eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 74/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2005
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Die Gunst der dritten industriellen Revolution

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2005
Klaus-Peter Becker
Streng genommen bedeutet Trend: Grundrichtung eines statistisch erfassten Verlaufs. Er verwirklicht sich über mannigfache Tendenzen, die einander ergänzen, verstärken oder auch ausschließen können. Ein solcher Trend vollzieht sich m. E. gegenwärtig in der so genannten 3. industriellen Revolution. Als Vertreter wissenschaftlicher Disziplinen, die der Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen dienen, können wir uns ihr nicht entziehen.
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Streng genommen bedeutet Trend: Grundrichtung eines statistisch erfassten Verlaufs. Er verwirklicht sich über mannigfache Tendenzen, die einander ergänzen, verstärken oder auch ausschließen können. Ein solcher Trend vollzieht sich m. E. gegenwärtig in der so genannten 3. industriellen Revolution. Als Vertreter wissenschaftlicher Disziplinen, die der Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen dienen, können wir uns ihr nicht entziehen. Blicken wir vorerst einmal zurück: Das Charakteristikum der ersten industriellen Revolution besteht in der Übertragung des Werkzeuges aus der Hand des Menschen in die Arbeitsmaschine. Ijsseling schreibt: „Im Zuge der Industrialisierung Europas bildeten sich auch völlig neue Denkweisen heraus, deren zentrale Begriffe Effizienz und Produktion, Nützlichkeit und Verwertbarkeit, vor allem jedoch Arbeit und Kapital waren“ (Ijsseling 1997, 284). Die Beziehung dieser Entwicklung zu unserem Fach spiegelt sich exemplarisch ganz im Sinne der deutschen Nationalerziehung in Samuel Heinickes Prospekt des 1787 gegründeten „Churfürstlich-Sächsischen Instituts für Stumme und andere mit Sprachgebrechen behaftete Personen“ zu Leipzig wider: „3. Die Lehrlinge … Mit einem Wort, sie werden zu brauchbaren Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft gemacht und können sich alsdann in ihrem zukünftigen Lebenswandel selbst überlassen werden“ (Heinicke 1912, 84 - 85). Die zweite industrielle Revolution geht in ihren ersten Anfängen auf den Fordismus in den USA zurück und wird durch den Automaten und die Automatisierung charakterisiert. Kombinierbare mechanische Vorgänge nehmen in einem selbständig geregelten oder programmgesteuerten Ablauf dem Menschen auch einfache geistige Funktionen ab. Es handelt sich aber auch um eine Kombination von wachsender Produktion infolge immens steigender Arbeitsproduktivität bei gleich bleibenden Qualitätsstandards und sinkenden Selbstkosten um den Preis eingesparter Arbeitskräfte. Carlo Schmid sah 1956 diese Entwicklung „… unsere Gesellschaftsordnung, unsere politischen Lebensformen, ja die Formen menschlichen Lebens selbst im Kern verändern“ (Schmid 1956, 7 - 56). Seine Forderung nach einem sozialisierten Staat schlug sich u. a. auch in einem nennenswerten Ausbau des Sonderschulwesens in der Bundesrepublik nieder. Die Automatisation beruhte auf den Erkenntnissen der Kybernetik. Wir waren an der Humboldt-Universität zu Berlin bestrebt, dieses Wissen ebenso wie Anochins Vorstellungen von den funktionellen Systemen, welche die Eigenschaft der Selbstregulation aufweisen, gemeinsam mit Philosophen, Psychologen und Informatikern auch für die Entwicklung der Rehabilitationspädagogik nutzbar zu machen. Unsere Einsichten führten mit Wessel, Tembrock u. a. zu dem Postulat, den Menschen stets 242 VHN 3/ 2005 Die Gunst der dritten industriellen Revolution Klaus-Peter Becker Trend Für jedes Heft wird ein Repräsentant oder eine Repräsentantin eines heilpädagogischen Fachgebiets dazu eingeladen, einen persönlich gefärbten Kurzbeitrag zu voraussichtlichen Trends der kommenden Jahre in Forschung, Theorie und Praxis zu verfassen. In den ersten Nummern der neuen VHN lassen wir nochmals einige Personen zu Wort kommen, welche die deutschsprachige Heilbzw. Sonderpädagogik in früheren Jahrzehnten maßgeblich geprägt haben. als biopsychosoziale Einheit zu betrachten. Dank dieser Einsichten gelang es, einseitig biologisierende, psychologisierende, soziologisierende Betrachtungsweisen, von denen wir in unserer Arbeit zeitweilig auch nicht frei waren, zu überwinden. Die dritte industrielle Revolution setzt mit der Erfindung und Einführung der Mikroprozessoren ein und mündet in die aktuelle Computerisierung der Industrie und weiter Teile der Gesellschaft. Das Arbeitsmittel Computer führt zu Veränderungen, die die Automatisierung potenzieren und deren Folgen noch weit übertreffen. Wir sind