom selbstbestimmten Leben ist für die Autobiographen stärker als der Einfluss der Behinderung. 3.2 Experten für das eigene Leben Die Autobiographen der Studie präsentieren sich als Experten ihres Lebens und als Experten für die Lebenssituation behinderter Menschen. So erzählt Frau A. von einer Situation in ihrer Biographie, als sie als Jugendliche beim Auftreten ihres Chores stolperte. Der Text dokumentiert die von der Autobiographin wahrgenommene Unfähigkeit der Gesellschaft, Auffälligkeiten von Menschen differenziert und realistisch wahrzunehmen. Statt einer situationsadäquaten Auseinandersetzung mit der Auffälligkeit weicht das Publikum dem Text zufolge auf Betreuung Selbstkonzepte körperbehinderter Menschen 221 VHN 3/ 2005 aus: „Da wurde ich sofort auf ’nen Stuhl gepackt und kamen se mit ’nem Glas Wasser und äh, äh, ham mich da betüddelt…“ (Frau A. 2002, 14). Der Text bringt ein Subjekt-Objekt-Verhältnis der Betreuung zum Ausdruck und weist auf das Problem hin, dass Menschen mit Einschränkungen und mit besonderen Bedürfnissen oftmals zum Objekt nicht immer notwendiger und sachgerechter Betreuungsmaßnahmen werden. Hilfsbedürftigkeit steht hier im Zusammenhang mit Fremdbestimmung. Die Autobiographin weist darauf hin, dass die Betreuungssituation eine gestörte Kommunikation zwischen Betreuer und betreutem Menschen zur Folge haben kann, dass sie nicht als kompetenter Gesprächspartner, nicht als Fachfrau in eigener Sache wahrgenommen und akzeptiert wird: „… na ja, und ich konnte denen im Grunde genommen, äh, kaum beibringen, dass mit mir eigentlich gar nichts war, sondern, dass ich nur gestolpert war und dass das eben nicht so, äh, so abläuft, wie das bei anderen Leuten, die mal stolpern, ne. (8) Tja“ (Frau A. 2002, 14). Frau B. bringt durch das angewendete Ernährungssystem der Rohkost ihren Expertenstatus für ihre Gesundheit/ Krankheit/ Beeinträchtigung/ Behinderung zum Ausdruck. Die Rohkost hat für die Autobiographin zunächst die Funktion, ihre Selbständigkeit aufrechtzuerhalten. Frau B. wertet ihre Ernährungsumstellung als „Triumph“, als Sieg über die drohende Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit von anderen Menschen und als Medium ihrer Emanzipation von einer drohenden Fremdbestimmung. Sie generalisiert ihre individuelle Erfahrung der Bedeutsamkeit von Rohkost darüber hinaus auch für andere behinderte Menschen. „Deshalb bin ich auch so total überzeugt, dass so mancher Behinderter gar nicht so behindert sein müsste, wie er, wie er durch die Ernährung wird, ne“ (Frau B. 2002, 14). Die Autobiographin legitimiert auf diese Weise auch ihre selbst gestellte Aufgabe als Ernährungsberaterin. In der Abschlussevaluation gewichtet Frau B. die Relevanz der Rohkost für ihr Leben: Sie dient als Mittel gegen die Fremdbestimmung durch Ärzte und damit zur Aufrechterhaltung der Selbstbestimmung und Selbständigkeit. Ärzte nehmen dem Text zufolge behinderte Menschen nicht als Subjekte wahr und achten nicht ihr Subjektsein. „Denn erstens als Nicht-Behinderter wirst du schon bei den Ärzten entmündigt. Aber als Behinderter haste gar keine Chance mehr. Da wirst du gar nicht registriert. Du bist nur ’ne Sache, ne. (2) (hm) (16). Und ich glaube mit, mit, mit vielen Schicksalsschlägen könnt ich leben, aber nicht mit Unselbständigkeit, das ist etwas, was mir wirklich ganz doll am Herzen liegt, (4) kann ich leben. … Das ist etwas, was mir wirklich ganz doll am Herzen liegt (11)“ (Frau B. 2002, 14 - 15). Mit der Rohkosternährung macht sie sich unabhängig von Ärzten, mit denen sie in ihrer Lebensgeschichte negative Erfahrungen gemacht hat (Verlust der Achtung und Würde, Bevormundung, körperliche/ seelische Misshandlung, Isolation und Inkompetenz), und übernimmt selbst die Zuständigkeit und die Verantwortung für die eigene Gesundheit und die ihrer Familie. 3.3 Emigration aus Behinderteneinrichtungen Die Autobiographin Frau B. berichtet über erfahrene strukturelle Gewalt in einem Berufsbildungszentrum. Ein nach Aussagen der Autobiographin für körperbehinderte Menschen ungeeigneter Test wird als Machtinstrument missbraucht, um eine institutionelle Maßnahme durchzusetzen sowie die Selbstbestimmungsrechte der (behinderten) Auszubildenden zu beschneiden und das Selbstwertgefühl der Betroffenen zu erniedrigen. Frau B. versucht, sich dagegen zu wehren, schafft es aber letztlich (noch) nicht: Sie reagiert auf die Restriktion („Und dann haben sie gesagt entweder unterschreiben sie jetzt den Lehrvertrag als Bürokaufmann oder sie können gehen“ [Frau B. 1982, 2]) zunächst angepasst, indem sie einen Meinolf Schultebraucks 222 VHN 3/ 2005 Lehrvertrag als Bürokauffrau unterschreibt. In der Folge reagiert die Autobiographin auf diese Fremdbestimmung ihrer beruflichen Karriere jedoch mit einer inneren Kündigung. „Dann hab ich aber mehr krank gefeiert als ich da war“ (Frau B. 1982, 5). Diese Sequenz hat für die Biographie von Frau B. eine große Bedeutung: Sie wird in beiden Erhebungen erzählt; die Pointen stimmen in beiden Texten überein. Die Erzählung über den Intelligenztest ist daher als Repertoire-Geschichte zu bezeichnen. An einer späteren Stelle im Text des ersten Interviews evaluiert Frau B. dieses Erlebnis und generalisiert die Ausbildungszeit im Berufsbildungszentrum als schlimmste Zeit in ihrem Leben, als schwere Identitätskrise mit Suizidgefährdung: „(3) Ja, weil der Psychologe mich eben so fertig gemacht hat.