Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2005
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Alkoholkonsum von Menschen mit geistiger Behinderung. Ergebnisse einer landesweiten Erhebung in Sachsen-Anhalt
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2005
Michael Schubert
Georg Theunissen
Immer mehr Mitarbeiter klagen im Zuge der Ausdifferenzierung neuer Wohnformen über die Zunahme der Alkoholprobleme von Menschen mit geistiger Behinderung. Allerdings gibt es hierzu keine gesicherten Erkenntnisse. Daher wurde eine repräsentative Studie durchgeführt, die den Nachweis erbringt, dass Alkoholprobleme bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht kurzschlüssig auf neue (offene) Wohnformen zurückgeführt werden dürfen, sondern eher als ein relativ konstantes, universales Phänomen betrachtet und ernst genommen werden sollten.
5_074_2005_4_0004
Der Konsum von Alkohol ist ein gesellschaftlich weit verbreitetes Phänomen, welches weithin akzeptiert ist und zur Normalität gehört. Im Jahr 2001 betrug in Deutschland der Pro-Kopf- Verbrauch an reinem Alkohol 10,4 Liter (DSH 2003). Dies entspricht - wenn wir Kinder unter 15 Jahren unberücksichtigt lassen - immerhin einem täglichen Alkoholkonsum von 33,6 g pro Person 1 . Zur Behandlung von übermäßigem oder missbräuchlichem Konsum 2 und dessen Folgeschäden stellt unsere Gesellschaft vielfältige Hilfs- und Behandlungsmöglichkeiten bereit. In Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung hat die Thematik Alkoholkonsum bisher wenig Beachtung erfahren, wurde doch viele Jahre davon ausgegangen, dass dieser Personenkreis davon kaum betroffen sei (Theunissen 2004). Inzwischen scheint sich aber die Situation verändert zu haben. Immer mehr Mitarbeiter/ innen 3 in Behinderteneinrichtungen klagen über Alkoholprobleme bei Menschen mit geistiger Behinderung und vertreten die These, dass der Alkoholkonsum bei ihren Bewohnern nicht zuletzt aufgrund der neuen (offenen) Wohnformen im Laufe der Zeit zugenommen habe. Da bisher keine repräsentativen Zahlen und Fakten zur Prävalenz von Alkoholkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung im deutschsprachigen Raum vorliegen, wurde von den Autoren im Jahre 2003 ein entsprechendes Forschungsprojekt durchgeführt (dazu Schubert 2004; 2005). Einige der wichtigsten Ergebnisse möchten wir im Folgenden vorstellen. 312 Alkoholkonsum von Menschen mit geistiger Behinderung Ergebnisse einer landesweiten Erhebung in Sachsen-Anhalt Michael Schubert, Georg Theunissen Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ■ Zusammenfassung: Immer mehr Mitarbeiter klagen im Zuge der Ausdifferenzierung neuer Wohnformen über die Zunahme der Alkoholprobleme von Menschen mit geistiger Behinderung. Allerdings gibt es hierzu keine gesicherten Erkenntnisse. Daher wurde eine repräsentative Studie durchgeführt, die den Nachweis erbringt, dass Alkoholprobleme bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht kurzschlüssig auf neue (offene) Wohnformen zurückgeführt werden dürfen, sondern eher als ein relativ konstantes, universales Phänomen betrachtet und ernst genommen werden sollten. Schlüsselbegriffe: Alkoholkonsum, geistige Behinderung, Wohn- und Werkstätten ■ Alcohol Use of Mentally Retarded Individuals. Results of a Survey in Sachsen-Anhalt/ Germany Summary: In the process of establishing new forms of living, more and more staff members complain about the growing problems with alcohol (ab-)use of mentally retarded individuals. But up to now, there is no reliable proof for this complaint. This empirical study supplies evidence that alcohol problems of individuals with a mental handicap cannot be simply attributed to (open) forms of living, but that they rather have to be considered as a relatively constant universal phenomenon, which has to be taken seriously. Keywords: Alcohol use, mental retardation, residential homes and sheltered workshops Fachbeitrag VHN, 74. Jg., S. 312 -325 (2005) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 1 Untersuchungsmethode 1.1 Beschreibung der Stichprobe und Untersuchungsmethode Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine einrichtungsbezogene Vollerhebung im Land Sachsen-Anhalt. Befragt wurden alle Wohneinrichtungen und Werkstätten für Menschen mit geistiger Behinderung sowie alle Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe hinsichtlich des Alkoholkonsums und des Umgangs mit Alkoholproblemen bei Menschen mit geistiger Behinderung. Die Datenerhebung fand durch schriftliche Befragung mittels fünf verschiedener Fragebögen statt, welche für diesen Zweck speziell entwickelt wurden: • Grunddaten-Fragebögen für Wohneinrichtungen und Werkstätten (WfbM) zur Erfassung institutioneller und allgemeiner Daten zum Themenkreis Alkohol; diese Bögen waren von der Einrichtungsleitung auszufüllen. • Individual-Fragebögen für Mitarbeiter/ innen aus Wohneinrichtungen und Werkstätten (WfbM); diese bezogen sich ausschließlich auf Personen, die aus Mitarbeitersicht als alkoholgefährdet oder -abhängig galten. • Fragebogen für Einrichtungen der Suchthilfe zur Gewinnung von Informationen über zielgruppenbezogene Hilfs- und Behandlungsangebote. Aus Platzgründen können wir darauf nicht näher eingehen. Unsere Darstellung beschränkt sich somit auf Ergebnisse aus der Befragung der Wohneinrichtungen und Werkstätten. Die zum Teil