eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2006
751

PISA und die Folgen für schwache Schülerinnen und Schüler

11
2006
Fritz Oser
Horst Biedermann
Urs Haeberlin
In der PISA-Studie sind leistungsschwache Schülerinnen und Schüler, welche sich in deutschsprachigen Ländern meist in Sonderklassen befinden, ausgeschlossen worden. Da diese jungen Menschen nicht über ihre Schulleistungen evaluiert werden können, schlagen Oser und Biedermann einen Zugang von der anderen Seite vor: einen internationalen Vergleich der Unterstützungskultur (für Schüler, Eltern, Lehrer) und der strukturellen und situativen Voraussetzungen für Integration. Haeberlin gibt allerdings zu bedenken, dass auch bei einem solchen Evaluationsansatz eine Gruppe von Menschen ausgeschlossen bleibt: Menschen mit einer geistigen Behinderung schweren Grades oder mit schweren mehrfachen Behinderungen, und er fordert dazu auf, mit dem Bildungsbegriff sorgfältig umzugehen
5_075_2006_001_0004
Anhand der von der Bildungspolitik stark wahrgenommenen internationalen Schulleistungsstudie PISA (Programme for International Student Assessment) soll gemessen werden, wie gut Schülerinnen und Schüler gegen Ende der obligatorischen Schulzeit auf die Herausforderungen der heutigen „Wissensgesellschaft“ (Lane 1966) in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften vorbereitet sind 1 . Dabei fragt PISA nicht Lerninhalte von Lehrplänen ab, sondern Fähigkeiten werden erfasst, welche zur Bewältigung einer eigenständigen Lebensführung im bestehenden Gesellschaftssystem als notwendig erachtet werden. Die Bewertung und Interpretation dieser gezeigten Fähigkeiten geschieht anhand von Vergleichen durchschnittlicher Schülerinnen- und Schülerleistungen zwischen Staaten, (Bundes-)Ländern und Kantonen (vgl. z. B. OECD 2001, 2004; Zahner u. a. 2002, 2004, 2005). Zusätzlich werden Gewichtungen 4 PISA und die Folgen für schwache Schülerinnen und Schüler ■ Zusammenfassung: In der PISA-Studie sind leistungsschwache Schülerinnen und Schüler, welche sich in deutschsprachigen Ländern meist in Sonderklassen befinden, ausgeschlossen worden. Da diese jungen Menschen nicht über ihre Schulleistungen evaluiert werden können, schlagen Oser und Biedermann einen Zugang von der anderen Seite vor: einen internationalen Vergleich der Unterstützungskultur (für Schüler, Eltern, Lehrer) und der strukturellen und situativen Voraussetzungen für Integration. Haeberlin gibt allerdings zu bedenken, dass auch bei einem solchen Evaluationsansatz eine Gruppe von Menschen ausgeschlossen bleibt: Menschen mit einer geistigen Behinderung schweren Grades oder mit schweren mehrfachen Behinderungen, und er fordert dazu auf, mit dem Bildungsbegriff sorgfältig umzugehen Schlüsselbegriffe: PISA-Studie, Lernbehinderung ■ PISA and the Consequences for Pupils with a Learning Disability Summary: The PISA-study excluded the group of low performing pupils, that is to say children and youths who usually attend special classes in the German speaking countries. As these pupils cannot be assessed by their academic performances, Oser and Biedermann suggest an approach from another direction: an international comparison of the support systems (for pupils, parents, teachers) and of the structural and situational conditions for integration. Yet Haeberlin warns to bear in mind, that such an evaluation approach still excludes another group of persons: individuals with severe mental or multiple disabilities. He claims to beware of new tendencies of inhumanity. Keywords: PISA-study, learning disability Das provokative Essay VHN, 75. Jg., S. 4 -12 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel PISA für den Rest: Lehr- und Lernbehinderung und ihre schulische Anstrengungslogik Fritz Oser, Horst Biedermann Universität Freiburg/ CH einzelner Faktoren bezüglich deren Erklärungsstärken von Leistungsunterschieden angestrebt, so beispielsweise für fachspezifische Selbstkonzepte und Interessen, lernmotivationale