(2) Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich überhaupt an Selbstmord gedacht habe. Das habe ich sonst nie wieder gedacht“ (Frau B. 1982, 2). Die Emanzipation von der Fremdbestimmung durch Repräsentanten kirchlicher Institutionen verfolgt Frau B. durch das Selbstkonzept der Emigration (z. B. den Abbruch der Berufsausbildung im Berufsbildungszentrum); den Schlusspunkt setzt sie mit dem Kirchenaustritt. Damit vollzieht sie den Abschluss ihres lebenslangen Emanzipationsprozesses von der Fremdbestimmung durch die Kirche, die sie in unterschiedlichen Institutionen erfahren hat, und präsentiert ihr Subjektsein-Können. Die Sozialsysteme der kirchlichen Institutionen haben durch ihre „Betreuung“ eine Subjektwerdung verhindert. Trotz ihrer Versuche einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde (als Katechetin, s. u.) gelingt ihr eine identifikatorische Partizipation nur vorübergehend. Die Problemlösung ist die Emigration aus der Institution, der Kirchenaustritt. Frau B. erlebt den Kirchenaustritt als Befreiung von Fremdbestimmung und Befreiung zur Entwicklung von Entwürfen einer alternativen Glaubenspraxis, die keinen Menschen mehr ausgrenzt. 3.4 Schaffung von Mobilität Frau A. organisiert ihr Studium der Sonderpädagogik so, dass sie die baulichen Barrieren (Treppen) überwinden kann, indem sie von ihrer Freundin getragen wird; dies bedingt die Anpassung ihres Studien-Planes an den ihrer Freundin. „… ja wir haben trotzdem alles zusammen gemacht, und (3) die hat mich also über de Schulter genommen, äh, und mich dann hoch getragen …“ (Frau A. 2002, 8). Die Mobilitätsprobleme werden hier durch eine solidarische Praxis überwunden. Infolge der zunehmenden motorischen Probleme aufgrund des progressiven Krankheitsverlaufs schafft sich Frau A. nach Beratung durch einen Sonderschulrektor einen Rollstuhl an, um bei der Ausübung ihrer beginnenden beruflichen Tätigkeit als Lehrerin unabhängig von personaler Hilfe (die sie zuvor dem technischen Hilfsmittel vorgezogen hat) mobil zu sein. Herr C. schafft sich zur Ermöglichung der selbständigen Mobilität und des selbständigen Lebens in der eigenen Wohnung einen Rollstuhl an. Die Schaffung der Mobilität (durch einen Rollstuhl) ist jeweils ein Konzept zur selbständigen Lebensführung (Wohnen und Beruf). Da die öffentlichen Verkehrsmittel aufgrund mangelhafter Barrierefreiheit und begrenzter Verfügbarkeit für Herrn C. nicht erreichbar und für die Erfüllung seines umfangreichen beruflichen sowie ehrenamtlichen Engagements unzureichend sind, schafft sich der Autobiograph selbst ein Kraftfahrzeug an, das jeweils von einem Assistenten gesteuert wird. Herr C. baut sich - mit Unterstützung durch seine Lebensgefährtin und durch Assistenten - ein Wohnmobil aus und erreicht so für den Freizeitbereich und für Urlaubsfahrten seine Mobilität und Normalität. Im Text stellt der Autobiograph dar, dass die Normalpopulation behinderten Menschen eine normale Urlaubspraxis abspricht. So erzählt er von einer Urlaubsfahrt mit dem Wohnmobil nach Italien und berichtet von einer Situation, als sich Frauen bekreuzigten, als sie sahen, dass Herr C. mit Selbstkonzepte körperbehinderter Menschen 223 VHN 3/ 2005 seinem Elektrorollstuhl mittels einer Rampe das Wohnmobil verließ, „… also im Grunde, äh, mir signalisiert haben, das ist doch nicht normal, äh, dass äh, muss doch was Teuflisches sein“ (Herr C. 2002,10). Körperbehinderte Menschen stellen Normalität her, indem sie zur Überwindung von Mobilitätsproblemen auf technische Hilfsmittel und die Solidarität von Bekannten zurückgreifen, um sich auf diese Weise trotz körperlicher Beeinträchtigungen und gesellschaftlich vorgegebener Ausgrenzung durch Barrieren Partizipation zu ermöglichen. 