umfangreichen Fragebögen umfassten eine breite Themenpalette, um einerseits allgemeine und andererseits auch spezifische Daten zum Themenkreis Alkoholkonsum von Menschen mit geistiger Behinderung zu ermitteln. Alle Daten wurden über die Mitarbeiter der Einrichtungen bzw. der ambulanten Dienste erhoben. Die Personendaten von Menschen mit geistiger Behinderung entspringen daher alle einer Fremdbeurteilung. Die Informationen wurden überwiegend mittels Rating-Skalen erhoben oder - wenn möglich - direkt erfragt. Die Auswertung der Daten erfolgte mittels des Statistikprogramms SPSS. 1.2 Untersuchungsumfang und Rücklaufquote An der Erhebung nahmen 38 % der 104 angeschriebenen Wohneinrichtungen teil (vgl. Tab. 1). In diesen Institutionen leben insgesamt 2.560 Menschen mit geistiger Behinderung (nach medizinischer und internationaler Klassifikation [IQ bis 70/ 75]). Eine dieser Einrichtungen besteht aus einem großen Wohnverbund, dessen zehn Teile getrennt in die Datenauswertung einflossen (n = 49). Im Weiteren beteiligten sich 36 % der 33 angefragten WfbM an der Befragung. 2 Ergebnisse der Untersuchung Im Zentrum unserer Betrachtung stehen die Fragebögen der Wohneinrichtungen, da über diese die umfassendsten Daten zum Alkoholkonsum erhoben werden konnten. Daher beziehen sich alle Daten (wenn nicht anders angegeben) auf Wohneinrichtungen. Daten aus den WfbM sind kursiv in Klammern gesetzt. Alkoholkonsum 313 VHN 4/ 2005 angeschriebene teilnehmende in % Bewohner/ Mitarbeiter Einrichtungen Einrichtungen mit geistiger Behinderung (Rücklauf) Wohnstätten n = 104 n = 40/ 49 38 % n = 2.560 Werkstätten n = 33 n = 12 36 % n = 2.688 Tab. 1: Rücklaufquote und Bewohner-/ Mitarbeiteranzahl 2.1 Zu den Grunddaten 2.1.1 Regelungen und Bedeutung Wichtig für die Einschätzung des individuellen Alkoholkonsums ist die Frage nach den generellen Regelungen (z. B. Hausordnung) in den Institutionen. In 8 % der Wohneinrichtungen besteht ein striktes Alkoholverbot (WfbM: 91 %). In 13 % der Institutionen ist der Alkoholkonsum nur in Ausnahmefällen (Feste, Feiern) gestattet (WfbM: 9 %), in 21 % wird Alkohol nur sehr selten erlaubt (Feste, Feiern, Geburtstage, besondere Anlässe) und in über der Hälfte der Einrichtungen (52 %) bestehen keine generellen Regelungen (Alkoholkonsum als freie Entscheidung des Einzelnen). Darüber hinaus gelten in 6 % der Einrichtungen spezielle Regelungen. Die Bedeutung des Themas „Alkohol“ in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung wurde dagegen in Wohn- und Werkstätten eher ähnlich eingeschätzt. 15 % der Wohneinrichtungen empfinden die Thematik als „sehr wichtig“ (WfbM: 18 %), 27 % als „wichtig“ (27 %) und 40 % als „bedingt wichtig“(45 %). Nur 18 % (9 %) der Einrichtungen betrachten das Thema als „eher unwichtig“ oder „völlig unwichtig“. 2.1.2 Konsummuster Um Konsummuster bzw. -gewohnheiten hinreichend zu analysieren, sind deren (äußerlich messbare) Aspekte zu differenzieren: erstens die Frage nach der Anzahl von Personen, die regelmäßig Alkohol konsumieren, zweitens die Frage nach der Häufigkeit des Konsums. Beide Aspekte wurden nur im Fragebogen für Wohneinrichtungen erhoben und lassen sich für deren Bewohner wie folgt beantworten (vgl. Tab. 2): 3,7 % der Personen weisen einen täglichen Konsum auf, 4,4 % trinken mehrmals wöchentlich, 10,9 % konsumieren gelegentlich, und 2,4 % trinken überwiegend am Wochenende. Aus der Trinkhäufigkeit allein lässt sich jedoch noch nicht die Schwere des Trinkverhaltens ablesen (vgl. Tab. 3). Von den Bewohnern, die Alkohol konsumieren, stuften die Wohneinrichtungen insgesamt 6,7 % als „alkoholgefährdet“ und 4,2 % als „alkoholabhängig“ ein. Demgegenüber beurteilten die Werkstätten 2,7 % der Mitarbeiter mit geistiger Behinderung als „alkoholgefährdet“ und 1,4 % als „alkoholabhängig“. Insgesamt kann daher aus der Beobachter-Perspektive bei 10,9 % der Bewohner und 4,1 % der Werkstattmitarbeiter von einem „riskanten Alkoholkonsum“ ausgegangen werden 4 . 2.1.3 Zusammenarbeit der Einrichtungen untereinander und mit Dritten Übermäßiger Alkoholkonsum kann erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsprozess und auf das Wohnumfeld haben. Daher sind Fragen zur Zusammenarbeit auf institutioneller Ebene wichtig. Die Formen der gegenseitigen Koope- Michael Schubert, Georg Theunissen 314 VHN 4/ 2005 in % täglicher Alkoholkonsum 3,7 % mehrmals wöchentlicher Konsum 4,4 % gelegentlicher Konsum 10,9 % Konsum überwiegend am Wochenende 2,4 % Tab. 2: Anzahl der Bewohner der Wohneinrichtungen, die regelmäßig Alkohol konsumieren (n = 2.560) „alkoholgefährdet“ „alkoholabhängig“ gesamt Wohneinrichtungen (n = 2.560) 6,7 % 4,2 % 10,9 % Werkstätten (n = 2.688) 2,7 % 1,4 % 4,1 % Tab. 3: Anzahl der Bewohner bzw. behinderten Mitarbeiter, die als „alkoholgefährdet“ und „alkoholabhängig“ eingeschätzt werden ration wurden sowohl aus der Sicht der Wohneinrichtungen als auch aus der Sicht der WfbM überwiegend positiv bewertet. Bei den Fragen zur Kooperation mit Eltern/ Angehörigen, gesetzlichen Betreuern und der Suchthilfe fällt auf, dass ein Großteil der Wohneinrichtungen und WfbM zwecks Lösung alkoholbedingter Probleme nicht mit den Eltern bzw. Angehörigen (42 %) und der Suchthilfe (51 %) zusammenarbeitet. 