Aspekte, selbstreguliertes Lernen, familiäre Lebensverhältnisse, Migrationshintergrund, Schultyp, Lernumwelten und Instruktionskompetenz der Lehrenden (vgl. Baumert 2005). Ein zentrales Ergebnis aus PISA ist die Erkenntnis, dass Kompetenzmittelwerte in erheblicher Weise vom sozioökonomischen Status der Familie abhängen (vgl. Prenzel u. a. 2004; Antonietti/ Guignard 2005). Ähnliche internationale und nationale Vergleichsstudien bestehen auch im Bereich der Politischen Bildung (vgl. Oser/ Biedermann 2003; Torney-Purta u. a. 2001; Amadeo u. a. 2002). Die Fragestellung, welche diesen Aufsatz leitet, richtet sich nicht bloß auf die Problematik eines Schulleistungsvergleichs der auch in PISA berücksichtigten Teilgruppe leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler, sondern sie müsste insbesondere auch Schülerinnen und Schüler mit Lernbehinderungen, welche aus der PISA-Studie ausgeschlossen wurden (vgl. OECD 2003), einbeziehen. In Fokussierung dieser spezifischen Zielpopulation steht nicht mehr die schulische Aufgabe einer Vorbereitung auf die Wissensgesellschaft an und für sich im Vordergrund, sondern es muss gefragt werden, welche Grundlagen für diese Menschen ein „unterstütztes“ Leben in der modernen Gesellschaft so erzeugen, dass elementares Verfügungs- und Orientierungswissen (Mittelstrass 2002) zur Bewältigung eines begrenzt eigenständigen Alltags erworben werden kann; auch die ethischen Begründungen hierfür sind anzupeilen. Eine solche Fragestellung beleuchtet jedoch nur die eine Seite der Medaille. Aus entgegengesetzter Richtung betrachtet, stellt sich die aus integrationspädagogischer und bildungspolitischer Sicht ebenso bedeutsame Frage, ob sich die schulischen und gesellschaftlichen Involvierungen für Lernbehinderte so standardisieren lassen, dass sie international vergleichbar werden. Damit wäre die Frage in der Tat in einer Weise umgedreht, wie sie bis jetzt noch kaum im PISA-Feld gestellt worden ist. Aus dieser Richtung betrachtet steht im Zentrum des internationalen und nationalen Vergleichs nämlich nicht so sehr das, was leistungsschwache und lernbehinderte Schülerinnen und Schüler hervorbringen, sondern die möglicherweise erklärenden Faktoren wie beispielsweise Unterstützungsangebote, Integrationsleistungen sowie Engagement von Behörden und Lehrer- und Schülerschaft. Es müssten also Messinstrumente für a) Integrationsleistungen von Lehrpersonen, b) Integrationsleistungen von Schülerinnen und Schülern, c) Integrationsleistungen von Schulen, d) Integrationsleistungen von Gemeinden, e) Integrationsleistungen von staatlichen Systemen u. Ä. entwickelt werden. Zusätzlich müsste jeweils die aktive und erfolgreiche Teilnahme der Lernbehinderten am gesellschaftlichen Leben erhellt werden. Somit stehen nicht so sehr die - bezüglich des Schulerfolgs zwar mit hoher Erklärungskraft ausgewiesenen, jedoch bildungspolitisch wenig korrigierbaren - herkunftsbedingten Muster der Bildungsbeteiligung und die über Generationen reproduzierten sozialen Ungleichheiten im Mittelpunkt, sondern vielmehr das von den genannten Aktorebenen produzierte Ausschluss-, Ausgrenzungs- und Ghettoisierungsprofil. Die Frage also, inwieweit das soziale Potenzial aller Kinder und Jugendlichen durch ihre erbrachten Integrationsleistungen, ihre Empathie und ihr Engagement - mit und gegenüber Lernbehinderten - entwickelt wird, muss einen zusätzlichen Niederschlag finden, womit zugleich der eingeschränkt fachspezifische PISA-Blick um eine als ebenso zentral zu betrachtende Fähigkeit erfolgreicher zukünftiger Lebensbewältigung erweitert wird. Über alle Schulformen - die, wie Baumert und Köller (1998) zeigen, differenzielle Entwicklungsmilieus darstellen - hinweg soll der Erwerb solcher sozialer Kompetenzen durch Teilhabe an Begleitung und Unterstützung lernbehinderter Kinder und Jugendlicher ausgebildet werden. Dabei entwickelt sich ein ganz anderes „sozial-kulturelles PISA und die Folgen für