3.5 Selbständigkeit auf Probe Frau B. und Herr C. betonen, dass das selbständige Leben zunächst in einer Probephase ausprobiert werden sollte. Die Autobiographin hat das Studentenwohnheim als Übungsfeld gewählt. Frau B. weist darauf hin, dass die Selbständigkeit bei Pflegebedürftigkeit (insbesondere nach gelebter Unselbständigkeit und Versorgung in Behinderteneinrichtungen) gelernt sein muss. Wichtig ist es, den einzelnen Helfer auf Dauer nicht zu überfordern. Daher gilt es, die Hilfeleistungen auf mehrere Personen aufzuteilen. Ein guter Ort zum Trainieren des Selbständigwerdens ist für sie das Studentenwohnheim. „Ich kann es immer nur wieder empfehlen, wenn es gerade möglich ist, sollte man zunächst mit vielen, mit vielen Leuten zusammenziehen, und wenn man dann selbständig genug ist, dann kann man, kann man alleine ziehen oder mit einem Partner“ (Frau B. 1982, 3). Herr C. probierte das selbständige Leben zunächst bei einem Freund aus, danach im eigenen Haushalt. Der Text beginnt mit einer Vorwegevaluation des Autobiographen: „Du, was so mit eine der schwersten Zeiten meines Lebens war, war in (Name einer Stadt), als ich in ’ne eigene Wohnung gezogen bin, all’ die Verantwortung und die Klamotten zu übernehmen, die zum selbstbestimmenden Leben gehören“ (Herr C. 1982, 9). Die Interviewpassage endet mit der Schlussevaluation: „Also im Nachhinein sagte ich schon, das ist toll gewesen, dass ich das durchgestanden hab’ und dass ich mich gefunden hab’, was ich will oder was ich machen will“ (Herr C. 1982, 10). Hier wird die Ambivalenz des Verselbständigungsprozesses für den Autobiographen deutlich, zum einen der grundsätzlich positive Wert der erstrebten unabhängigen und selbstbestimmten Lebenspraxis und zum anderen die massiven Belastungen, die auf eine vorübergehende Identitätskrise hinweisen. Herr C. stellt diese Krise in einen Zusammenhang mit der Organisation und Durchführung der alltäglichen Verrichtungen. 3.6 Leben mit Assistenz Durch die Beauftragung eines Pflegedienstes entscheidet Frau A. über die Hilfen, die sie im Alltag braucht (Assistenzprinzip). So werden ihr das Leben in der eigenen Wohnung und die weitere Berufsausübung ermöglicht. Herr C. weist darauf hin, dass der Einsatz der Helfer sowohl vom betroffenen Menschen wie von den Helfern einen Lernprozess erfordert, wobei nach Auffassung des Autobiographen der Bezugspunkt der hilfsbedürftige Mensch ist. „Aber, hab’ ich auch eingangs gesagt, man muss sich und andere qualifizieren, damit die Helfer keine Fremdbestimmung über einen aus- ,äh, -breiten, sondern, dass ich durch Helfer meine Selbstbestimmung steigere auch bei, äh, geringerer Selbständigkeit. Und diese, dieses Reich muss man ausdifferenzieren (räuspert sich)„ (Herr C. 2002, 15). Mit dem Begriff „Reich“ insinuiert der Autobiograph, dass die Pflege ein Bereich ist, in dem er sich autark bewegen will, in dem er bestimmt, in dem er dem Helfer Aufträge erteilt. Es wird ein Perspektivenwechsel vollzogen vom Objekt zum Subjekt der Pflege. Jeder zu pflegende Mensch, auch der Mensch mit einer schweren Behinderung oder einer Mehrfachbehinderung, ist in der Pflegesituation das Subjekt. Zur Durchführung selbständigen Lebens in einer eigenen Wohnung und zur Herstellung Meinolf Schultebraucks 224 VHN 3/ 2005 von Mobilität (z. B. durch Nutzung eines Kraftfahrzeuges) stellen die Autobiographen Assistenten ein. Herr C. hat außerdem Assistenten eingesetzt, um seine berufliche Tätigkeit ausüben zu können.(‚Arbeitsassistenten‘). Mit dem Einsatz von Helfern verfolgen die Autobiographen zunächst das Ziel der Kompensation der eigenen körperlichen Beeinträchtigung. Trotz eingeschränkter Selbsttätigkeit aufgrund der fortgeschrittenen Muskelerkrankung können sowohl Frau A. wie Herr C. darüber hinaus ihr Ziel der Selbstbestimmung erreichen, indem sie Auftraggeber von konkreten Hilfeleistungen sind, die der Assistent auszuführen hat und die über Leistungsträger (Krankenkassen, Sozialämter usw.) abgerechnet werden. Die hohe Bedeutung, die Herr C. dem Assistenzprinzip als Mittel zur Verwirklichung seines Selbstkonzeptes zumisst, steht im Zusammenhang mit dem von ihm favorisierten Leistungsprinzip. Erst durch die Einschaltung von Assistenten ist es ihm überhaupt möglich, sein zentrales Lebensziel, nämlich die Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit aufrechtzuerhalten. Durch den Einsatz von Assistenten erhält Herr C. außerdem die Möglichkeit, in der Freizeit weiterhin seinen Hobbys wie z. B. dem Kochen nachzugehen. Für Frau A. hingegen soll das Hinzuziehen von Assistenten gewährleisten, dass sie selbständig außerhalb einer Behinderteneinrichtung leben kann. Ihr individuelles körperliches Leistungsvermögen ist nämlich aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums ihrer Muskelerkrankung derart massiv eingeschränkt, dass sie lebensnotwendige Verrichtungen aus eigener Kraft nicht mehr ausführen kann. Des Weiteren ermöglichen ihr die Assistenten die Fortsetzung ihrer Tätigkeit als Lehrerin im Ehrenamt. Die Autobiographen weisen darauf hin, dass die Verwirklichung ihrer Selbstkonzepte auf dem Einsatz von Helfern und der Freigabe entsprechender finanzieller Mittel durch Krankenversicherungsträger beruht. Einsparungen im Gesundheitsbereich gefährden so unmittelbar die Finanzierung von Assistenten und damit die Grundvoraussetzung des selbstbestimmten Lebens schwer behinderter und auf Pflege angewiesener Menschen. Herr C. fühlt sich darüber hinaus in besonderer Weise bedroht, weil die finanzielle Förderung von Arbeitsassistenten mit seiner Verrentung enden wird. Unter diesen Umständen könnte er auch seine geplanten ehrenamtlichen Tätigkeiten nicht mehr ausüben. 