2.1.4 Konsequenzen für die Institutionen Aus Tabelle 4 wird ersichtlich, dass sich die befragten Institutionen (Wohneinrichtungen und WfbM zusammengefasst) in erster Linie in Gesprächen mit Bewohnern (81 %) und in Teamsitzungen (75 %) mit dem (übermäßigen) Alkoholkonsum von Menschen mit geistiger Behinderung auseinandersetzen. Auch spielen interne bzw. externe Fortbildungen mit über einem Drittel der Antworten eine wichtige Rolle. Nur 7 % der befragten Einrichtungen gaben an, sich „bisher nicht“ mit der Thematik beschäftigt zu haben. In der Kategorie „andere“ finden sich neben einer Arbeitsgemeinschaft zum Thema „Sucht und Behinderung“ auf Landkreisebene auch Gesprächskreise mit Betroffenen und einer Vertrauensperson, Supervision sowie die Zusammenarbeit mit einer Suchtberatungsstelle und einem einer Einrichtung angegliederten Fachkrankenhaus. 2.2 Zu den personenbezogenen Daten Insgesamt konnten 123 Individualdaten-Bögen (WfbM: 65) in unsere statistische Auswertung eingehen. Verglichen mit den Personen, die in den Grunddaten-Bögen mit „riskantem Alkoholkonsum“ ausgewiesen wurden, sind dies 46 % (WfbM: 64 %). Alkoholkonsum 315 VHN 4/ 2005 Art der Beschäftigung Alle Einrichtungen bisher nicht 7 % interne Fortbildungen 35 % Projekte 4 % Teamsitzungen 75 % externe Fortbildungen 38 % Gespräche mit Betroffenen 81 % andere 16 % Tab. 4: Wie beschäftigt sich Ihre Einrichtung mit dem Thema „Sucht“? (n = 57) Wohnstätten Werkstätten Geschlecht n = 121 n = 65 Männlich 88 % 91 % Weiblich 12 % 9 % Alter in Jahren n = 119 n = 64 18 - 35 18 % 20 % 36 - 45 26 % 41 % 46 - 55 24 % 31 % > 56 31 % 8 % Mittelwert 47 Jahre 43 Jahre Standardabweichung 14 J. 10 J. Behinderungsgrad n = 123 n = 64 leicht (IQ größer 55) 42 % 41 % mittel (IQ 35 - 50/ 55) 54 % 56 % schwer (IQ unter 35) 4 % 3 % Tab. 5: Demographische und personenbezogene Daten 2.2.1 Demographische und personenbezogene Daten Von den 123 in unsere Auswertung einbezogenen Personen waren 88 % (WfbM: 91 %) männlich und 12 % (9 %) weiblich (vgl. Tab. 5). Altersmäßig lagen 18 % (20 %) zwischen 18 und 35 Jahren, 26 % (41 %) zwischen 36 und 45 Jahren sowie 24 % (31 %) zwischen 46 und 55 Jahren; 31 % (8 %) waren älter als 55 Jahre. Bei einem Höchstwert von 87 Jahren (63) liegt der Durchschnitt bei 47 Jahren (43) (Standardabweichung 14 Jahre [10]). Die erfassten Personen galten zu 42 % (WfbM: 41 %) als leicht, zu 54 % (56 %) als mittelgradig und zu 4 % (3 %) als schwer geistig behindert. 2.2.2 Lebensbedingungen (Wohnform, Arbeitstätigkeit) Die aus der Mitarbeitersicht betroffenen Personen leben zum überwiegenden Teil in Wohnheimen oder sog. Vollzeiteinrichtungen. Nahezu die Hälfte (48 %) davon lebt in einer Wohngruppe mit ständiger Assistenz (Betreuung). Die Wohngruppengröße liegt in 19 % der Fälle unter sechs Plätzen, in 38 % der Fälle zwischen sechs und zwölf Plätzen, und bei 42 % umfasst die Gruppe mehr als zwölf Bewohner. Nur 6 % von den 123 erfassten Personen leben allein oder mit einem Partner, und 4 % wohnen in einer sog. Außenwohngruppe bzw. im sog. Betreuten Wohnen ohne ständige Assistenz. Demgegenüber wohnen 19 % in gemeindeintegrierten (Außen-)Wohngruppen mit ständiger und 21 % mit nicht ständiger Assistenz (3 % „andere“). Für die 65 Betroffenen in den Werkstätten ergibt sich ein anderes Bild: 20 % leben bei ihren Eltern, 22 % in gemeindeintegrierten Wohnformen ohne Assistenz, und weitere 20 % leben allein oder mit einem Partner; die meisten übrigen Personen sind in Heimen oder Vollzeiteinrichtungen zu Hause, davon 29 % in Gruppen mit ständiger Assistenz. Über die Hälfte (53 %) aller Betroffenen aus den Wohneinrichtungen (n = 123) arbeiten ganztags (7 bis 8 Stunden) (WfbM: 97 %). Weitere 13 % gehen eine bis vier Stunden und 14 % fünf bis sechs Stunden einer regelmäßigen Beschäftigung nach. Die restlichen 20 % sind nicht werktätig. 2.2.3 Trinkverhalten Dieser Aspekt wurde nur in den Wohneinrichtungen erhoben, da Werkstattmitarbeiter meist keinen weitreichenden Einblick in die Freizeitgestaltung ihrer behinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben. Ein erstes Merkmal zur Charakterisierung des Trinkverhaltens ist die Trinkhäufigkeit (vgl. Tab. 6). 17 % der erfassten Personen konsumieren mehrmals täglich Alkohol, 15 % etwa einmal täglich, 21 % dreibis fünfmal pro Woche und weitere 30 % einbis zweimal pro Woche Insgesamt trinken somit durchschnittlich 53 % der an der Erhebung Beteiligten mindestens dreimal pro Woche alkoholische Getränke. Als Zweites wurde der Trinkzeitpunkt betrachtet. 40 % der Personen trinken „meistens“ oder „immer“ nachmittags, 62 % abends, 55 % am Wochenende und 61 % zu Anlässen. Insbesondere Anlässe wie Feste und Feiern scheinen auch in restriktiveren Wohnformen Möglichkeiten für den Konsum von Alkohol zu bieten (47 % „immer“). Michael Schubert, Georg Theunissen 316 VHN 4/ 2005 Trinkhäufigkeit in % mehrmals täglich 17 % einmal täglich 15 % 3bis 5-mal pro Woche 21 % 1bis 2-mal pro Woche 30 % 2bis 3-mal pro Monat bis 1 bis 3-mal pro Jahr 7 % seltener 3 % nicht bekannt 6 % Tab. 6: Trinkhäufigkeit der Betreffenden (n = 122) Des Weiteren ist der Trinkort von Interesse. Bei diesem Aspekt zeigt sich, dass die betreffenden Personen keinen speziellen Ort des Konsums bevorzugen. „Häufig“, „meistens“ oder „immer“ trinken 61 % im Wohnbereich, 70 % im Wohnumfeld und 68 % an einem den Mitarbeitern (Beantworter des Fragebogens) unbekannten Ort. Einheitlicher sind die Ergebnisse zur Frage nach der bevorzugten Art der konsumierten Getränke. Nahezu alle Personen (89 %) trinken Bier, 21 % Wein, 29 % Schnaps und 3 % Mixgetränke. 