Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2005
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Erwachsenenbildung, salutogenetisches Denken und heilpädagogisches Handeln
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2005
Reinhard Burtscher
Mit dem vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, der Beliebigkeit in der Erwachsenenbildung entgegenzutreten und einen neuen theoretischen Rahmen zu konstruieren. Erwachsenenbildung in der Heilpädagogik wird unter analytischer und programmatischer Perspektive dargestellt. Der Autor adaptiert den theoretischen Rahmen des Modells der Salutogenese von Aaron Antonovsky (1923–1994) für Erwachsenenbildung und gibt praktische Beispiele für die heilpädagogische Arbeit. Das Kohärenzgefühl mit seinen drei Dimensionen Verstehbarkeit, Gestaltbarkeit und Sinnhaftigkeit bildet den inhaltlichen Schwerpunkt des Textes. Es geht um die Konsistenz von Lebenserfahrungen, um eine Balance von Über- und Unterbelastung sowie um die Partizipation (Teilhabe) an Entscheidungsprozessen. Ein weiteres Ziel des Autors liegt darin, den Austausch von salutogenetischem Denken fachübergreifend zwischen den Gesundheitswissenschaften und der Heilpädagogik anzuregen.
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1 Begriffsbestimmung der Erwachsenenbildung Erwachsenenbildung als Begriff unterliegt verschiedensten Definitionsmöglichkeiten. Im vorliegenden Text werden zuerst die einzelnen Grundbegriffe (Erwachsene, Bildung, Erwachsenenbildung) kurz charakterisiert. Als zentrales Merkmal des Erwachsen-Seins in unserem Kulturraum gilt ein „hoher Grad an Selbständigkeit und Selbstbestimmung“ (Hurrelmann 2004, 29). Selbständigkeit und Selbstbestimmung sind beeinflusst durch gesellschaftliche Wertvorstellungen und wirtschaftliche Verhältnisse. Heute stellen Soziologen fest, dass das Erwachsenwerden immer länger dauert. Der Auszug aus dem Elternhaus, ein unabhängiger finanzieller Status, der ein entsprechendes Konsum- und Freizeitverhalten nach sich zieht, sowie der feste Aufbau einer Partnerbeziehung mit der Möglichkeit einer Familiengründung liegen 288 Erwachsenenbildung, salutogenetisches Denken und heilpädagogisches Handeln Reinhard Burtscher Kath. Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) ■ Zusammenfassung: Mit dem vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, der Beliebigkeit in der Erwachsenenbildung entgegenzutreten und einen neuen theoretischen Rahmen zu konstruieren. Erwachsenenbildung in der Heilpädagogik wird unter analytischer und programmatischer Perspektive dargestellt. Der Autor adaptiert den theoretischen Rahmen des Modells der Salutogenese von Aaron Antonovsky (1923 - 1994) für Erwachsenenbildung und gibt praktische Beispiele für die heilpädagogische Arbeit. Das Kohärenzgefühl mit seinen drei Dimensionen Verstehbarkeit, Gestaltbarkeit und Sinnhaftigkeit bildet den inhaltlichen Schwerpunkt des Textes. Es geht um die Konsistenz von Lebenserfahrungen, um eine Balance von Über- und Unterbelastung sowie um die Partizipation (Teilhabe) an Entscheidungsprozessen. Ein weiteres Ziel des Autors liegt darin, den Austausch von salutogenetischem Denken fachübergreifend zwischen den Gesundheitswissenschaften und der Heilpädagogik anzuregen. Schlüsselbegriffe: Erwachsenenbildung, Salutogenese, Lebensqualität ■ Adult Education, Salutogenic Thinking and Special Educational Acting Summary: In his article, the author tries to work against the arbitrariness of adult education and to construct a new theoretical framework. He describes adult education for disabled persons from an analytic and programmatic point of view. He adapts the theory of the salutogenic model by Aaron Antonovsky (1923 - 1994) to adult education and illustrates his