3.7 Produzieren von Leistung Während des Studiums gerät Frau A. in eine Identitätskrise, weil die Lehrer ihrer Praktikumsschule und der zuständige Hochschullehrer ihr wegen mangelnder Eignung vom Lehrerinnenberuf abraten und so eine normale Leistungsfähigkeit absprechen. Frau A. reagiert auf diese gesellschaftlich zugeschriebene Leistungs(un)fähigkeit behinderter Menschen, die in ihrem Fall interessanterweise auch von Menschen, die sich professionell mit Behinderung beschäftigen, vertreten wird, durch das Selbstkonzept der Inanspruchnahme von Beratung. In Begleitung ihrer Freundin, gestärkt durch die Erfahrung von Solidarität, sucht die Autobiographin externe Fachleute auf (einen Hochschulassistenten, einen Sonderschulrektor), um von ihnen eine Bestätigung ihrer subjektiven Einschätzung hinsichtlich ihrer eigenen Leistungsfähigkeit und der vorhandenen Eignung für diesen Beruf zu erhalten. Der Schulleiter schließt einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen der Behinderung und der beruflichen Eignung als Lehrerin grundsätzlich aus. „… und der hat dann nur gesagt, ja, äh, er könnt das nicht so genau sagen, weil so was hätte er noch nicht gehabt, ne (lächelt), aber er sähe eigentlich prinzipiell da nicht besonders große Schwierigkeiten, ne“ (Frau A. 1982, 16). Frau A. deutet die konstatierte Gleichstellung von behinderten und nicht behinderten Lehramtsstudenten durch den Sonderschulrektor als Gegenposition zu der des Professors der Sonderpädagogik und schafft sich so die emotionale Grundlage zur weiteren Verfolgung des ange- Selbstkonzepte körperbehinderter Menschen 225 VHN 3/ 2005 strebten Berufsziels. Die Beratung sichert das Selbstkonzept der eigenen Leistungsfähigkeit der Autobiographin ab. Während ihrer Berufstätigkeit als Lehrerin verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand. Frau A. reduziert im Verlauf ihrer progressiven Muskelerkrankung und der damit einhergehenden körperlichen Schwäche, die eine Abnahme ihrer Belastbarkeit mit sich bringt, ihre Ansprüche an die von ihr wahrgenommene Lehrerrolle. Sie gibt elementare Bestandteile der Lehrertätigkeit auf, beispielsweise die selbständige Planung/ Durchführung des Unterrichts sowie die Erfüllung dienstlicher Pflichten, und beschränkt sich auf die Erteilung von Förderunterricht nach Vorgaben anderer Lehrer. Gelegentlich ist sie auch bereit, Unterricht ausfallen zu lassen, wenn sie Besuch bekommt. Im Alter von 37 Jahren, nach 13 Berufsjahren, erkrankt Frau A. lebensbedrohlich: Die Atemmuskulatur ist zum Atmen zu schwach geworden. In einer Spezialklinik erhält sie ein Beatmungsgerät mit einer Nasenmaske, das sie zunächst nur im Schlaf und für wenige Stunden, später aber ständig - außer zu den Mahlzeiten - nutzen muss. Infolge dieses Schubes ihrer progressiven Muskelerkrankung wird Frau A. in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Das öffentliche Absprechen ihrer Leistungsfähigkeit steht jedoch im Gegensatz zu ihrer Selbsteinschätzung. Die Autobiographin konterkariert die Normalitätsvorstellungen von der Leistungsunfähigkeit ‚schwer-behinderter‘ Menschen und deren Berufsunfähigkeit mit der Konstruktion des Ehrenamtes. Sie hält ihre Berufstätigkeit als Lehrerin ehrenamtlich, d. h. ohne Besoldung, aufrecht und präsentiert so ihre weiterhin gegebene Leistungsfähigkeit trotz großer körperlicher Belastungen (Schwäche, Beatmung mit einem Gerät). „… und fühl mich eigentlich, äh, dabei richtig gut und wohl, äh, ausgelastet…“ (Frau A. 2002, 2). Frau A. finanziert zur Aufrechterhaltung ihrer beruflichen Tätigkeit ihre 24-stündige Pflege selbst, da eine öffentlich finanzierte umfassende häusliche Pflege zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht möglich ist. Die Kollegen ihrer Schule beteiligen sich an ihrer Pflege während der Unterrichtszeit. Voraussetzungen zur Realisierung dieser 24-Stunden-Pflege sind eine optimale Logistik von Frau A. und die Solidarität der Kollegen. Frau A. präsentiert ihre Leistungsfähigkeit auch bei zu erwartender Progressivität ihrer Muskelerkrankung. Wenn sie gesundheitsbedingt ihrer Tätigkeit als Lehrerin im Ehrenamt nicht mehr nachkommen kann, beabsichtigt die Autobiographin die Erteilung von Nachhilfeunterricht im häuslichen Umfeld und präsentiert sich so als autonom handelndes Subjekt, das sich auf neue Situationen stets einzustellen weiß, die berufliche Perspektive nicht aufgibt und ihre Leistungsfähigkeit so lange wie nur eben möglich durch ihre