17 % trinken Bier und Wein, 24 % Bier und Schnaps, 10 % Wein und Schnaps und 9 % alle drei Getränkearten. Somit ist der Konsum von Bier und Schnaps die häufigste Kombination der verschiedenen alkoholischen Getränke. Um vergleichbare Aussagen zur Menge des Alkohols (vgl. Abb. 1) zu gewinnen, wurden alle Angaben in Gramm Alkohol umgerechnet. Da die Daten einer Fremdbeurteilung entstammen und der Konsum häufig außerhalb des Wohnbereiches stattfindet, konnten 38 % der Mitarbeiter der Einrichtungen keine Angaben zur Menge des getrunkenen Alkohols der betreffenden Personen machen. Mit 26 % konsumiert ungefähr ein Viertel der Personen bis zu 60 g Alkohol pro Trinkereignis. Diese Menge entspricht bis zu vier Standardgetränken nach der in der amerikanischen Forschung verwendeten Definition des „Standarddrinks“ (Zernig 2000, 483; vgl. Anmerkung 1). Weitere 20 % konsumieren bis zu 100 g (6 - 7 Standardgetränke) und 17 % mehr als 100 g pro Trinkzeitpunkt. Ein weiterer Aspekt des Trinkverhaltens ist die Dauer des Alkoholkonsums. Auch hier ist die Erhebungsmethode mittels Fremdbeurteilung ungünstig, da die Dauer des Konsums nur nach Wissen des beantwortenden Mitarbeiters erhoben werden kann. Entsprechend diesen Angaben konsumieren 26 % seit ca. 10 Jahren, 18 % seit 10 - 20 Jahren, 15 % seit 30 - 40 Jahren und 7 % länger als 40 Jahre Alkohol. Die Frage zum Trinkverhalten wurde jedoch von 34 % der Mitarbeiter mit „weiß nicht“ beantwortet. Um die Anzahl der Personen, die als alkoholabhängig bezeichnet werden können, genauer zu ermitteln, wurden analog zu den weltweit anerkannten Kriterien einer Alkoholabhängigkeit im ICD-10 und DSM-IV acht Items Alkoholkonsum 317 VHN 4/ 2005 Abb. 1: Menge des getrunkenen Alkohols pro Trinkereignis (n = 112) zur Diagnostik erhoben, welche in einer Sechserskala und einer zusätzlichen Rubrik „weiß nicht“ zu bewerten waren. Ausgewertet wurden aus Gründen der Trennschärfe nur Antworten in den Kategorien „trifft voll zu“ bzw. „trifft zu“ (1 + 2) und „trifft nicht zu“ bzw. „trifft gar nicht zu“ (5 + 6). Bei 61 Menschen mit geistiger Behinderung (2,4 % bei n = 2.560) waren mindestens 3 von 8 Items in den letzten 12 Monaten erfüllt, so dass von einer Alkoholabhängigkeit gesprochen werden kann. 2.2.4 Zu (Trink-)Gewohnheiten Um (Trink-)Gewohnheiten der Betroffenen näher zu erforschen, enthielt der Individual-Fragebogen 22 Items zum Freizeit-, Trink- und Sozialverhalten. Aus den Antworten von 17 Items konnten mittels Hauptkomponentenanalyse 5 drei Hauptkomponenten (vgl. Tab. 7) gewonnen werden, die jeweils Items zum Verhalten der Betroffenen beinhalten, die ähnlich beurteilt wurden. Aufgrund der Verschiedenheit des Verhaltens, welches den Hauptkomponenten zugerechnet werden kann, sind die Komponenten auch als Mustertypen beschreibbar. Die Items, die besonders auf die Faktoren laden, sind in der Tabelle grau unterlegt. Die erste Hauptkomponente („kontrollierte Trinker“) beinhaltet eine aktive, kompetente, selbst gestaltete Lebensführung. Diese Komponente lädt besonders auf die Items: „Er/ Sie lässt sich bei schwierigen Dingen nicht entmutigen“, Michael Schubert, Georg Theunissen 318 VHN 4/ 2005 Hauptkomponenten (HK) 1 2 3 Er/ Sie lässt sich bei schwierigen Dingen nicht entmutigen. ,713 -,014 -,016 Er/ Sie geht gern arbeiten. ,687 ,027 ,062 Er/ Sie nimmt selbstständig Freizeitangebote wahr. ,675 ,317 -,342 Es/ Sie spricht über seine/ ihre Probleme. ,628 ,131 -,195 Er/ Sie hat die Menge des getrunkenen Alkohols unter Kontrolle. ,585 ,094 ,324 Er/ Sie geht einem Hobby nach. ,581 ,173 -,182 Er/ Sie fühlt sich wohl in seiner/ ihrer jetzigen Wohnform. ,490 ,027 ,155 Er/ Sie trinkt häufig mit Kollegen, Freunden oder Kumpels. ,081 ,884 -,139 Er/ Sie trinkt häufig in Gesellschaft mit anderen. ,020 ,852 -,122 Er/ Sie wird durch sein/ ihr soziales Umfeld zum Konsum verleitet. ,135 ,689 ,144 Er/ Sie hat Freunde, Kumpel oder Kollegen, mit denen er sich gut versteht. ,505 ,626 -,158 Er/ Sie trinkt meistens allein. ,307 ,098 ,666 Er/ Sie versteht sich nicht gut mit den Mitarbeitern. -,003 -,106 ,624 Er/ Sie versteht sich nicht gut mit anderen Mitbewohnern. -,344 -,204 ,622 Er/ Sie integriert sich nicht in die Wohngruppe. -,336 -,188 ,555 Alkoholkonsum ist ihm/ ihr sehr wichtig. -,037 ,407 ,471 Er/ Sie versucht, den Alkoholkonsum vor anderen zu verbergen. ,200 ,367 ,446 Eigenwerte der Hauptkomponenten 4,466 2,270 1,940 Tab. 7: Hauptkomponenten aus der rotierten Komponentenmatrix; die Faktorenladungen sind als Korrelationskoeffizienten zwischen der betreffenden Variable und den Faktoren zu verstehen. „Er/ Sie geht gern arbeiten“, „Er/ Sie nimmt selbstständig Freizeitangebote wahr“, „Er/ Sie spricht über seine/ ihre Probleme“, „Er/ Sie geht einem Hobby nach“, „Er/ Sie fühlt sich wohl in seiner/ ihrer jetzigen Wohnform“ und „Er/ Sie hat Freunde, Kumpel oder Kollegen, mit denen er/ sie sich gut versteht“. Bezogen auf das Trinkverhalten scheinen die Personen dieser Gruppe die Menge des Alkohols besser als andere unter Kontrolle zu haben. Die zweite Hauptkomponente markiert musterhaft den „sozialen Trinker“. Auf diesen Typ laden die Items „Er/ Sie trinkt häufig mit Kollegen, Freunden oder Kumpels“, „Er/ Sie trinkt häufig in Gesellschaft mit anderen“, „Er/ Sie hat Freunde, Kumpel oder Kollegen, mit