arguments with several practical examples. The text focuses on the sense of coherence with its three dimensions: sense of comprehensibility, sense of manageability and sense of meaningfulness. Sense of coherence means the consistency of life experiences, the balance between stress overload and stress underload as well as the participation in the decision-making process. As a „well-being model“, the three dimensions can make a contribution to the quality of life. The author aims at initiating a multidisciplinary exchange of salutogenic thinking between health sciences and special education. Keywords: Adult education, salutogenic model, quality of life Fachbeitrag VHN, 74. Jg., S. 288 -296 (2005) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel in der Biografie von Menschen viel später als vor 30 Jahren. Bildung als Begriff des Humanismus will dem Menschen einen bewussten Zugang zu gesellschaftlich-kulturellen Kontexten verschaffen und damit ein weit reichendes Verständnis von der Welt und der eigenen Stellung in ihr entwickeln. Bildung beinhaltet das Spannungsverhältnis zwischen Anpassung und Emanzipation. Es geht um eine „individuelle Höherentwicklung des Menschen“ und um die Überwindung von kritisierten gesellschaftspolitischen Verhältnissen (vgl. BMBF 2004, 21). In diesem Sinn ist Bildung unabschließbar und lebensbegleitend bis zum Tod. Wenn Hentig (1996) ausruft „Alles ist Bildung! “, dann verweist er darauf, dass „der Mensch ein - wundersam und abscheulich - plastisches Wesen ist: veränderbar, beeinflussbar, reduzierbar, steigerungsfähig auch gegen seinen Willen, gegen seine Einsicht, gegen seine Natur“ (Hentig 1996, 15). Diese Chance und Gefahr verlangt Bildungsmaßstäbe, die der Autor in eindrücklicher Weise formulierte. Übertragen in die heilpädagogische Praxis kann das Prinzip „Alles ist Bildung“ missbraucht werden. Wenn beliebige Handlungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe als Angebote der Erwachsenenbildung umgedeutet werden, dann ist die Professionalität heilpädagogischer Arbeit in Frage zu stellen. Mit dem vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, der Beliebigkeit in der Erwachsenenbildung entgegenzutreten und einen neuen theoretischen Rahmen zu konstruieren. Erwachsenenbildung bzw. Weiterbildung werden als Begriffe vielfach synonym verwendet (vgl. Tippelt 1999, 12). Die Kultusministerkonferenz (KMK) definiert Erwachsenenbildung bzw. „Weiterbildung [als] die Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase und in der Regel nach Aufnahme einer Erwerbs- oder Familientätigkeit“ (KMK 2001, 4). Mit „organisiertem Lernen“ wird der Beliebigkeit des Bildungsbegriffs entgegengetreten. Mit dem Verweis auf den Abschluss der ersten Bildungsphase sowie der Nennung von Erwerbs- und Familientätigkeit wird der Bezug zum Erwachsen-Sein hergestellt. Traditionell umfasst die Erwachsenenbildung drei Aufgaben (vgl. Tippelt 1999, 12): a) qualifizierende Aufgaben im Sinne einer beruflichen Weiterbildung, b) kulturelle Aufgaben, die Geschichte, Gesellschaft, Politik, Kunst und Kultur fokussieren und c) eine sozial integrierende Aufgabe, in der individuelle Handlungs- und Reflexionsmöglichkeiten erweitert werden (im Sinne von Persönlichkeitsbildung). Die Erwachsenenbildung in der Heilpädagogik ist im Verhältnis zur allgemeinen Erwachsenenbildung in den Erziehungswissenschaften ein junges Themengebiet. Großes Aufsehen und Beachtung fanden die ersten Kurse für Menschen mit körperlichen Behinderungen an Volkshochschulen in den 70er Jahren, geleitet von Klee und Steiner in Frankfurt am Main, Schuchardt in Hannover sowie Hambitzer in Nürnberg (vgl. Theunissen 2003, 46). In der Folge wuchs das Bewusstsein um Erwachsenenbildung in der Heilpädagogik an. Behinderteneinrichtungen organisierten meist im Rahmen von Freizeitangeboten verschiedene, meist separate Kurse. 