Lebenspraxis nachweist. Der Subjekt-Gedanke orientiert sich bei Frau A. an der Aufrechterhaltung der eigenen Leistungsfähigkeit und bildet damit einen Gegenpol zum Objekt-Sein aufgrund ihres Krankheitsstatus. Auch bei der zweiten Autobiographin steht der Leistungsbereich im Zentrum ihrer Selbstkonzepte. Frau B. beginnt ihre berufliche Karriere in einer Behinderteneinrichtung, in der sie fremdbestimmt wird und ihre Fähigkeiten nicht entfalten kann. Sie verlässt das Rehabilitationszentrum, besucht eine Berufsfachschule, absolviert ein Fachhochschulstudium der Sozialpädagogik und arbeitet dann im Betrieb ihres Mannes mit. Im Gegensatz zu ihrer Unproduktivität während der erzwungenen Ausbildung im Berufsbildungszentrum stellt Frau B. Produktivität und Bedeutung ihrer selbst gewählten Tätigkeit als Buchhalterin im Betrieb ihres Mannes heraus. Hier präsentiert sie sich als gleichwertiges und wichtiges Mitglied eines Mitarbeiterteams. „Wenn ich heute ’ne Zeitlang nicht käme, dann wär’ das schon ein Nachteil (hm) für den Betrieb“ (Frau B. 2002, 4). Im Gegensatz zur Besonderung und Ausgrenzung während der ihren Fähigkeiten nicht entsprechenden Berufsausbildung in der Behinderteneinrichtung gelingt ihr so die Produktion von Normalität. Meinolf Schultebraucks 226 VHN 3/ 2005 Frau B. präsentiert als dreifach tätige Frau nun ihre überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit, die über die in der gegenwärtigen Gesellschaft von vielen Frauen erbrachte Doppelbelastung Haushaltsführung (einschließlich Kindererziehung) und Berufsausübung hinausgeht, indem sie auf ihre zusätzliche ehrenamtliche Tätigkeit als Ernährungsberaterin und ihren bis in die Nacht andauernden Arbeitstag hinweist. In allen Bereichen arbeitet die Autobiographin selbstbestimmt und produktiv. „Und spät, ich gehe so um halb zwölf ins Bett. Ja, Schlaf brauch ich. (4) … Das ist eigentlich so der Normalalltag“ (Frau B. 2002, 1). Frau B. betont mit der Verwendung des Begriffs ‚Normalalltag‘, dass ihre Alltagsgestaltung den gesellschaftlichen Normalitätserwartungen an Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft im hohen Maße entspricht. Herr C. erlebt in seiner beruflichen Karriere zunächst Anormalität: Nach dem erfolgreichen Abschluss der schulischen Karriere (Realschulabschluss) bekommt er keine Lehrstelle, keinen Ausbildungsplatz und bleibt somit von der beruflichen Ausbildung und einer beruflichen Karriere vorläufig ausgeschlossen. „Und ich habe dann zum ersten Mal gespürt, konkret gespürt, dass ich behindert bin, als ich aus der Schule kam und keinen Beruf lernen konnte, und all’ meine Freunde und Schulkameraden in ’n Beruf gingen …“ (Herr C. 1982, 8). Der Autobiograph stellt Normalität durch die Konstruktion der Erteilung des Nachhilfeunterrichts als Berufstätigkeit her. So geht er wie andere Jugendliche auch einer Berufstätigkeit nach, jedoch mit folgenden Unterschieden: Der Autobiograph ist bei der Ausübung seines Berufes an sein häusliches Umfeld gebunden und somit gesellschaftlich isoliert. Die berufliche Bildung wird nicht durch öffentliche Berufsschulen (Berufskollegs) bzw. durch eine innerbetriebliche Ausbildung sichergestellt. Herr C. organisiert seine Kompetenzerweiterung zur Erteilung des Nachhilfeunterrichts selbst. Nach der Emanzipation von der Fremdbestimmung durch die Mutter realisiert Herr C. sein Konzept eines selbstbestimmten Lebens durch die Sicherstellung der eigenen Mobilität und durch das selbständige Leben in einer eigenen Wohnung. Darüber hinaus nimmt er nun seine Eingliederung in die Berufswelt in die Hand, indem er die Berufsberatung des Arbeitsamtes in Anspruch nimmt und seine Ausbildung zum Sozialarbeiter an der Fachhochschule eines Rehabilitationszentrums beginnt. Sein Fernziel ist das Arbeiten auf dem freien Arbeitsmarkt, weil erst dieser Arbeitsort für ihn eine endgültige Befreiung von der im Zusammenhang mit Behinderung erlebten Isolation, Fremdbestimmung und gesellschaftlich zugeschriebenen Anormalität ermöglicht. Seine erste Arbeitsstelle tritt er nach erfolgreich abgeschlossenem Studium als Sozialarbeiter in einer kirchlich getragenen Behindertenberatungsstelle an. Herr C. stellt im Text dar, dass er zu überdurchschnittlicher Leistung fähig ist und fachlich herausragende Ergebnisse erzielen kann. Über seine Vollzeitbeschäftigung hinaus leistet er regelmäßige ehrenamtliche Einsätze. Sein Tagesablauf ist wesentlich durch Arbeit gekennzeichnet. „Also ich brauch’ beides, ich brauch’ Arbeit, richtig rangenommen zu werden, nur ich kann natürlich auch, ich kann natürlich auch heut’ noch arbeiten, ich arbeite fast jeden Nicht- Behinderten in Grund und Boden, auch was Zuständigkeiten betrifft“ (Herr C. 2002, 3). Herr C. nimmt körperliche Belastungen in Kauf, um sein Selbstkonzept als leistungsfähiger Arbeiter trotz