denen er/ sie sich gut versteht“ und „Er/ Sie wird durch sein/ ihr soziales Umfeld zum Konsum verleitet“ besonders stark. Ein soziales Umfeld in Form von Freunden, Kollegen oder Kumpel zu haben, kann sich auf das Trinkverhalten des Einzelnen sowohl in Richtung „kontrollierter Trinker“ als auch in Richtung „sozialer Trinker“ auswirken. Die dritte Hauptkomponente bildet den Gegensatz zur zweiten und markiert den „Alleintrinker-Typus“. Hier finden sich Items wie: „Er/ Sie trinkt meistens allein“, „Er/ Sie integriert sich nicht in die Wohngruppe“, „Alkoholkonsum ist ihm/ ihr sehr wichtig“, „Er/ Sie versucht, den Alkoholkonsum vor anderen zu verbergen“ und „Er/ Sie versteht sich nicht gut mit anderen Mitbewohnern“. Personen, die diesem Typ entsprechen, trinken nicht nur häufiger allein, sondern scheinen sich im Wohnbereich schlechter zu integrieren und sich mit ihren Mitbewohnern nicht so gut zu verstehen. 2.2.5 Folgen und Auswirkungen des Alkoholkonsums Übermäßiger Alkoholkonsum hat bekanntlich Auswirkungen in medizinischer, psychischer und sozialer Hinsicht. Die in den letzten zwölf Monaten aufgetretenen Folgen wurden für unsere Stichprobe (Wohnen: n = 123; WfbM: n = 65) wie folgt ausgewiesen: Bei den medizinischen Folgeerscheinungen besteht eine relativ gleich verteilte Häufigkeit des Auftretens von allgemeinen Problemen (übermäßiges Schwitzen, „Nervosität“, Tremor, Unruhe, reduzierter Allgemeinzustand, Appetitverlust), neurologischen Problemen (Gleichgewichtsstörungen, niedrige Sensibilität in den Gliedmaßen, Schmerzen in den Füßen) und Magen-Darm-Problemen (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall). Werden die Kategorien „sehr häufig“ und „häufig“ zu Grunde gelegt, so lässt sich festhalten, dass bei 16 bis 33 % (WfbM: 8 - 31 %) der betreffenden Personen häufiger schwere medizinische Folgeerscheinungen aufgetreten sind. Bezüglich der Folgeerscheinungen im psychischen Bereich wurden kognitive Beeinträchtigungen (Erinnerungslücken) und Persönlichkeitsstörungen am häufigsten genannt, gefolgt von Depressionen (evtl. verbunden mit suizidalen Tendenzen) und Angststörungen. Ob es sich dabei wirklich um Folgeerscheinungen oder aber um auslösende Momente oder um reziproke Aspekte handelt, war durch unsere Studie nicht zu ermitteln. Im Bereich der sozialen Folgeerscheinungen nannten die Mitarbeiter am häufigsten eine erhöhte Reizbarkeit und heftige verbale Auseinandersetzungen. Starke Aggressivität und körperliche Auseinandersetzungen wurden dagegen seltener angegeben. Ergänzend dazu wurden in den WfbM arbeitsbezogene Probleme in den letzten zwölf Monaten erfragt. Nach Ansicht der Befragten waren 48 % der Betroffenen durch eine „Alkoholfahne vor oder während der Arbeit“ auffällig geworden, und bei 43 % machte sich eine ungewohnte „Langsamkeit“ (verstanden als reduzierte Geschwindigkeit im Vergleich zur Normalleistung dieses Beschäftigten) bemerkbar. Des Weiteren konnte für die Wohneinrichtungen ermittelt werden, dass viele Folgeerscheinungen von Alkoholkonsum (45 - 53 %) seit weniger als fünf Jahren auftreten, diese bei 41 bis 47 % jedoch schon seit mindestens fünf bis zu 20 Jahren vorkommen. So- Alkoholkonsum 319 VHN 4/ 2005 ziale Probleme scheinen die längste Konstanz zu haben (bei 81 % bestehen diese mindestens 25 Jahre) 6 . 2.2.6 Behandlungs- und Hilfsangebote In den Wohneinrichtungen (vgl. Abb. 2) rangieren klärende Gespräche mit dem Betreffenden (85 %) und Ermahnungen (65 %) deutlich vor anderen (z. B. restriktiven) Interventionen. Bei je 17 % wurde eine Suchtberatung oder eine psychiatrische Behandlung durchgeführt. Bei 15 % fand eine Behandlung in einer Suchtklinik statt, und bei 13 % wurden die körperlichen Auswirkungen des Alkoholkonsums behandelt. Unter der Kategorie „andere“ wurden neben der Kontrolle der Alkoholmenge, einem Einkaufstraining und der Organisation des Tagesablaufs auch Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe und gezielte Biographieforschung genannt. Auch in den WfbM (vgl. Abb. 3) sind bei den Maßnahmen klärende Gespräche (81 %) und Ermahnungen (58 %) deutlich häufiger als andere Interventionen. Bei 30 % der Betroffenen wurden des Weiteren Gespräche mit der Wohneinrichtung bzw. dem Wohnumfeld angeführt. 25 % wurden aufgrund des Alkohols für einen Tag von der Arbeit suspendiert, und bei je 19 % wurde das Trinkverhalten (verstärkt) kontrolliert oder eine Verwarnung (mit Androhung von Konsequenzen) ausgesprochen. Als restriktivste Maßnahme bekamen 6 % der Personen eine Abmahnung, und 2 % (n = 1) wurden nach vorheriger (mehrfacher) Verwarnung aus der Werkstatt entlassen. In Bezug auf Handlungsweisen, die auf Hilfe und Unterstützung der Betreffenden zielen, nahmen 13 % eine Suchtberatung oder -behandlung in Anspruch, und 11 % beteiligten sich an einer Selbsthilfegruppe. Bei 9 % kamen andere Maßnahmen wie die Verwaltung des Bargeldes oder der Umzug zwecks Umfeldwechsel zum Tragen. Nach Aussage der Befragten bestehen trotz der genannten Maßnahmen bei fast der Hälfte der Betroffenen (49 %; WfbM: 56 %) die Probleme in den Wohneinrichtungen und den Werkstätten unverändert fort. Bei je etwa einem Michael Schubert, Georg Theunissen 320 VHN 4/ 2005 Abb. 2: Erfolgte Maßnahmen in den Wohneinrichtungen (n = 122) 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 85 klärendes Gespräch psychische Behandlung Durchführung einer