1989 gründete sich die „Gesellschaft zur Förderung der Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.“, die seit 1994 „Gesellschaft Erwachsenenbildung und Behinderung e.V.“ heißt. Sie ist die einzige länderübergreifende Organisation in Deutschland, die sich explizit mit diesem Thema befasst. Mit der Integrationsdiskussion in der Schule entwickelten sich auch im Bereich der allgemeinen Erwachsenenbildung gemeinsame Kurse für Menschen mit und ohne Behinderung (vgl. Lindmeier u.a. 2000). Heute stellt sich verstärkt die Frage nach einer inklusiven Erwachsenenbildung (vgl. Schnell/ Sander 2004). Erwachsenenbildung, salutogenetisches Denken und heilpädagogisches Handeln 289 VHN 4/ 2005 Der politisch und pädagogisch formulierte Anspruch nach gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderung führt dazu, dass dem Bereich der Erwachsenenbildung in der Heilpädagogik in Zukunft größere Bedeutung zukommen wird. Will man das Risiko von beruflicher und sozialer Ausgrenzung verhindern, dann sind Bildungsangebote im Sinne von lebenslangem Lernen für alle Menschen unumgänglich (vgl. Forum Bildung 2001, 11). 2 Das Salutogenese-Modell Salutogenese ist zusammengesetzt aus dem lateinischen Salus/ salutis, was soviel bedeutet wie Wohlbefinden, Gesundheit, Wohlfahrt, Heil, Glück, Rettung. Das Verb salveo bedeutet „Ich befinde mich wohl“. Genese meint Entstehung, Entwicklung. Drei Gründe sprechen dafür, das Salutogenese-Modell von Aaron Antonovsky (1923 - 1994) aus den Gesundheitswissenschaften in die Heilpädagogik zu übertragen: 1. In der Heilpädagogik ist die Kategorie „Wohlbefinden“ von zentraler Bedeutung (vgl. das Konzept Lebensqualität bei Beck 1992, Seifert u.a. 2001). In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der sich scheinbar alles um die maximale Leistungs- und Gewinnsteigerung dreht, bietet das „Wohlbefinden-Modell“ einen Beitrag zur Lebensqualität. 2. Erwachsenenbildung als Fachdisziplin ist ohne das Thema Gesundheitsförderung nicht denkbar. Ein Großteil der Erwachsenenbildungsangebote zählt zum Bereich Gesundheit. Dies wird deutlich, wenn man Volkshochschulprogramme auswertet. 3. In der Heilpädagogik wird das angesprochene Modell wenig diskutiert. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Gesundheitswissenschaften wird aber in Zukunft bedeutsamer, u. a. weil die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung ansteigt. Antonovsky hat sich in der Tradition der Stress- und Bewältigungsforschung intensiv mit der Frage beschäftigt: Was erhält den Menschen gesund? Daraus hat er das Modell der Salutogenese entwickelt. Der Begriff des Kohärenzgefühls (sense of coherence - SOC) bildet das Kernstück seines Modells. Es setzt sich aus drei Dimensionen zusammen (vgl. BZgA 2001, 29f): • Verstehbarkeit - sense of comprehensibility Das Gefühl von Verstehbarkeit ist als kognitives Verarbeitungsmuster beschrieben, das den Menschen befähigt, bekannte und unbekannte Stimuli als geordnete, konsistente und strukturierte Information zu verarbeiten. Anstelle einer chaotischen, zufälligen oder unerklärlichen Welt werden Zusammenhänge erkennbar. • Gestaltbarkeit (Handhabbarkeit, Bewältigbarkeit 1 ) - sense of manageability Das Gefühl der Gestaltbarkeit setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit das Individuum als Person selbstwirksame 2 Handlungen setzen kann (kognitiv-emotionales Verarbeitungsmuster). Es geht darum, Herausforderungen des Lebens bewältigen zu können und dabei auf geeignete Ressourcen zurückzugreifen. Dazu zählt auch der Glaube an die Hilfe anderer Menschen oder einer höheren Macht. Bedeutsam ist die Erfahrung, dass die Möglichkeit des Einflusses