schwache Schüler 5 VHN 1/ 2006 Kapital“ (Bourdieu 1998), nämlich eben das der unterstützenden Teilhabe an jenen, die nicht mit „normalen“, sondern mit besonderen Lernbedürfnissen in die Klasse kommen, und deren Leistungen auch mit aller schulischen Hilfestellung nie mit dem Gros der normalen Leistungsverteilung vergleichbar sind. Der Verweis auf die schulischen Hilfestellungen bringt deutlich zum Ausdruck, dass das Angebot und die Umsetzung an sonderpädagogischen Zusatzunterstützungen, Förderzentren, Schuldiensten usw. unabdingbar ein Teil der von PISA zu erhebenden Variablengruppe sein müssten. Denn wenn jedes dritte lernbehinderte Kind eine Kleinklasse an einem andern Ort als dem eigenen Wohnort besuchen muss, wie Haeberlin u. a. (1999) zeigen konnten, so weist dies auf einen deutlichen Ausstattungsmangel und damit verbunden auf eine strukturelle Benachteiligung dieser jungen Menschen hin. Insgesamt basiert eine mögliche Vergleichsstudie lernschwacher und -behinderter Schülerinnen und Schüler im Sinne einer PISA- Orientierung somit auf drei Ebenen: • Die erste Ebene betrifft die Festlegung und Eruierung der fachlichen Kompetenzstufen (vgl. Blum u. a. 2004, 56), welche bei Kindern und Jugendlichen mit besonderen Lernbedürfnissen wohl fast durchwegs unter der im Rahmen von PISA definierten Stufe 1 liegen, wodurch diese jungen Menschen im Rahmen von PISA auch zur so genannten „Risikogruppe“ gezählt werden müssen. Der Begriff „Risikogruppe“ ist hier natürlich falsch am Platz; es wird aber damit in der PISA-Sprache zum Ausdruck gebracht, dass die fachlichen Leistungsfähigkeiten dieser Schülerinnen und Schüler darauf hinweisen, dass sie den Qualifikationen einer Berufsausbildung nicht gerecht werden können. Da im Rahmen von PISA die inhaltliche Differenzierung am Rande der Skalen grobgliedriger als im Mittelbereich ausgefallen ist, konnten, wie Artelt u. a. (2001) festhalten, für die Schülerinnen und Schüler dieser „Risikogruppe“ keine sinnvoll interpretierbaren Fähigkeiten abgebildet werden. Daher müssen zur differenzierten Analyse dieser Gruppe am linken Rande der Verteilung neue Messinstrumente gefunden werden (vgl. Ehmke u. a. 2004, 225ff). Als Orientierungshilfe im Rahmen der Konzipierung derartiger neuer Erhebungsinstrumente können aus PISA einzig die Kompetenzstufen null und eins dienen, wodurch auch deutlich wird, dass in derartiger Betrachtung keine Risikoeinschätzungen mit höherstufigen Leistungsgruppen (Stufen 2 - 6) mehr einhergehen. Damit verbunden müssen auch Vergleiche bezüglich des sozioökonomischen Status, der Bildungsabschlüsse, Arbeitstätigkeiten und Arbeitsbelastungen der Eltern, der familiären kulturellen Besitztümer sowie der Familienstruktur einzig in den vergleichbaren Stufen 0 - 1 lokalisiert bleiben. Aufgrund dieser Fokussierung auf die in einer PISA- Gesamtbetrachtung homogen erscheinenden „Risikogruppe“ wird deutlich, dass Instrumente entwickelt werden müssen, die kleinste kognitive und soziale Unterschiedlichkeiten zum Ausdruck zu bringen vermögen. Konkret sprechen wir hier von einer pädagogischen Nanoforschung, wie sie in der Tat bis anhin noch nie verwirklicht worden ist. Anhand eines derartigen Erhebungsinstrumentariums müssten Unterschiedlichkeiten und Fortschritte ersichtlich werden, welche äußerlich kaum wahrgenommen werden können. Ein internationaler Vergleich wird aber allemal möglich sein. • Die zweite Ebene einer derartigen PISA- Messung müsste - wie oben unter b) und c) dargestellt - die vorherrschende Unterstützungskultur lernbehinderter Schülerinnen und Schüler in Schulen und Klassen, d. h. von Personen mit schulischen Leitungsfunktionen, Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern höherer Kompe- Fritz Oser, Horst Biedermann 6 VHN 1/ 2006 tenzstufen, festhalten. Der Umgang dieser Personen mit denen, die integriert werden, ist noch wenig beschrieben worden. Dabei handelt es sich um eine Kultur sozial-gesellschaftlicher Rücksichtnahme und Care (zumindest schulisch partial) Benachteiligter, die jedoch nur dort wachsen und gedeihen kann, wo optimale lehr- und lernbezogene Differenzierungen nicht zu einer Benachteiligung, sondern zu einer Bevorteilung der integrierenden Akteure, hier konkret der nicht lernbehinderten Schülerinnen und Schüler, führen. So beschützen, unterstützen und kümmern sich in einer derart realisierten Schulkultur beispielsweise Schülerinnen und Schüler im Schulalltag um Lernbehinderte, helfen diesen bei der Erledigung von Aufgabenstellungen und beziehen diese bei sozialen, musikalischen und literarischen Schulereignissen mit ein. Auf diese Art und Weise des Miteinanders wird sozial gelernt, werden Kollegialitäten und Freundschaften erwachsen, die ohne Integration kaum möglich wären. All diese Aspekte müssten in Messinstrumente gegossen und - national wie international - verglichen werden. Die Bestimmung der Gütemerkmale der Erhebungsinstrumente aber wäre eine methodologische Sonderleistung. Bonetti (1999) hat z. B. ein solches Integrationsfähigkeitsmodell entwickelt und für den Kanton Tessin überprüft. Es gibt also Ansätze zu einer solchen möglichen empirischen Studie. • Die dritte Ebene schließlich betrifft die strukturellen und situativen Voraussetzungen und Optimierungsbemühungen der schulischen und familiären Lehr- und Lerngegebenheiten - oben unter d) und e) angegeben. Dabei interessieren Aspekte wie beispielsweise, ob Schulleitungen, Lehrpersonen und Eltern Integration unterstützen, ob die Zahl der Schülerinnen und Schüler entsprechend der Differenzierungslast reduziert wird, ob Modelle des Tandemunterrichts - optimalerweise unter Einbezug einer heilpädagogischen Lehrkraft - hervortreten, ob Beratungs- und Unterstützungsdienste für die Arbeit der Lehrpersonen, aber auch für die Eltern zur Verfügung stehen, ob die Lehrerschaft störungspräventive Klassenführungen begrüßt, ob die Lehrpersonen optimale Lerngelegenheiten durch Individualisierungen schaffen, ob die Lehrkräfte in der Stoffdarbietungsgeschwindigkeit gemäß der vorherrschenden Heterogenität der Schülerinnen und Schüler differenzieren, ob die Lehrpersonen die Stärkung der Selbstwirksamkeit und den Aufbau eines spezifisch akademischen Selbstkonzepts verfolgen, ob die Lehrkräfte verständnisvolles Lernen ermöglichen usw. Abschließend und zugleich als unabdingbare Voraussetzung für die oben aufgeführten Darlegungen gilt es festzuhalten, dass drei Dinge gewollt sein müssen, wenn man eine nationale und/ oder internationale Vergleichsstudie fachspezifischer Fähigkeiten lernbehinderter Schülerinnen und Schüler in der Tradition von PISA verwirklichen und davon schulische Unterstützungsoptimierungen ableiten will. Erstens: Im Zentrum steht stets das Beste und somit die Optimierung des Lehr- und Lernprozesses für alle Schülerinnen und Schüler mit allen möglichen unterschiedlichen Formen von Lernbehinderungen; es soll somit unter keinen Umständen einer Segregation aus rein bildungsökonomischen oder anderen trivialen Gründen zugestimmt werden. Zweitens: Es muss gewollt werden, dass man dieses Beste über nationale und internationale Vergleiche herausfinden kann. Drittens: Die Kosten der Integration allfällig eruierter unvollkommener in vollkommenere Lebenswelten müssen zu einem Qualitätskriterium gemacht werden. Anmerkung 1 Während international 15-jährige Schülerinnen und Schüler die Zielpopulation von PISA darstellen, sind es für Vergleiche innerhalb der Schweiz Schülerinnen und Schüler der 9. Klassenstufe. PISA und die Folgen für schwache Schüler 7 VHN 1/ 2006 Literatur Amadeo, J.-A; Torney-Purta, J.; Lehmann, R.; Husfeldt, V.; Nikolova, R. (2002): Civic Knowledge and Engagement: An IEA Study of Upper Secondary Students in Sixteen Countries. Amsterdam: The International Association for the Evaluation of Educational Achievement Antonietti, J.-P.; Guignard, N. (2005): Mathematik. In: Zahner, C.; Antonietti, J.