Suchtberatung Behandlung in einer Suchtklinik Behandlung der körperl. Auswirkungen Angebote zur Freizeitgestaltung Ermahnung Einschränkung persönlicher Freiheiten Verwarnung Androhung der Heimvertragskündigung andere keine Prozent 17 17 15 13 4 65 37 25 17 11 4 Viertel der Personen treten die Probleme aber nach erfolgten Maßnahmen seltener auf (28 %, WfbM: 31 %), oder der Konsum wird von außen stärker normiert (25 %). Immerhin kontrollieren nach Angaben der Mitarbeiter 16 % der Betroffenen ihr Trinkverhalten selbst, 12 % (WfbM: 6 %) nehmen eine Suchtberatung in Anspruch, und 6 % sind nach den Maßnahmen abstinent. Demgegenüber sind jedoch laut Befragung 18 % der Betroffenen völlig uneinsichtig (WfbM: 21 %) und nicht bereit, an einer Problemlösung mitzuarbeiten. In den WfbM sind nach Ansicht der befragten Mitarbeiter 21 % der Betroffenen nach erfolgten Maßnahmen völlig unauffällig. Trotz dieser eher mäßigen Erfolge von Interventionen fühlt sich die Hälfte der Befragten (50 %) der Herausforderung „gut“ oder „sehr gut“ gewachsen. Mit 35 % beurteilt etwa ein Drittel der Befragten die Frage bezüglich ihrer Situation mit „teils/ teils“. Nur 16 % sehen sich dem Trinkverhalten der Person gegenüber „schlecht“ oder „sehr schlecht“ gerüstet. Abschließend bleibt die Frage nach der Entwicklung des Alkoholkonsums von Menschen mit geistiger Behinderung. Insbesondere Mitarbeiter aus der Praxis reklamieren immer wieder eine starke Zunahme des Suchtmittelkonsums in den letzten Jahren. Der Anteil der Personen, die in (übermäßiger Weise) Alkohol konsumieren, scheint sich - so weisen unsere Ergebnisse (vgl. Abb. 4) aus - im Vergleich zu „vor 10 Jahren“ und zu „vor 5 Jahren“ nicht deutlich verändert zu haben, was auch das Fehlen eines signifikanten Unterschieds unterstreicht 7 . Zwar lässt sich rein statistisch ein signifikanter Mittelwertunterschied (0,022) zwischen dem Zeitraum von „vor 10“ bis „vor 5 Jahren“ ermitteln, dieses Ergebnis ist jedoch vor dem Hintergrund der großen Anzahl der Einrichtungen, die diese Frage nicht beantworten konnten, sehr kritisch zu hinterfragen. Es könnte evtl. angenommen werden, dass die Zahl der Personen mit übermäßigem Alkoholkonsum im Vergleich zu „vor 10 Jahren“ zugenommen hat, jedoch sind die prozentualen Unterschiede relativ gering. Alkoholkonsum 321 VHN 4/ 2005 Abb. 3: Erfolgte Maßnahmen in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung (n = 64) 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 klärendes Gespräch Gespräche mit der Wohneinr./ dem Wohnumfeld Suspendierung für einen Tag Suchtberatung bzw. -behandlung Anonyme Alkoholiker/ Selbsthilfegruppe Ermahnung Verwarnung Kontrolle des Trinkverhaltens von außen Alkoholtest vorübergehende Beurlaubung Abmahnung Entlassung nach Verwarnung(-en) andere keine Prozent 81 30 25 13 11 58 19 19 13 11 6 2 9 3 3 Diskussion und Ausblick Unsere Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass sich die Anzahl an geistig behinderten Menschen, die in übermäßiger Weise Alkohol konsumieren, in den letzten zehn Jahren nicht deutlich nachweisbar erhöht hat. Auch die Daten aus der Suchthilfe, auf die wir nicht eingehen konnten, weisen in diese Richtung. Und trotzdem stellt ein übermäßiger Alkoholkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung ein relevantes Problem dar. Immerhin werden von befragten Mitarbeitern 11 % der Nutzer von Wohneinrichtungen und 4 % der behinderten Menschen aus WfbM als Personen mit einem „riskanten“ Alkoholkonsum ausgewiesen. Interessant ist nunmehr die Frage, ob sich unsere Daten mit Ergebnissen aus zielgruppenbezogenen Studien im angloamerikanischen Raum (z. B. Krishef/ DiNitto 1981; Edgerton 1986; Westermeyer et al. 1996; McGillicuddy/ Blane 1999) und aus „allgemeinen“ Untersuchungen (z. B. Welsch 2002) decken (dazu ausführlich Schubert 2004). In allen uns bekannten empirischen Studien ist das Geschlecht ungleich verteilt, als Konsumenten mit Alkoholproblemen dominieren eindeutig männliche Personen (z. B. nach Welsch [2002, 30] zu 79 % in der nicht behinderten Bevölkerung; nach Krishef/ DiNitto [1981, 152] zu 81 % bei Personen mit geistiger Behinderung). In unserer Untersuchung liegt der Anteil bei 90 % und damit noch höher als in anderen Erhebungen. Was das Alter betrifft, so konnte unsere Erhebung die allgemeine Tendenz amerikanischer Studien (z. B. bei DiNitto/ Krishef 1983/ 1984, 40) nicht bestätigen, wonach Alkoholmissbrauch eher bei jüngeren Menschen auftritt. Verglichen mit der amtlichen Statistik der ambulanten Suchtkrankenhilfe (Welsch 2002, 31) liegt unser Altersdurchschnitt mit 46 Jahren sogar über jenem der nicht behinderten Bevölkerung von 42 Jahren für Männer. Feuerlein (1998, 1) spricht von 13 % der erwachsenen Bevölkerung, die die „Kriterien für eine Lebensprävalenz des Alkoholmissbrauchs“ erfüllen. Unsere Erhebungen weisen 11 % geistig behinderte Menschen mit einem „riskanten Konsum“ aus. Über die Kriterien des ICD-10 bzw. des DSM-IV konnten jedoch „nur“ 2,4 % (n = 2.560) der Personen in den Wohneinrichtungen als „abhängig“ eingestuft werden. Diesbezüglich weist Hüllinghorst (2000, 3) für die männliche Allgemeinbevölkerung immerhin 4,9 % als „abhängig“ aus. Diese niedrigeren Raten decken sich weithin mit den (älteren) zielgruppenbezogenen US-Studien (dazu Theunissen 2004). Michael Schubert, Georg Theunissen 322 VHN 4/ 2005 Abb. 4: Wie