gegeben ist. Der Mensch erkennt seine Macht, seine Wirkung, seine Kraft - seine Fähigkeit zur Gestaltung. • Sinnhaftigkeit (Bedeutsamkeit) - sense of meaningfulness Das Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit spiegelt sich wider in der Grundhaltung: „Das Leben macht Sinn! “ Antonovsky gibt dieser Komponente den höchsten Stellenwert. Sie beschreibt das „Ausmaß, in dem das Leben als emotional sinnvoll empfunden [wird]: Dass wenigstens einige der vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, dass man Reinhard Burtscher 290 VHN 4/ 2005 Energie in sie investiert, dass man sich für sie einsetzt und sich ihnen verpflichtet, dass sie eher willkommene Herausforderungen sind als Lasten, die man gerne los wäre“ (Antonovsky 1997, 36). Die drei Dimensionen korrelieren miteinander und sind lediglich aus analytischer Sicht getrennt. Sie werden beeinflusst durch individuelle Ressourcen (z. B. materielle Gegebenheiten, Ich-Stärke, soziale Beziehungen, Religion, genetische Ressourcen) und die folgenden drei Bedingungen: a) Jeder Mensch braucht eine stabile und zusammenhängende Welterfahrung. Erkennbar wird dies dadurch, dass ein bestimmtes Verhalten einer Person zu gleichen Konsequenzen führt oder dass bestimmte Reaktionen auf Sozialverhalten vorwegnehmbar sind. Dadurch wird Welterfahrung konsistent - sie wirkt geordnet und erhält eine lebensförderliche Struktur. Durch die Konsistenz von Lebenserfahrungen wird die Welt verstehbar. Folglich können sich planbare Lebensperspektiven entwickeln und ein Lebenssinn formen. b) Antonovsky suchte nach der geeigneten Balance zwischen Über- und Unterbelastung. Er war überzeugt, dass die Deprivationsforschung (z. B. Spitz/ Cobliner 1967) analog auch für Erwachsene gilt. Leben wird nicht nur dann zur Belastung, wenn der Mensch Stress durch Überbelastung erfährt, sondern auch, wenn sich keine Anforderungen stellen. „Zu Tode langweilen“ ist nicht nur ein Sprichwort, sondern kann zur grausamen Realität werden. Einiges spricht nach Ansicht von Antonovsky dafür, dass eine leichte Überforderung oder Überbelastung der menschlichen Entwicklung förderlich ist (vgl. Jacobs 2000, 134). c) „Participation in decision-making“ lässt sich als Teilhabe am Entscheidungsgeschehen übersetzen. Selbst wenn das Leben sich einigermaßen als konsistent und ausbalanciert erweist, bleibt die entscheidende Frage nach dem Sinn. „Es muss sich in irgendeiner Weise lohnen“, oder vorsichtiger ausgedrückt: Der Mensch muss darauf hoffen können oder eine Ahnung (ver-)spüren, dass es Sinn macht, aktiv zu sein oder zu werden. Die Teilhabe am Entscheidungsgeschehen unterstützt oder hemmt das Kohärenzgefühl wesentlich. Deutlich wird dies im Satz: „Ich weiß, was zu tun ist, ich könnte es tun und würde es gerne tun! - aber warum sollte ich, denn das Sagen haben ja doch die anderen! “ (Jacobs 2000, 135) Was hat dies alles mit Erwachsenenbildung zu tun? Nachdem ein theoretisches Modell im Sinne einer analytischen Perspektive skizziert wurde, folgt der Wechsel zur programmatischen Perspektive. Dabei geht es um die Gestaltung von Erwachsenenbildung: Worauf sollte sich Erwachsenenbildung in der Heilpädagogik konzentrieren? Anhand der drei Dimensionen werden im Folgenden Methoden und heilpädagogisches Handeln präzisiert. 