-P.; Berweger S. u. a. (Hrsg.): PISA 2003: Kompetenzen für die Zukunft - Zweiter nationaler Bericht (d, f). Reihe „Bildungsmonitoring Schweiz“. Neuchâtel: BfS/ EDK, 17 - 33 Artelt, C.; Stanat, P.; Schneider, W.; Schiefele, U. (2001): Lesekompetenz: Testkonzeption und Ergebnisse. In: PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich, 69 - 137 Baumert, J. (2005): Invited address an der zweijährlichen Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI) in Nikosia, Zypern vom 23. - 27. August Baumert, J.; Köller, O. (1998): Nationale und internationale Schulleistungsstudien: Was können sie leisten, wo sind ihre Grenzen? In: Pädagogik 50, 12 - 18 Blum, W.; Neubrand, M.; Ehmke, T.; Senkbeil, M.; Jordan, A.; Ulfig, F.; Carstensen, C. H. (2004): Mathematische Kompetenz. In: PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.): PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland - Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Münster: Waxmann, 47 - 92 Bonetti, B. (1999): Die Integrationsfähigkeit der Regelschüler. Inwieweit sind Regelschüler fähig und bereit, schulschwierige Kinder in der eigenen Klasse auf- und anzunehmen? Untersuchung an der Tessiner Volksschule: Erfassung der Integrationsfähigkeit der Regelschüler anhand eines dafür entwickelten Fragebogens. Lizentiatsarbeit. Fribourg/ CH: Universität Fribourg, Departement Erziehungswissenschaft Bourdieu, P. (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt: Suhrkamp Ehmke, T.; Hohensee, F.; Heidemeier, H.; Prenzel, M. (2004): Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In: PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.): PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland - Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Münster: Waxmann, 225 - 253 Haeberlin, U.; Bless, G.; Moser, U.; Klaghofer, R. (1999): Die Integration von Lernbehinderten. Versuche, Theorien, Forschungen, Enttäuschungen, Hoffnungen. Bern: Haupt Lane, R. E. (1966): The decline of politics and ideology in a knowledgeable society. In: American Sociological Review 31, 649 - 662 Mittelstrass, J. (2002): Bildung und ethische Masse. In: Kilius, N.; Kluge, J.; Reisch, L. (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung. Frankfurt: Suhrkamp, 151 - 170 OECD (2001): Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse von PISA 2000 (f, e, d). Paris: OECD OECD (2003): PISA 2003. Technical Report. Paris: OECD OECD (2004): Lernen für die Welt von morgen. Erste Ergebnisse von PISA 2003 (f, e, d). Paris: OECD Oser, F.; Biedermann, H. (Hrsg.) (2003): Jugend ohne Politik - Ergebnisse der IEA Studie zu politischem Wissen, Demokratieverständnis und gesellschaftlichem Engagement von Jugendlichen in der Schweiz im Vergleich mit 27 anderen Ländern. Zürich: Rüegger Prenzel, M.; Baumert, J.; Blum, W.; Lehmann, R.; Leutner, D.; Neubrand, M.; Pekrun, R.; Rolff, H.-G.; Rost, J.; Schiefele, U. (Hrsg.) (2004): PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland - Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Münster: Waxmann Torney-Purta, J.; Lehmann, R.; Oswald, H.; Schulz, W. (2001): Citizenship and Education in Twenty-eight Countries: Civic Knowledge and Engagement at Age Fourteen. Amsterdam: The International Association for the Evaluation of Educational Achievement Zahner, C.; Meyer, H.; Moser, U.; Brühwiler, C.; Coradi Vellacot, M.; Huber, M.; Malti, T.; Ramseier, E.; Wolter, S. C.; Zutavern, M. (2002): Für das Leben gerüstet? Die Grundkompetenzen der Jugendlichen - Nationaler Bericht der Erhebung PISA 2000 (d, f). Reihe „Bildungsmonitoring Schweiz“. Neuchâtel: BfS/ EDK Zahner, C.; Berweger, S.; Brühwiler, C.; Holzer, T.; Mariotta, M.; Moser, U.; Nicoli, M. (2004): PISA 2003: Kompetenzen für die Zukunft - Erster nationaler Bericht (d, f). Reihe „Bildungsmonitoring Schweiz“. Neuchâtel: BfS/ EDK. Fritz Oser, Horst Biedermann 8 VHN 1/ 2006 Eine PISA-Studie für „Lernbehinderte“ im Sinne von Oser und Biedermann ist wünschenswert. Die Erhebung von Indikatoren für