schätzen Sie die Problematik vor…im Vergleich zu heute ein? (n = 51) 60 50 40 30 20 10 0 Prozent viel stärker stärker blieb gleich geringer viel geringer weiß nicht vor 10 Jahren vor 5 Jahren 6 16 2 8 18 27 8 0 18 14 49 35 Das Ergebnis, dass Bier und Schnaps die beliebtesten alkoholischen Getränkearten sind, unterscheidet sich von der Erkenntnis aus angloamerikanischen Untersuchungen, es entspricht aber den Daten aus der Allgemeinbevölkerung in den neuen Bundesländern (Feuerlein 1998, 110). Über die Erfassung von statistischen Kennwerten hinaus sind die ermittelten Zusammenhänge in Form der herausgearbeiteten Hauptkomponenten („kontrollierte Trinker“, „soziale Trinker“ und „Alleintrinker“) inhaltlich bedeutsam, da Suchtmittelkonsum nicht als isolierte Variable, sondern immer im persönlichen und sozialen Kontext und in Wechselwirkungen mit diesem zu verstehen ist. Mittels Hauptkomponentenanalyse aus Daten zum Trink-, Freizeit- und Sozialverhalten der betroffenen Personen wurde durch die Bildung von drei Mustertypen versucht, die Vielschichtigkeit des untersuchten Phänomens über äußerlich messbare Verhaltensweisen zu erschließen. Aus dem Typus des „kontrollierten Trinkers“ lässt sich schlussfolgern, dass sich eine aktive und kompetente Lebensgestaltung, die häufig auch mit einer höheren Lebenszufriedenheit einhergeht, positiv auf die Steuerungsfähigkeit des Trinkverhaltens auswirkt. Weiter gedacht hieße dies für professionelle Hilfsdienste, dass die Förderung entsprechender Kompetenzen für ein selbst gestaltetes Leben von Menschen mit geistiger Behinderung die Ausprägung der Steuerungsfähigkeit ihres (übermäßigen) Alkoholkonsums unterstützt. Des Weiteren ist der „kontrollierte Trinker“-Typus die einzige Hauptkomponente, bei der ein (sehr starker) Zusammenhang zum Alter besteht, was eine günstige Prognose im Hinblick auf autonomiefördernde Unterstützung nahe legt. Dem sozialen Umfeld mit Freunden, Kumpeln oder Kollegen scheint in Bezug auf das Trinkverhalten eine Doppelrolle zuzukommen. Einerseits steht der Faktor, Personen zu kennen, mit denen man sich gut versteht, mit der ersten Hauptkomponente („kontrollierter Trinker“) in Verbindung. Andererseits ist er die Grundlage für ein Trinkverhalten, welches häufig in Gemeinschaft stattfindet, wie es der „soziale Trinker“-Typus beschreibt. In unserer Untersuchung zeigt sich ein stärkerer statistischer Zusammenhang zwischen dieser zweiten Hauptkomponente und dem Vorhandensein einer sozialen (Trink-)Gruppe. Bei diesem zweiten Typus wirkt das Umfeld verstärkend auf die Ausprägung des Konsumverhaltens. Auf der Grundlage unserer umfassenden Ergebnisse kann insgesamt nicht von einer wachsenden Alkoholgefährdung als stringente Folge eines Umzugs in eine weniger unterstützende Wohnform gesprochen werden. Vielmehr scheinen deutlich komplexere Umstände das Konsumverhalten (von Menschen mit geistiger Behinderung) zu beeinflussen. In ähnlichen Bahnen bewegen sich gleichfalls einige Aussagen und Erkenntnisse aus zielgruppenbezogenen US-Studien (Theunissen 2004, Beer 2004). Übermäßiger Alkoholkonsum kann bekanntlich problematische Folgeerscheinungen nach sich ziehen. Diesbezüglich wurde in unserer Erhebung eine breite Palette möglicher Probleme in medizinischer, psychologischer, sozialer und arbeitsbezogener Hinsicht genannt. Dieses Ergebnis deckt sich mit der Erkenntnis von McGillicuddy und Blane (1999, 869), dass Menschen mit geistiger Behinderung im Prinzip das gleiche Maß an alkoholbedingten Problemen aufweisen wie nicht behinderte Personen. Die Reaktionen der Einrichtungen auf (übermäßigen) Alkoholkonsum sind sehr vielfältig. Einerseits gibt es restriktive Maßnahmen, um den Konsum bzw. dessen Folgen zu reduzieren, zu normieren oder zu unterbinden. Solche Interventionen sind aufgrund der besonderen Problematik von Alkohol am Arbeitsplatz häufiger in den WfbM anzutreffen. Andererseits werden verschiedene Hilfsmaßnahmen fokussiert, bei denen ein „klärendes Gespräch“ weit vor anderen Interventionen rangiert. Insgesamt scheinen viele dieser Maßnahmen aber nicht in gewünschter Weise zu greifen, so dass auf Alkoholkonsum 323 VHN 4/ 2005 dem Gebiet der Unterstützungsangebote weitreichender Konzeptionsbedarf besteht. Hierzu zählen vor allem auch Präventionsmaßnahmen und Formen einer „Nachsorge“ (dazu Theunissen 2004). Zudem sollte die tendenziell positive Beurteilung der Zusammenarbeit von Behinderten- und Suchthilfe (dies betrifft alle befragten Einrichtungssysteme) die Behinderteneinrichtungen dazu ermutigen, weitaus stärker als bisher auf spezialisierte Systeme zuzugehen und vorhandene Ressourcen zu nutzen. Dies erfordert natürlich die Bereitschaft der Suchthilfe, sich weiterhin - so ein Ergebnis aus unserer Befragung dieser Systeme - gefährdeten oder alkoholabhängigen Menschen mit geistiger Behinderung zu öffnen. Anmerkungen 1 Ein kleines Bier (0,33 l) und ein doppelter Schnaps (0,04 l) enthalten je 13 g und ein achtel Liter Wein (0,125 l) 12 g reinen Alkohol; diese Mengen entsprechen jeweils einem „Standardgetränk“ (Zernig 2000). 