3 Erwachsenenbildung und salutogenetisches Denken 3.1 Zur Dimension Verstehbarkeit Angebote in der Erwachsenenbildung bei Menschen mit Behinderung sollten danach streben, die Welt verständlicher zu machen. Was kann helfen, die Welt zu ordnen, zu strukturieren oder weniger bruchstückhaft zu erleben? Vielleicht ist es die Anwendung von „leichter Sprache“ - eine Forderung und ein Leitprinzip in People First Gruppen 3 . Vielleicht ist es die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper oder der Kategorie Behinderung. Theunissen (2003, 79) spricht in der praktischen Arbeit der Erwachsenenbildung von „Unterstützung/ Begleitung der Sachwelterschließung“. Dieser Prozess ist nie ganz abgeschlossen. Beispielsweise verlangen neue technische Geräte Gebrauchsan- Erwachsenenbildung, salutogenetisches Denken und heilpädagogisches Handeln 291 VHN 4/ 2005 leitungen und Übungszeiten. Ein Angebot für Menschen mit geistiger Behinderung könnte lauten: „Das Mobiltelefon - Wie gebrauche ich ein Handy“. So kann Sachwelterschließung zum Gegenstand und Bildungsinhalt in der Erwachsenenbildung werden. Die Dimension „Verstehbarkeit“ setzt voraus, dass Interesse und Neugierde vorhanden sind oder geweckt werden. „Erkundungs- und Erschließungslernen“ (Dohmen 2000, 765), als handlungsorientiertes, lebenslanges Lernen umgesetzt, kann gerade zur gewünschten Verstehbarkeit von Welt führen. 3.2 Zur Dimension Gestaltbarkeit, Handhabbarkeit, Bewältigbarkeit Erwachsenenbildung soll sich mit einem positiven Selbstbild der Handlungsfähigkeit befassen. Die Erfahrung, selbst wirksam sein zu können, stärkt nicht nur im Sinne des Modells der Salutogenese das Kohärenzgefühl einer Person, sondern motiviert für Bildungsprozesse. Ein Beispiel aus dem Bereich der Unterstützten Kommunikation verdeutlicht diesen Prozess: Wenn ein Mensch mit schwerer Behinderung eine Taste drückt und dabei erfährt, dass etwas geschieht, dass er es selbst in der Hand hat, dann eröffnet sich ein neues Spektrum an Lernchancen. Ein anderes Beispiel findet sich in der Gründung und im Aufbau von sozialen Netzwerken und Selbsthilfegruppen. Erwachsene Menschen kommen zusammen, um aktiv zu werden und politische Wirkungskraft zu erzeugen. Diese Dimension umfasst die Herausforderung, die wechselnden Lebensphasen bewältigen zu können: Viele Menschen mit Lernschwierigkeiten benötigen beispielsweise Unterstützung, um die Erwachsenen-Rolle nach ihren Möglichkeiten auszufüllen. Die unterschiedlichen Lebensfelder Wohnen, Arbeit, Freizeitgestaltung, Freundschaft, Partnerschaft, Ablösung vom Elternhaus bieten zahlreiche Erfahrungsräume, in denen offene Fragen bewältigt werden müssen. Theunissen (2003, 52) spricht von „individuellen und kollektiven Schlüsselthemen, die zugleich auch eine gesellschaftliche Relevanz haben (Akzeptanz eines gemeindeintegrierten Wohnens ...)“. 3.3 Zur Dimension Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit Sich zu bilden, neu zu lernen oder wieder zu lernen ist eine Herausforderung für jeden Menschen. Der dafür benötigte Kraftaufwand, die Investitionen und das Engagement müssen sich lohnen. In der Lebenswelt erwachsener Menschen mit Behinderung werden nicht selten durch diese Dimension strukturelle Bedingungen in Frage gestellt. Das Kursangebot Kochen für Menschen mit Behinderung in einem Wohnheim macht Sinn, wenn im Alltag die Möglichkeit zum Kochen besteht und eine Zentralversorgung eben nicht alle ausnahmslos versorgt (vgl. Scharte/ Oberste- Ufer 2001, 227). Angebote der Erwachsenenbildung sollten sich mit Themen beschäftigen, die alltägliche und tiefgehende Sinnfragen erforschen. Wofür lohnt es sich zu leben? Wie gelingt es, die Wünsche und Träume von Menschen mit Behinderung zu erkennen und zu verwirklichen? Wie lassen sich Selbstbestimmung und Mitgestaltung umsetzen, um Sinn im Leben zu erkennen, zu erweitern oder zu vertiefen? Die Persönliche Zukunftsplanung (PZP) kann eine geeignete Methode für die Erwachsenenbildung darstellen, weil sie sich mit individuellen Wünschen und Träumen auseinandersetzt 4 . Wer sich auf diesen Planungsprozess einlässt, erfährt bedeutsame Gestaltungsmöglichkeiten im Leben. Biografiearbeit, die hilft, trotz aller Brüche und Krisen „eine Kontinuität des Erlebens von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft [zu] ermöglichen“ (Lindmeier 2004, 42), bietet ein weiteres Handlungsfeld. Im Grunde genommen geht es in dieser Dimension um Identitätsarbeit. Keupp (2004, 11) meint, dass „Identitätsarbeit als Bedingung und als Ziel die Schaffung von Lebenskohärenz hat.