körperlichen Beeinträchtigt- Seins praktisch umzusetzen. Er verfolgt das Selbstkonzept, trotz Muskelerkrankung gesund und stark zu sein: „Ich denke, dass ich ’n kerniger Bursche bin, und dass ich auch ’n sehr gesunder Bursche bin, bei allen Beeinträchtigungen, die ich mittlerweile habe, äh“ (Herr C. 2002, 6). Die herausgestellte Gesundheit steht im Zusammenhang mit einem Nachweis der Leistungsfähigkeit und Berufsfähigkeit. Sein Selbstkonzept überdurchschnittlicher Leistungsfähigkeit entwickelt er als Kontrast zur Erfahrung von Behinderung. Herr C. erfährt Selbstkonzepte körperbehinderter Menschen 227 VHN 3/ 2005 Behinderung neben der gesellschaftlichen Ausgrenzung als eine Beeinträchtigung seiner Bewegungsfähigkeit. Andererseits aber möchte er selbst in seinem Leben etwas bewegen. Er erlebt, dass behinderte Menschen gesellschaftlich nur eine marginale Bedeutung haben; er hingegen möchte Spuren in der Welt hinterlassen. Er verfolgt das Konzept der politischen Selbsthilfe, als Kampf zur Verbesserung der gesellschaftlichen Situation behinderter Menschen, zur Überwindung von Ausgrenzung. „… ich wollte halt immer auch, äh, was bewegen, in die richtige Richtung bewegen und Spuren mal hinterlassen, ne, auf dieser Erde. Und das ist, ist mir eigentlich gelungen“ (Herr C. 2002, 3). Herr C. verfolgt das Ziel, seine berufliche Tätigkeit bis zum Erreichen der Altersgrenze auszuüben. Hiermit präsentiert der Autobiograph seine Leistungsfähigkeit trotz fortgeschrittener Muskelerkrankung und verweist auf den normalen Verlauf seiner beruflichen Karriere, die - trotz gegenteiliger Prognosen - mit dem Erreichen der regulären Altersgrenze im folgenden Jahr endet. „Nächstes Jahr geh’ ich im Mai in Altersrente. Hätt’ ich nie gedacht, dass ich Altersrente erlebe als Muskeldystrophiker“ (Herr C. 2002, 2). Herr C. plant eine Fortführung seiner ehrenamtlichen Tätigkeit nach der Verrentung (ähnlich wie Frau A.). Die Bedeutung der gesundheitlichen Entwicklung wird dabei als nicht entscheidend eingestuft. Die Autobiographen verfolgen die Strategie, ihre körperliche Schädigung und eingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit durch intellektuelle Anstrengungen, durch das Herausstellen überdurchschnittlicher intellektueller Leistungsfähigkeit zu kompensieren. Die „geistige Fülle“ (Frau A. 2002, 16) wird als Gegengewicht zur körperlichen Beeinträchtigung positioniert. Die vielfältigen phantasievollen Selbstkonzepte behinderter Menschen im Bereich Leistung haben das Ziel, die gesellschaftlich abgesprochene Leistungsfähigkeit behinderter Menschen zu widerlegen. Um die unterdurchschnittliche gesellschaftliche Einschätzung ihrer Leistungsfähigkeit zu kompensieren, entwickeln die behinderten Autobiographen eine überdurchschnittliche Leistungsorientierung. Dem entspricht, dass sie ihre Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft über die normale Grenze der Lebensarbeitszeit hinaus, d. h. auch nach Erreichen der Altersgrenze bzw. nach Ausgliederung aus dem Erwerbsleben aufrechterhalten. Der Leistungsbereich ist der Bereich, in dem die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung behinderter Menschen und deren gesellschaftlicher Fremdwahrnehmung besonders auffällig ist. Behinderte Menschen investieren gerade in diesem Bereich ihre Energie in die Entwicklung von Selbstkonzepten, um durch die Darstellung ihrer eigenen Leistungsfähigkeit die gesellschaftlichen Normalitätsgrenzen neu zu justieren. 3.8 Politisches Engagement Herr C. stellt heraus, dass die gesellschaftliche Situation stets kritisch wahrzunehmen ist. Die Ergebnisse seiner Beobachtungen dienen ihm als Grundlage der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und als Impuls zur Entwicklung von Handlungsstrategien. Er stellt außerdem auf diese Weise eine Kohärenz zu seinem Vater her, der sich in der Gewerkschaftsbewegung engagiert hat. Herr C. lehnt das Sonderschulwesen als gesellschaftliche Ausgrenzungspraxis von behinderten Menschen ab und fordert stattdessen die integrative Beschulung in Regelschulen. „Heute käme ich ins Ghetto von Anfang an, ich käme auf ’ne Sonderschule, und man würde noch behaupten, es wäre zu meinem Besten, also, das ist die größte Unverschämtheit dabei“ (Herr C. 1982, 8). Der Autobiograph verfolgt das Ziel, die gesellschaftliche Situation von behinderten Menschen zu normalisieren. In Zusammenarbeit mit anderen behinderten und nicht behinderten Vereinsmitgliedern in Selbsthilfegruppen versucht er, zur Verbesserung der persönlichen Meinolf Schultebraucks 228 VHN 3/ 2005 und gesellschaftlichen Situation beizutragen. Wichtig ist ihm die durch Selbsthilfegruppen initiierte Auseinandersetzung mit bedrohenden Ideologien für behinderte Menschen (NS-Ideologie, Bio-Ethik, Gentechnologie …). Herr C. weist darauf hin, dass Konzepte zur Verbesserung der