Integrations- und Unterstützungsleistungen der Schulumwelt würde ein Umdenken bringen. Im Visier wären Kinder, welche gegenüber dem Durchschnittskind deutlich schulleistungsschwach sind, jedoch bei geeigneter Unterstützung Lesen, Schreiben und Rechnen lernen können. Die Separierung dieser Kinder wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Schaffung der Hilfsschule realisiert. Sie sollte jene Kinder aufnehmen, auf deren Leistungsschwäche in den großen Schulklassen keine Rücksicht genommen wurde, die fast jedes Jahr die Klasse wiederholten und am Ende der Schulpflicht aus der 2. oder 3. Klasse entlassen wurden. Diese Kinder konnten damals durchaus als Behinderung des Frontalunterrichts von Schulklassen mit 60 und mehr Kindern empfunden werden. Solche „Behinderung des Lehrens“ hat zur Konstruktion der „Lernbehinderten“ geführt, die das Rückgrat des sich im Volksschulwesen verwaltungstechnisch verselbstständigenden Teilsystems „Sonderschule“ bilden sollten. Seit der Gründung des „Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands (VdHD)“ im Jahre 1898 und des Nachfolgeverbandes „Verband Deutscher Sonderschulen (VDS)“ im Jahre 1948 hat sich dieses Teilsystem nicht zuletzt auch als Folge der berufspolitischen Profilierung der deutschen Sonderschullehrerschaft verfestigt. Es wäre an der Zeit, dass Forschung transparent machen würde, inwieweit das Ergebnis erfolgreicher Professionspolitik ein Segen für die betroffenen Kinder und deren Eltern ist. Inzwischen verunsichert das Schlagwort „Integration statt Separation“ die Professionspolitik der Sonderschullehrergewerkschaften. Die bis jetzt bekannten Forschungsergebnisse zur Integration und Separation von „Lernbehinderten“ sind verwirrend. Einerseits scheint deren Integration gegenüber Separation Vorteile für Lernfortschritte in Kulturtechniken zu haben. Andererseits bleiben integrierte „Lernbehinderte“ im Beziehungsnetz der „Regelschüler“ eher Außenseiter, ihre Zufriedenheit wird nicht erhöht, und ihre beruflichen Chancen bleiben so schlecht wie diejenigen von vergleichbaren Abgängern aus separierenden Klassen. Über ihre Benachteiligung sind ehemalige „Lernbehinderte“ aus separierenden Klassen weniger unzufrieden als ehemals integriert beschulte, vergleichbar schulschwache Schulabgänger. In solchen widersprüchlich erscheinenden Befunden PISA und die Folgen für schwache Schüler 9 VHN 1/ 2006 Zahner, C.; Antonietti, J.-P.; Berweger, S.; Biedermann, H.; Brühwiler, C.; Guignard, N.; Holzer, T.; Mariotta, M.; Moreau, J.; Moser, U.; Nicoli, M.; Nidegger, C.; Ramseier, E. (2005): PISA 2003: Kompetenzen für die Zukunft - Zweiter nationaler Bericht (d, f). Reihe „Bildungsmonitoring Schweiz“. Neuchâtel: BfS/ EDK Prof. Dr. Fritz Oser Dr. Horst Biedermann Departement Erziehungswissenschaften Lehrstuhl für Pädagogik und Pädagogische Psychologie rue Faucigny 2 CH-1700 Freiburg Welches ist der Rest? Urs Haeberlin Universität Freiburg/ CH verbirgt sich gesellschaftsfunktionaler Sinn: Separation legitimiert gesellschaftliche Ungleichheit besser als Integration. Separation lässt den Betroffenen die Platzierung in benachteiligten Sozialschichten eher als gerechtfertigt erscheinen als Integration. Es muss deshalb befürchtet werden, dass die Mehrheit der Politiker die Gesellschaft stabilisierende Mechanismen des separierenden Schulsystems erhalten will, und dass sich Gesellschaft und Schule nicht zur Integrationsfähigkeit umgestalten werden. Oser und Biedermann trotzen dieser Befürchtung und skizzieren den Weg zu einer Pädagogik für Schwache. Hoffen wir, dass ihr bei einer allfälligen Realisierung nicht - wie leider so oft - die ethischen und gesellschaftsverbessernden Grundgedanken entzogen werden und dass ihr das Schicksal der politischen Pervertierung erspart bleiben wird! In der Formulierung „PISA für den Rest“ versteckt sich allerdings eine Falle, die es ideologiekritisch aufzudecken gilt. Die „Lernbehinderten“ sind nur der „Rest“, wenn jene