“ Reinhard Burtscher 292 VHN 4/ 2005 Abbildung 1 verdeutlicht den theoretischen Rahmen des Konzepts und skizziert mögliche Inhalte für die heilpädagogische Arbeit. Zwischen dem Einfluss der allgemeinen Bedingungen (Überschaubarkeit, Belastung und Teilhabe) und den drei Dimensionen des Kohärenzgefühls finden sich Beispielthemen für die Erwachsenenbildung bei Menschen mit Behinderung. 4 Konsequenzen für die Erwachsenenbildung Mit dem Wissen um das Salutogenese-Modell können sich in der Erwachsenenbildung von Menschen mit Behinderung neue Konsequenzen ergeben. Bisher sind keine Texte zu Untersuchungen oder Projekten veröffentlicht, die sich im Bereich der Heilpädagogik direkt auf das Modell von Antonovsky beziehen 5 . Aus Sicht des Autors sollten in der Zukunft zumindest drei Gedanken beachtet werden: 1. Erwachsenenbildung von Menschen mit Behinderung ist nicht nur eine pädagogische Aufgabe, welche die Lernentwicklung unterstützt. Erwachsenenbildung ist auch eine Aufgabe im Rahmen der Gesundheitsfürsorge. Die präventiven Wirkungen auf die Gesundheit beeinflussen das Wohlbefinden und die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung. 2. Das Salutogenese-Modell liefert zusätzliche Argumente für die Finanzierung von Projekten in der Erwachsenenbildung von Menschen mit Behinderung. Vor dem Hintergrund reduzierter Budgets in der Erwachsenenbildung bieten sich nicht nur Förderprogramme der Bildung, sondern auch der Gesundheit an. Vielleicht gelingt es, neue Finanzierungsquellen zu erschließen, wenn die gesundheitsförderlichen Aspekte der Erwachsenenbildung fokussiert werden. 3. Das Salutogenese-Modell mit den drei Dimensionen (Verstehbarkeit, Gestaltbarkeit, Erwachsenenbildung, salutogenetisches Denken und heilpädagogisches Handeln 293 VHN 4/ 2005 Abb. 1: Zusammenfassende Darstellung Sinnhaftigkeit) kann als Qualitätsinstrument die professionelle Arbeit in der Heilpädagogik bereichern. Es bietet Handlungsorientierung für die Praxis. Experten und Professionelle im Bereich der Behindertenhilfe können anhand der Dimensionen ihre Arbeit überprüfen und weiterentwickeln. Die Leitprinzipien der Heilpädagogik wie z. B. Empowerment, Selbstbestimmung oder Normalisierung werden vertieft. An der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) wurden im Wintersemester 2004/ 2005 erste Projekterfahrungen gesammelt, die sich spezifisch mit dem Salutogenese- Modell auseinandersetzten. Im Rahmen eines Theorie-Praxis-Projekts wurden erwachsene Menschen mit Behinderung von Studierenden als Assistentinnen und Assistenten für Bildung und Freizeit begleitet. Deutlich wurde, dass die Beschäftigung mit Antonovskys Modell Auswirkungen auf die Assistenz hatte. Die Studierenden fühlten sich im Beziehungsverhältnis näher bei den Menschen, die sie begleiteten, weil sie die Dimensionen des Kohärenzgefühls berücksichtigten. Sie schrieben pädagogische Tagebücher und führten regelmäßig Kleingruppengespräche, um ihre Erfahrungen zu reflektieren. Gleichzeitig aktualisierte das salutogenetische Denken in der Assistenz eigene Bedürfnisse und führte zurück zur eigenen Person. Studierende begannen sich plötzlich selbst zu fragen: Wie kann ich unverständliche Dinge in meinem Leben ordnen und strukturieren? Was brauche ich? Sie berichteten unter dem Aspekt von Selbstwirksamkeit aus ihrem eigenen Leben und fragten sich, welche Bedeutung diese Erfahrungen für die eigene Entwicklung möglicherweise haben könnten? Sie überlegten, wie sie aktuell die eigene Erfahrung von Selbstwirksamkeit in ihrem Leben erhöhen könnten. Manche zogen auch eine Halbzeitbilanz im Studium: Lohnt sich die Anstrengung des Studiums wirklich? Für wen oder was mache ich das überhaupt? 