Situation behinderter Menschen nicht primär bei deren Beeinträchtigt- Sein ansetzen sollten (hier sind in der Regel nur minimale Verbesserungen möglich), sondern bei den gesellschaftlichen Bedingungen von Behinderung. Er konstatiert in den letzten Jahren einen Verlust der politischen Dimension der Selbsthilfearbeit zugunsten eines Austausches über die individuellen Beeinträchtigungen durch die Mitglieder der Selbsthilfegruppen. Bei der Mehrzahl der behinderten Menschen stehen demnach Konzepte zur Verbesserung der persönlichen Beeinträchtigung im Zentrum ihrer Lebensorganisation. Der Autobiograph fordert, dass sich behinderte Menschen weiterhin gegen die gesellschaftliche Ungleichstellung wehren und für eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Situation kämpfen sollen. Nach einer anfänglichen Phase der Utopie, dass Menschen in Gleichheit in absehbarer Zeit zusammenleben könnten, stellt sich Herr C. jetzt darauf ein, dass die Gleichstellung aller Menschen ein langer und schwieriger Prozess sein wird. 4 Die Macht gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen Die Grenzen der Lebensmöglichkeiten behinderter Menschen in der postmodernen Gesellschaft macht Herr C. an einer zunehmenden Ausprägung und Gewichtung des Körperlichen fest, des Ausdrucks von Gesundheit, Kraft, Sportlichkeit, Schönheit. „Sie brauchen sich heute nur, äh, Sie gehen in ein Fitnessstudio und gucken sich an, welche Ideale, oder Sie nehmen ’ne Zeitung, äh, so ’ne Outfit-Zeitung und schauen sich da an, welche Ideale an Mann, äh, die Männerrolle beinhaltet und aber auch die Frauenrolle“ (Herr C. 2002, 16). Die Existenz der Fitnessstudios, die vor zwanzig Jahren in dem heutigen Umfang nicht gegeben war, dokumentiert die gesellschaftliche Entwicklung der Prioritätensetzung eines körperlich ‚fitten‘ Lebens. Das Leben körperbehinderter Menschen entlarvt die Übertreibung dieser Lebenspraxis. „Und das ist heute so überspitzt, dass kaum noch einer dieser Rolle gerecht werden kann, äh, we …, weder die, die Großzahl der Frauen noch die Großzahl der Männer“ (Herr C. 2002, 16). Selbst gesunde Menschen können - trotz massiver Anstrengungen - dem gesellschaftlichen Standard nicht entsprechen. „Aber, äh, deren Abweichen ist nicht so eklatant wie meins“ (Herr C. 2002, 16). Behinderung wird gesellschaftlich definiert durch das Maß der Abweichung von der Normalität. Da die Messlatte für körperliche Normalität gesellschaftlich heute noch höher gelegt worden ist, ist die Schwelle für die gesellschaftliche Zuschreibung von Behinderung niedriger als vor zwanzig Jahren. Für das gesellschaftliche Leben des Autobiographen als Mann - in der Wahrnehmung seiner Geschlechtsidentität - haben sich in den letzten Jahren keine signifikanten Veränderungen ergeben. „Und ich habe im Verständnis dieser Gesellschaft, werd’ ich nie als, äh, Mann akzeptiert werden, aber ich werde, und äh, das ist das Beruhigende da dran, immer wieder, äh, von einzelnen Persönlichkeiten, durchaus als, äh, in dieser und jener Rolle auch in der Männerrolle geschätzt“ (Herr C. 2002, 16). Herr C. macht für die gesellschaftliche Entwicklung des zunehmenden Körperkultes wirtschaftliche Interessen verantwortlich, die er verallgemeinernd anhand der marxistischen Theorie verdeutlicht. „Und, ähm, die, die Entwicklung in der Gesellschaft, äh, die wird, und ist mir auch mittlerweile klarer geworden, die wird von anderen Faktoren als von Bewusstsein bestimmt, sondern die werden wirklich von den alten Faktoren des Kapitalismus bestimmt, also Kapitalkreisläufe zu schaffen, äh, die man ab- Selbstkonzepte körperbehinderter Menschen 229 VHN 3/ 2005 schöpfen kann“ (Herr C. 2002, 16). Nach Auffassung des Autobiographen wird der Mensch (in seiner Fokussierung auf das Körperliche) durch die Ökonomie fremdbestimmt, ohne dass er es merkt. So wird die gesellschaftliche Identität des schönen und gesunden Menschen festgeschrieben und gegen andere Wertsetzungen resistent. „Da kann ich noch so eine Überzeugung, ähm, ich selbst haben, die beeinflusst diese Gesellschaft nicht. Das ist mir im Laufe der Jahre auch klarer geworden, muss ich sagen, ne“ (Herr C. 2002, 19). Der Autobiograph stellt die Unveränderbarkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit heraus - hier nicht nur bezogen auf den Bereich der Geschlechtsidentität, Partnerschaft und Körperlichkeit, sondern in einer generalisierenden Form - besonders im Hinblick auf die Lebenssituation von behinderten Menschen. 