Menschen als inexistent negiert werden, welche auch bei intensivster individueller Förderung die in der Schule gelehrten Kulturtechniken nicht erlernen können. Wenn das Existenzrecht dieser Menschen gesichert bleiben soll - wofür wir nach den Erfahrungen der humanitären Katastrophen im zwanzigsten Jahrhundert sorgen müssen -, dann darf der Kult um PISA nicht dazu führen, dass Bildung mit Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeit gleichgesetzt wird. Wenn wir den Bildungsbegriff so einengen, werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einer geistigen Behinderung schwereren Grades und schwer mehrfach behinderte Menschen von Bildung ausgeschlossen. Bereits erschrecken Äußerungen von Personen aus Schulbehörden und Bildungspolitik, in welchen sich andeutet, dass mit Bezug auf PISA der Bildungsbegriff auf schulisch vermittelte Kulturtechniken reduziert wird. Bildungspolitiker sind zunehmend weniger davon zu überzeugen, dass aus Achtung vor dem Anspruch jedes Menschen auf Verschiedenheit Menschenbildung nicht als Schulbildung definiert werden darf. Hinweise auf Beispiele, was alles zur Menschenbildung gehört - z. B. Freude haben und zeigen können, ein Leben ohne Windeln meistern können, sich in einem Raum fortbewegen können -, stoßen auf zunehmendes Unverständnis. Dies sei Pflege und habe nichts mit Bildung zu tun, muss man wieder hören. Mit der Ausschlachtung von PISA durch Politik und Medien sind wir auf dem Weg zur erneuten Kategorisierung in „Bildungsfähige“ und „Bildungsunfähige“! Die Sonderpädagogik muss sich selbst fragen, ob und wie sie dieser Tendenz ausreichend entgegentritt. Sie hat sich an einen Begriff der Behinderung gewöhnt, der pauschal zusammenfasst, was weder praktisch noch theoretisch zusammen gehört. Es ist nicht nur theoretisch unzweckmäßig, sondern - wie sich jetzt zeigt - auch politisch verheerend, Geistigbehinderte mit Schädigungen des Zentralen Nervensystems in die gleiche Kategorie einzuordnen wie die soziale Konstruktion der „Lernbehinderten“. Letztere werden vorwiegend durch die Logik des in verselbstständigte Subsysteme ausdifferenzierten Schulsystems produziert. Oser und Biedermann zielen mit Recht darauf ab, diese Konstruktion aufzuweichen, allenfalls ganz zu verändern. Aber sie zeigen keinen Weg auf, wie die von PISA unterstützte Entwicklung zur neuen humanitären Katastrophe gebremst werden kann. Diese kündigt sich als Folge vieler Ereignisse, aber nun auch noch als Folge des Ausschlusses von Geistigbehinderten im Bildungsbegriff an. Falls sich die gesellschaftliche Konstruktion des „bildungsunfähigen“ Kindes wieder durchsetzen sollte - das wissen wir aus der Geschichte -, dann könnte dies auch bald einmal dessen Recht auf ein menschenwürdiges Leben tangieren. Prof. Dr. Urs Haeberlin Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg urs.haeberlin@unifr.ch Urs Haeberlin 10 VHN 1/ 2006 PISA und die Folgen für schwache Schüler 11 VHN 1/ 2006 Der bewusst provokativ gewählte Titel „Pisa für den Rest“ soll unterschwellig die moralische Aufforderung zum Ausdruck bringen, die aus dem Projekt PISA ausgeschlossenen lernbehinderten jungen Menschen gerade nicht als Rest zu betrachten. Selbstverständlich hätten wir im Dienste einer eindeutigen Verständlichkeit das Wort Rest in Anführungszeichen setzen und damit der Implikation Anschaulichkeit verleihen können. Dies hätte jedoch auf Kosten der provokativen Kraft geschehen müssen, wodurch die von uns intendierte Nachdenkenswürdigkeit stark an Gewicht verloren hätte. Denn uns geht es genau um jene Anstrengung, für die Urs Haeberlin moniert: Dass nämlich lernbehinderte junge Menschen im Rahmen der neuen bildungspolitischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Integration nicht nur bessere Lernfortschritte in Kulturtechniken vollziehen können, sondern dass sie sich auch tatsächlich mehr und mehr integriert, akzeptiert und damit verbunden wohl fühlen können. Um dieses Ziel erreichen zu können, bedarf