5 Zusammenfassung und Ausblick Salutogenetisches Denken in der Heilpädagogik kann als Konstrukt analytische Kategorien benennen und stellt sich damit der Beliebigkeit einer „Alles ist Bildung“-Grundhaltung entgegen. Mit den drei Dimensionen Verstehbarkeit, Gestaltbarkeit und Sinnhaftigkeit können Erfahrungen vertieft werden, denen ein selbstwirksames Handeln zugrunde liegt. Damit wird das Kohärenzgefühl einer Person gestärkt und - vielleicht in einem weiteren Schritt - die Selbstsorge eines Menschen gefördert. Krassnig verweist darauf, dass bereits Foucault die Selbstsorge („le souci de soi“) als zentrales Thema einer Ethik der Lebenskunst aufgegriffen hat. Sie schreibt: „Selbstsorge steht für eine Haltung und ein Verhalten eines Menschen, der es unternimmt, das eigene Leben zu gestalten, es nicht an fremden Normen und Vorstellungen zu orientieren, sondern ihm eine unverwechselbare ästhetische Form zu geben“ (Krassnig 2004, 75). Könnte Erwachsenenbildung den Rahmen bieten, um Lebenskunst und Selbstsorge zu initiieren und einzuüben? Vielleicht steckt darin eine neue Herausforderung für die Heilpädagogik. Anmerkungen 1 Die deutsche Übersetzung ist nicht einheitlich (vgl. Jakobs 2000, 117). 2 Der Begriff „selbstwirksam“ wird von Antonovsky nicht verwendet. Ergänzend siehe Selbstwirksamkeitstheorie nach Bandura 1997. 3 Netzwerk People First Deutschland e.V.: Online im Internet: www.people1.de. People First Deutschland ist ein Verein zur Förderung der Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten. 4 Online im Internet: http: / / www.persoenliche-zukunftsplanung.de/ oder Doose/ Emrich/ Göbel 2004 5 Eine Recherche in folgenden Zeitschriften der letzten fünf Jahre kam zu keinem Ergebnis: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Behindertenpädagogik: Vierteljahresschrift für Behindertenpädagogik in Praxis, Forschung und Lehre und Integration Behinderter. Erwachse- Reinhard Burtscher 294 VHN 4/ 2005 nenbildung und Behinderung. Fachzeitschrift Geistige Behinderung. Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung. Heilpädagogik online. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik. Sonderpädagogik - Vierteljahreszeitschrift über aktuelle Probleme der Behinderten in Schule und Gesellschaft. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN). ZB - Online: Zeitschrift für behinderte Menschen im Beruf. Zeitschrift für Heilpädagogik. Literatur Antonovsky, Aaron (1993): Gesundheitsförderung versus Krankheitsforschung. In: Franke, Alexa; Broda, Michael (Hrsg.): Psychosomatische Gesundheit. Versuch einer Abkehr vom Pathogenese-Konzept. Tübingen: dgvt, 3 - 14 Antonovsky, Aaron (1997): Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Dt. erweiterte Herausgabe von Alexa Franke. Tübingen: dgvt Bandura, Albert (1997): Self-efficacy. The exercise of control. New York: Freeman Beck, Iris (1992): Normalisierung und Lebensqualität: Zielperspektiven und Beurteilungsfragen. In: Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte (Hrsg.): Qualitätsbeurteilung und -entwicklung von Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung. Marburg: Lebenshilfe Verlag, 11 - 35 Bundesministerium für Bildung und Forschung (2004): Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht - Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin: BMBF Referat Publikationen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.) (2001): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese - Diskussionsstand und Stellenwert. Band 6. Erweiterte Neuauflage. Köln: BZgA Dohmen, Günther (2000): 12 Eckpunkte zur Entwicklung lebenslangen Lernens. In: Forum Bildung. Erster Kongress des Forum Bildung am 14. und 15. Juli 2000 in Berlin. Tagungsdokumentation. Bonn: Arbeitsstab Forum Bildung in der Geschäftsstelle der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung Doose, Stefan; Emrich, Carolin; Göbel, Susanne (Hrsg.) (2004): Käpt’n Life und seine Crew. Ein Arbeitsbuch zur Persönlichen Zukunftsplanung. Kassel: Netzwerk People First Deutschland e.V. Forum Bildung (2000): Erster Kongress des Forum Bildung am 14. und 15. Juli 2000 in Berlin. Tagungsdokumentation. Bonn: Arbeitsstab Forum Bildung in der Geschäftsstelle der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung Foucault, Michel (1986): Sexualität und Wahrheit. Band 3. Die Sorge um sich. Frankfurt am Main: Suhrkamp Hentig von, Hartmut (1996): Bildung - Ein Essay. München/ Wien: Carl Hanser Verlag Hurrelmann, Klaus (2004): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. 7., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim/ München: Juventa Jacobs, Christoph (2000): Salutogenese. Eine pastoralpsychologische Studie zu seelischer Gesundheit, Ressourcen und Umgang mit Belastung bei Seelsorgern. Würzburg: Echter Verlag Keupp, Heiner (2004): Sich selber finden - Identitätskonstruktionen heute und welche Ressourcen in Familie und Gesellschaft sie benötigen. Online im Internet: http: / / www.ipp-muenchen. de/ texte/ sich_selber_finden.pdf [Stand: 7. 12. 2004] Krassnig, Katharina (2004): Bildung zur Selbstsorge als wesentlicher Beitrag zur Gesundheitsförderung. In: Mikula, Regina (Hrsg.): Bildung im Diskurs. München/ Wien: Profil-Verlag Kultusministerkonferenz (Hrsg.) (2001): Vierte Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Weiterbildung (Beschluss der KMK vom 1. 2. 2001). Online im Internet: http: / / www.kmk. org/ doc/ beschl/ vierteweiterb.pdf [Stand: 6. 12. 2004] Lindmeier, Bettina; Lindmeier, Christian; Ryffel, Gaby; Rick Skelton (Hrsg.) (2000): Integrative Erwachsenenbildung für Menschen mit Behinderung. Praxis und Perspektiven im internationalen Vergleich. Neuwied/ Kriftel/ Berlin: Luchterhand Lindmeier, Christian (2004): Biografiearbeit mit geistig behinderten Menschen. Ein Praxishandbuch für Einzel- und Gruppenarbeit. Weinheim/ München: Juventa Verlag Erwachsenenbildung, salutogenetisches Denken und heilpädagogisches Handeln 295 VHN 4/ 2005 Scharte, Norbert; Oberste-Ufer, Ralf (2001): LEWO II. Lebensqualität in Wohnstätten für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Instrument für fachliches Qualitätsmanagement. Marburg: Lebenshilfe-Verlag Schnell, Irmtraud; Sander, Alfred (Hrsg.) (2004): Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Seifert, Monika; Fornefeld, Barbara; Koenig, Pamela (Hrsg.) (2001): Zielperspektive Lebensqualität. Eine Studie zur Lebenssituation von Menschen mit schwerer Behinderung im Heim. Bielefeld: Bethel-Verlag Spitz, René; Cobliner, Godfrey (1967): Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr. Stuttgart: Klett-Cotta Theunissen, Georg (2003): Erwachsenenbildung und Behinderung. Impulse für die Arbeit mit Menschen, die als lern- oder geistig behindert gelten. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt Tippelt, Rudolf (1999): Handbuch Erwachsenenbildung, Weiterbildung. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Opladen: Leske + Budrich. Wittpoth, Jürgen (2003): Einführung in die Erwachsenenbildung. Opladen: Leske + Budrich Prof. Dr. Reinhard Burtscher Kath. Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) Studiengang Heilpädagogik Köpenicker Allee 39 - 57 D-10318 Berlin Tel.: ++49 (0) 30/ 50 10 10-23 Fax: ++49 (0) 30/ 50 10 10-88 E-Mail: burtscher@khsb-berlin.de Reinhard Burtscher 296 VHN 4/ 2005