5 Entwurf alternativer Lebensmöglichkeiten (Fortbewegung, Beruf, Glauben) Herr C. entwickelt bereits im Vorfeld einer zu erwartenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes Konzepte zur Aufrechterhaltung der Mobilität und spielt unterschiedliche (auch futuristische) Möglichkeiten der Fortbewegung durch. „… wenn ich den [Rollstuhl, Erg. M. S.] net mehr mit der Hand fahren kann, werd’ ich mich umstellen können und werd’ eben, äh, durch Blasen äh, lenken oder so. Das ist ja alles machbar, da gibt’s ja Möglichkeiten“ (Herr C. 2002, 7). Der Wunsch nach Aufrechterhaltung der Mobilität steht für ihn im Zusammenhang mit seiner Leistungsfähigkeit. Frau A. entwickelt im Beruf alternative Möglichkeiten zur Fortführung ihrer Tätigkeit als Lehrerin durch die Konstruktion der ehrenamtlichen Berufstätigkeit. Im Gesundheitsbereich entwirft Frau B. die Rohkosternährung als Strategie gegen die Bevormundung durch Ärzte und das Herausstellen ihrer Selbstbestimmung und Leistungsfähigkeit. 6 Fazit Alle Selbstkonzepte gehen von einer grundsätzlichen Lebensbejahung trotz Behinderung aus. Diese positive Grundhaltung und Wertschätzung gegenüber dem eigenen Leben ist als grundlegendes Prinzip der Selbsteinschätzung gemeinsames Merkmal aller Äußerungen der Autobiographen. Obwohl diese ihr Leben positiv evaluieren (z. B. Herr C.: „Ja, ich muss sagen, mir geht es nach wie vor hervorragend…“ [Herr C., 1]), zielen alle Selbstkonzepte - neben der allgemeinen Akzeptanz des Lebens - auch auf die Befreiung von Behinderung ab. Da Behinderung von den Autobiographen vornehmlich als gesellschaftlich bedingte und erfahrene Kategorie erlebt wird, stehen die Selbstkonzepte im Zusammenhang mit der Überwindung negativer gesellschaftlicher Zuschreibungen von Anormalität. Daher zielen alle Selbstkonzepte auf die Herstellung von Normalität, indem sie zentrale gesellschaftliche Normalitätsvorgaben, z. B. im Bereich der Leistung, übernehmen und in einem übersteigerten Maße umzusetzen versuchen. Weiteres gemeinsames Merkmal der Selbstkonzepte ist die Orientierung an den Globalzielen ‚Selbstbestimmung‘ und ‚Gleichstellung‘ als Gegenpole zur erfahrenen Fremdbestimmung und Ungleichstellung. Durch phantasievolle und engagiert verfolgte Selbstnormalisierungsstrategien zur Verwirklichung dieser Globalziele im Alltag versuchen die Autobiographen, Normalität herzustellen und zu präsentieren. Anmerkungen 1 Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner Dissertation: Schultebraucks, Meinolf: Biographisches Wissen an den Grenzen von Normalität und Behinderung. In dieser Arbeit finden sich auch alle hier nicht aufgeführten Belege. Im Internet unter http: / / eldorado.uni-dortmund. de: 8080/ FB14/ lg7/ forschung/ 2004/ schultebraucks 2 Der zwanzigjährige Abstand zwischen den beiden Interviewserien steht im Zusammenhang mit der persönlichen Biographie des Autors und Meinolf Schultebraucks 230 VHN 3/ 2005 dessen nach der Geburt seiner behinderten Tochter Lisa neu erwachtem Interesse an der Thematik. Literatur Bach, Ulrich (2002): Theologie nach Hadamar als Aufgabe der heutigen Theologie. In: Pithan, Annebelle; Adam, Gottfried; Kollmann, Roland (Hrsg.): Handbuch Integrative Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde. Gütersloh, 112 - 118 Fischer-Rosenthal, Wolfram; Rosenthal, Gabriele (1997): Narrationsanalyse biographischer Selbstpräsentation. In: Hitzler, Ronald; Honer, Anne: Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen, 133 - 164 Link, Jürgen (1998): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen Luther, Henning (1992): Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts. Stuttgart Metz, Johann Baptist ( 2 1978): Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie. Mainz Nassehi, Armin (1995): Die Deportation als biografisches Ereignis. Eine biografieanalytische Untersuchung. In: Weber, Georg; Weber-Schlenther, Renate; Sill, Oliver; Kneer, Georg (Hrsg.): Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945 - 1949. Bd. II: Die Deportation als biografisches Ereignis und literarisches Thema. Köln/ Weimar, 5 - 412 Rosenthal, Gabriele (1995): Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biografischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt a. M./ New York Schildmann, Ulrike (2000): Forschungsfeld Normalität. Reflexionen vor dem Hintergrund von Geschlecht und Behinderung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 3, 90 - 94 Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis. Kritische Zeitschrift für Sozialarbeit und Sozialpädagogik 3, 283 - 293 Schultebraucks, Meinolf (2005): Behinderte Menschen zwischen Normalität und Anormalität. Lebensgeschichten körperbehinderter Menschen, mit einem Vorwort von Johann Baptist Metz. Olsberg Weinmann, Ute (2001): Normalität im wissenschaftlichen Diskurs verschiedener Fachdisziplinen. In: Schildmann, Ulrike (Hrsg.): Normalität, Behinderung und Geschlecht. Ansätze und Perspektiven der Forschung. Opladen, 17 - 41 Dr. Meinolf Schultebraucks Schule an der Rosenau D-59505 Bad Sassendorf Tel.: ++49 (0) 29 21 96 00 34 E-Mail: schultebraucks@freenet.de Selbstkonzepte körperbehinderter Menschen 231 VHN 3/ 2005