2 Die beiden Hauptformen des Alkoholismus stellen der Alkoholmissbrauch und die Alkoholabhängigkeit dar. Unter Alkoholmissbrauch (auch: schädlicher Gebrauch), der als ein stark normabweichendes Verhalten betrachtet wird, werden nach DSM-IV (vgl. auch ICD-10, 2003) Kriterien gefasst, von denen sich mindestens eines innerhalb eines 12-Monate-Zeitraums manifestieren muss: Wiederholter, schädlicher Alkoholkonsum, der zu einem Arbeits- oder Schulversagen oder auch zur Vernachlässigung erzieherischer oder häuslicher Tätigkeiten führt; wiederholter, schädlicher Alkoholgebrauch in gefährlichen Situationen (Auto fahren); wiederholte Verursachung öffentlichen Ärgernisses im Zusammenhang mit erhöhtem Alkoholkonsum; fortgesetzter erhöhter Alkoholkonsum trotz vorhandener sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme. Eine akute Intoxikation oder ein „Kater“ (hangover) allein beweisen noch nicht die Diagnose „schädlicher Gebrauch“ (Zernig et al. 2000, 489). Im Unterschied zum Missbrauch besteht bei einer Abhängigkeit ein ausgesprochen starkes Verlangen nach Alkohol. Nach DSM-IV müssen mindestens drei der folgenden Kriterien innerhalb eines Jahres vorhanden sein: Toleranzentwicklung; Entzugssymptome; hohe Mengen an Alkoholkonsum, ggf. länger als beabsichtigt; wiederholte Versuche, mit dem Trinken aufzuhören; hoher zeitlicher Aufwand, um sich Alkohol zu beschaffen; alkoholbedingte Aufgabe sozialer oder beruflicher Aktivitäten; fortgesetzter Alkoholkonsum trotz des Wissens um medizinische, physische oder psychische Probleme (ebd., 492). 3 Im nachfolgenden Text wird aus Platzgründen überall die männliche Schreibweise bevorzugt. 4 Die diagnostischen Kriterien zur Einschätzung der Schwere eines Trinkverhaltens als „Alkoholmissbrauch“ oder „Alkoholabhängigkeit“ finden sich im ICD-10 (2003) und im DSM IV (2003). 5 Die Hauptkomponentenanalyse ist ein Verfahren zur Dimensionsreduktion, bei dem Items mit ähnlichen Antworten zu Hauptkomponenten zusammenfasst werden. Bei „0“ besteht kein, bei „1“ ein sehr starker positiver und bei „-1“ ein sehr starker negativer Zusammenhang mit der generierten Hauptkomponente. 6 Die zeitliche Konstanz der Folgeerscheinungen in den Werkstätten ist in allen drei Bereichen relativ ähnlich: bei 19 - 28 % bestehen diese seit höchstens zweieinhalb Jahren, bei 26 - 30 % seit zweieinhalb bis fünf Jahren und bei 33 - 36 % seit fünf bis zehn Jahren. Die psychischen Auswirkungen scheinen insgesamt am längsten zu bestehen. 7 Auch die Daten der Suchthilfe weisen bei der Betreuung bzw. Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung in den letzten fünf Jahren keinen Anstieg aus. Literatur Beer, O. (2004): Suchtmittelgebrauch bei Menschen mit so genannter geistiger Behinderung. In: Geistige Behinderung, Heft 3, 255 - 268 DiNitto, D. M.; Krishef, C. H. (1983/ 84): Drinking patterns of mentally retarded persons. In: Alcohol, Health and Research World 8, 40 - 42 Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) (2003): Jahrbuch Sucht 2004. Geesthacht DSM-IV (2003): Diagnostische Kriterien des diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen. Göttingen/ Bern/ Toronto/ Seattle Michael Schubert, Georg Theunissen 324 VHN 4/ 2005 Edgerton, R. B. (1986): Alcohol and drug use by mentally retarded adults. In: American Journal of Mental Deficiency 90, 602 - 609 Feuerlein, W.; Küfner, H.; Soyka, M. (1998): Alkoholismus - Missbrauch und Abhängigkeit. Stuttgart/ New York Hüllinghorst, R. (2000): Alkoholkonsum in Deutschland - eine traurige Bilanz. In: Seitz, H. K.; Lieber, Ch. S.; Simanowski, U. A. (Hrsg.): Handbuch Alkohol. Heidelberg ICD-10 (2003): Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Hrsg. vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information. Lich Krishef, C. H.; DiNitto, D. M. (1981): Alcohol abuse among mentally retarded individuals. In: Mental Retardation 19, 151 - 155 McGillicuddy, N. B.; Blane, H. T. (1999): Substance use in individuals with mental retardation. In: Addictive Behaviours 24, 869 - 878 Schubert, M. (2004): Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit bei Menschen mit geistiger Behinderung - Eine empirische Studie aus Sachsen-Anhalt. Unveröff. Diplomarbeit. Institut für Rehabilitationspädagogik, Halle/ Saale Schubert, M. (in Vorbereitung 2005): Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit bei Menschen mit geistiger Behinderung - Ergebnisse eines Forschungsprojekts In: Theunissen, G.; Schirbort, K.: Leben in der „Normalität“ ein Risiko? Zukunftsweisende Konzepte für Menschen mit geistiger Behinderung (Arbeitstitel). Bad Heilbrunn Theunissen, G. (2004): Alkoholgefährdungen und Suchtprobleme bei Menschen mit geistiger Behinderung. In: Wüllenweber, E. (Hrsg.): Soziale Probleme von Menschen mit geistiger Behinderung. Stuttgart Welsch, K. (2002): Suchthilfestatistik 2001 für Deutschland. In: Zeitschrift Sucht, Sonderheft 1 Westermeyer, J.; Kemp, K.; Nugent, S. (1996): Substance disorder among persons with mild mental retardation. In: The American Journal of Addictions 5, 32 - 31 Zernig, G.; Saria; A.; Kurz, M.; O’Malley, S. S. (Hrsg.) (2000): Handbuch Alkoholismus. Innsbruck Michael Schubert Dipl.-Päd., wiss. Mitarbeiter Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaften Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg D-06097 Halle/ Saale E-Mail: michael.schubert@medizin.uni-halle.de Prof. Dr. Georg Theunissen Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik Institut für Rehabilitationspädagogik FB Erziehungswissenschaften Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg D-06099 Halle/ Saale E-Mail: theunissen@paedagogik.uni-halle.de Alkoholkonsum 325 VHN 4/ 2005