in diese Entwicklung eingebunden und beeinflussen sie in unserer Wissenschaftsdisziplin in einem förderlichen oder hemmenden Sinne. Dieser Konstellation gilt mein Augenmerk im Hinblick auf die länderüberschreitende fachwissenschaftliche Kommunikation. Zweifellos gehört es heutzutage zum Vorzug des Computers, dass die wissenschaftliche Kommunikation selbst über große Entfernungen in Echtzeit vollzogen werden kann. Die digitale Speicherung von Erkenntnissen in Bibliotheken sowie der unkomplizierte Zugriff darauf helfen, den Erkenntnisumschlag ungeheuer zu beschleunigen, allerdings unter der Voraussetzung, dass die allgemein- und die fachsprachliche Verständigung möglich sind. Die allgemeinsprachliche wird in zunehmendem Maße in Englisch abgewickelt. Die fachsprachliche erweist sich in dem Maße schwieriger, in dem der Anspruch an das gegenseitige fachwissenschaftliche Verständnis wächst. Naturwissenschaftlern gereicht zum Vorteil, dass sie in ihren Fachsprachen mit streng definierten Termini arbeiten und unter gar keinen Umständen deren Eindeutigkeit stilistischen Neigungen opfern. Im Gegensatz dazu herrscht unter Pädagogen, gleich welcher Wissenschaftsdisziplin, kein vergleichbares Anspruchsniveau. Die deutschsprachige Behindertenpädagogik - oder wie die Bezeichnungen lauten mögen - hat ihren terminologischen Apparat bei weitem nicht verbindlich definiert. Er ist bestenfalls in Teilen funktional äquivalent. Die fachliche Verständigung wächst sich erst recht zum Problem aus, wenn die Fachsprachen zum Bestand anderer Fremdsprachen zählen. Diese Schwierigkeiten wurden schon vor Jahren erkannt. Die UNESCO hat 1977 und 1983 Bemühungen zu ihrer Überwindung angestrengt. Parallel dazu hat eine an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelte Forschungsgruppe mit Fachwissenschaftlern Bulgariens, der DDR, Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns, der UdSSR und der USA einen Vergleichenden Fachwortschatz erarbeitet, der allerdings infolge der turbulenten Umstände der Vereinigung Deutschlands nicht mehr zur Veröffentlichung gelangte. F. Albrecht (Görlitz), K. Bundschuh (München), A. Bürli (Zürich), A. Erdely (Budapest) und F. Klein (Bratislava) initiierten im Oktober 2004 in Görlitz das Symposium „Aspekte internationaler Heil-/ Sonderpädagogik.“ Es bot angesichts des im Mai 2004 vollzogenen Beitritts osteuropäischer Länder zur EU die Gelegenheit, das Forschungsergebnis im Sinne eines kulturhistorischen Zeitdokuments vorzustellen. Darüber hinaus erkannten die Teilnehmenden sowohl die methodologischen Prämissen als auch die Erarbeitungsmodalitäten als eine aktuelle Herausforderung und diskutierten sie lebhaft. Die Forderungen nach terminologischer Verbindlichkeit und Eindeutigkeit innerhalb einer Fachsprache müssen keineswegs zu deren Erstarrung führen, wie sie Skeptiker befürchteten. Die Symposiumsbesucherinnen und -besucher erblickten in der Vielfalt der derzeitigen Wortschöpfungen vielmehr einen Ausdruck von Kreativität. Dabei muss das eine das andere nicht ausschließen, sofern neue Begriffe nicht beliebig gebraucht, gegenüber bisherigen Erkenntnissen und deren terminologischer Fassung klar abgegrenzt und ihrerseits als Ausdruck neuer Erkenntnisse eindeutig fixiert werden. Anderenfalls disqualifiziert sich unsere Disziplin im Ensemble der Wissenschaften ganz im Sinne: „Mit Worten lässt sich trefflich streiten …“ Die Gunst der dritten industriellen Revolution 243 VHN 3/ 2005 Die Beitrittsländer sind nicht allein Begünstigte der EU. Sie verfügen in unserer Wissenschaftsdisziplin ihrerseits über einen beachtenswerten Schatz an Erkenntnissen und Erfahrungen, die im westeuropäischen Sprachraum vielfach unbekannt sind. Das liegt vor allem an den Sprachbarrieren, von Voreingenommenheiten abgesehen. Deshalb herrschte auf dem Symposium auch insofern Übereinstimmung, dass eine Wissenschaftsdisziplin Vergleichende Heil-/ Sonderpädagogik ohne einen Vergleichenden Fachwortschatz nicht auskommen wird. Wir sollten die Errungenschaften der dritten industriellen Revolution überhaupt stärker zugunsten einer internationalen Forschungskooperation mit den Beitrittsländern nutzen. Sie verspricht selbst bei knapper werdenden Ressourcen eine steigende Effektivität zum Vorteil aller, sofern gegenseitiges Verständnis hergestellt wird. Literatur Heinicke, S. (1912): Samuel Heinickes gesammelte Schriften. Leipzig Ijsseling, S. (1997): Technologie, Biologie und Geschichte. In: Illustrierte Geschichte der Philosophie. Bern/ München/ Wien Schmid, C. (1956): In: SPD Bundesvorstand (Hrsg.): Mensch und Technik. Bonn, 7 - 56 Prof. Dr. habil. Klaus-Peter Becker Buntzelstrasse 48 D-12526 Berlin Klaus-Peter Becker 244 VHN 3/ 2005