es einer - in unserer Fokussierung schulischen, aber selbstverständlich auch generell gesellschaftlichen - Integrationskultur, was nichts anderes bedeutet, als dass die Ermöglichung derartigen Wohlfühlens gewollt sein muss und alle beteiligten Personen sich dafür anstrengen; diese Anstrengungen sollen aus unserer Sicht PISA-mäßig ins Blickfeld gerückt werden. Wir möchten also mit unseren Ausführungen einer Randständigkeit von Lernbehinderten genau entgegenwirken, indem wir appellieren, dass lernbenachteiligte junge Menschen eben nicht als „Restgruppe“ zu betrachten sind, sondern als gleichwertige Gesellschaftsmitglieder, welche durch möglichst optimal gestaltete schulische und erzieherische Bildungsprozesse zu einer - so weit als möglich - eigenständigen Lebensführung befähigt werden sollen. Es ist erwiesen, dass Gesellschaften, die nur ökonomische Kategorien kennen, die Integration von benachteiligten Gesellschaftsmitgliedern zur Last fällt. Menschen, welche nach einzig ökonomischer Gewinnmaximierung und Selbsterfüllung streben, sehen kaum eine Bedeutung im weltlichen Gemeinsinn bzw. im Engagement für (Lern-)Behinderte, wodurch diese daher als soziale Last empfunden und Personen, welche sich für Integrationsmodelle stark machen, als Randgruppe betrachtet werden. Es gibt schulische und kulturelle Orte, wo Eltern von „normalen“ Kindern und Jugendlichen einen Aufstand inszenieren, wenn Lehrpersonen und Behörden integrative Modelle anstreben. Die Erhellung dieser Dimensionen stellt der Kern des zu messenden und zu vergleichenden Handelns einer PISA-mäßigen Studie in den Nationen und Ländern dar. Die in einer derartigen Studie als notwendig erachtete Fokussierung auf die Integrationswilligkeit erhält durch einen zweiten Argumentationsstrang Gewicht. Dalbert, Schmitt und Montada (1982) haben in ihren Arbeiten gezeigt, dass sowohl antizipatorisch als auch aktual wahrgenommene interpersonale Schuldgefühle mit Ereignissen gekoppelt sein können, die als ungerecht empfunden werden. Dabei können daraus abgeleitete Emotionen und Handlungsweisen - für unser Thema - in zwei Richtungen gehen: Auf der einen Seite kann das Erleben schicksalhaften Eingebundenseins Lernbehinderter in die „normale“ Lernwelt Schule dazu führen, dass man sich für sie sozial und lernunterstützend engagiert. Bei egozentrischer Sichtweise können auf der anderen Seite negative Emotionen dadurch ausgelöst Damit der „Rest“ kein Rest sei Fritz Oser, Horst Biedermann Universität Freiburg/ CH Fritz Oser, Horst Biedermann 12 VHN 1/ 2006 werden, dass nach eigenem Ermessen Lernbehinderte in der Lerngruppe einen (zu) großen Teil der Aufmerksamkeit beanspruchen und man dadurch seine eigenen Entwicklungsmöglichkeiten als beeinträchtigt empfindet, wodurch man sich schlecht fühlt. Dies ist denn auch der entscheidende Moment für eine Kategorisierung im Sinne von „Rest“. Die zentrale Frage lautet, ob Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrpersonen, Eltern und Behörden diese interpersonale Schuld in der ersten Weise attribuieren und nicht in der zweiten. Dass diese Attribuierung in der ersten Weise geschehen kann, verlangt einen vorausgehenden Lehr-Lern- und damit verbundenen Erfahrungsprozess, dessen Ausgang jedoch keineswegs gesichert ist. Daher müssen internationale Vergleichsstudien das Gesamtbild struktureller und personeller Integrationswilligkeit mit all ihren kognitiven, emotionalen und sozialen Dimensionen erfassen. Damit der „Rest“ kein Rest sein kann, sind deshalb entsprechende Instrumente so zu erstellen, dass sie nicht (nur) die Leistung der Lernbehinderten, sondern ihre Befindlichkeit auf der Ebene der Ursachenerklärung der sie umgebenden Verantwortlichkeit erfassen. Literatur Dalbert, C.; Schmitt, M.; Montatda, L. (1981): Überlegungen zu Möglichkeiten der Erfassung von Schuldkognitionen und Schuldgefühlen. Berichte der Arbeitsgruppe „Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral“. Universität Trier