Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Rahmenbedingungen zur Fortsetzung einer Schwangerschaft in Erwartung eines Kindes mit Down-Syndrom
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2006
Wolfgang Lenhard
Harald Ebert
Hans-Joachim Schindelhauer-Deutscher
Wolfram Henn
Erwin Breitenbach
Bedingt durch die Zunahme an pränatalen Untersuchungsmöglichkeiten werden immer mehr Feten mit Trisomie 21 erkannt. Fast alle Frauen brechen daraufhin die Schwangerschaft ab. Diese Entwicklung kann der Ansicht Vorschub leisten, dass angeborene Fehlbildungen durch die Inanspruchnahme der Pränataldiagnostik vermeidbar seien. Eltern von Kindern mit Down-Syndrom, die keine Pränataldiagnostik durchführen ließen oder nach dem pränatalen Nachweis des Down-Syndroms die Schwangerschaft fortsetzten, sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie hätten schuldhaft der Gesellschaft eine vermeidbare Last auferlegt. Um herauszufinden, welche Faktoren eine Entscheidung für das erwartete behinderte Kind begünstigen, wurden zehn Eltern und Elternpaare interviewt, die sich nach einer positiven pränatalen Diagnose für ein Kind mit Down-Syndrom entschieden haben. Als besonders bedeutsam erwiesen sich religiöse und ethische Motive und die Auseinandersetzung mit dieser Thematik bereits vor Beginn der Schwangerschaft.
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40 1 Zwang zum „gesunden“ Kind? Vorgeburtliche Untersuchungen werden von Schwangeren in hohem Masse akzeptiert, und die allermeisten Frauen lassen zumindest noninvasive Untersuchungen wie z. B. Ultraschall durchführen. Im Falle einer positiven Trisomie- 21-Diagnose, also dem Vorliegen eines Down- Syndroms beim werdenden Kind, beenden über 90 % der Frauen die Schwangerschaft (Binkert u. a. 2002; Lenhard 2003; Mansfield u. a. 1997). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt werden etwa zwei Drittel aller Feten mit Trisomie 21 erkannt, von denen die meisten abgetrieben werden (Lenhard 2003). Aufgrund der ständigen Verfeinerung pränataler Suchtests ist eine kontinuierli- 40 Rahmenbedingungen zur Fortsetzung einer Schwangerschaft in Erwartung eines Kindes mit Down-Syndrom Wolfgang Lenhard, Harald Ebert, Erwin Breitenbach Universität Würzburg Hans-Joachim Schindelhauer-Deutscher, Wolfram Henn Universität des Saarlandes ■ Zusammenfassung: Bedingt durch die Zunahme an pränatalen Untersuchungsmöglichkeiten werden immer mehr Feten mit Trisomie 21 erkannt. Fast alle Frauen brechen daraufhin die Schwangerschaft ab. Diese Entwicklung kann der Ansicht Vorschub leisten, dass angeborene Fehlbildungen durch die Inanspruchnahme der Pränataldiagnostik vermeidbar seien. Eltern von Kindern mit Down-Syndrom, die keine Pränataldiagnostik durchführen ließen oder nach dem pränatalen Nachweis des Down-Syndroms die Schwangerschaft fortsetzten, sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie hätten schuldhaft der Gesellschaft eine vermeidbare Last auferlegt. Um herauszufinden, welche Faktoren eine Entscheidung für das erwartete behinderte Kind begünstigen, wurden zehn Eltern und Elternpaare interviewt, die sich nach einer positiven pränatalen Diagnose für ein Kind mit Down-Syndrom entschieden haben. Als besonders bedeutsam erwiesen sich religiöse und ethische Motive und die Auseinandersetzung mit dieser Thematik bereits vor Beginn der Schwangerschaft. Schlüsselbegriffe: Down-Syndrom, Eltern, Pränataldiagnostik, selektiver Schwangerschaftsabbruch ■ Basic Conditions for the Continuation of a Pregnancy in Expectance of a Child with Down Syndrome Summary: Due to the developments in prenatal diagnosis more and more foetuses with Trisomy 21 are identified. In this case, almost all women decide to terminate the pregnancy. This may support the general opinion that all birth anomalies were preventable, and therefore, parents of such children were to blame for the births of their child because they did not undergo prenatal testing and selective termination, or even carried an affected foetus to term. In order to find out which factors promote a decision for the child, ten parents and couples of parents, who had decided in favour of a child with Down syndrome despite a positive prenatal diagnosis, have been interviewed. Religious and ethical motives as well as the reflection on this topic prior to the pregnancy turned out to be of crucial importance. Keywords: Down syndrome, parents, prenatal diagnosis, selective termination of pregnancy Fachbeitrag VHN, 75. Jg., S. 40 -50 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel che Steigerung der Erkennungsrate zu erwarten, und in der Folge werden voraussichtlich immer weniger Kinder mit Down-Syndrom zur Welt kommen. Es könnte sich deshalb die Ansicht durchsetzen, dass das Down-Syndrom „vermeidbar“ sei und dass Eltern eines betroffenen Kindes schuldhaft der Gesellschaft eine Last aufgebürdet hätten. Tatsächlich gehört die Frage, warum denn keine Pränataldiagnostik durchgeführt worden sei, zu den häufigsten Vorwürfen an Eltern von Kindern mit Down-Syndrom (Lümkemann 2001). In einer Befragung beschreiben 26 % der Eltern von Kindern mit Down-Syndrom den ihnen gegenüber geäußerten Vorwurf, dass die Geburt des Kindes hätte verhindert werden können. Von den wenigen Eltern, die vor der Geburt von der Diagnose gewusst hatten, berichteten sogar 40,5 % von solchen Schuldvorwürfen (Lenhard 2005, 111). Der Anteil lag damit signifikant höher als bei Eltern, welche die Diagnose vor der Geburt nicht kannten. Angesichts dieser Gefahr der Ausgrenzung von Eltern von Kindern mit Down-Syndrom stellt sich die Frage, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit sich eine Familie für die Geburt eines Kindes mit Trisomie 21 entscheiden kann. Zu diesem Zweck wurden Eltern interviewt, die sich trotz der pränatalen Diagnose des Down-Syndroms zum Austragen der Schwangerschaft entschieden hatten. Ziel war es zu klären, welche Motive die Entscheidung für das Kind begünstigten, welche Rahmenbedingungen vorlagen und wie die Entscheidung durch das soziale Umfeld bewertet wurde. Dabei wurde von der Annahme ausgegangen, dass die folgenden Bereiche für die Entscheidungsfindung besonders bedeutsam sind: 1. persönlicher Bereich: individuelle Überzeugungen und persönliche Bekanntschaft mit Menschen mit Down-Syndrom 2. soziales Umfeld: Reaktionen des Partners, Kenntnis von Selbsthilfegruppen, Kontakt mit anderen Betroffenen, Verhalten von Eltern, Freunden und Bekannten 3. medizinischer Bereich: medizinische Betreuung durch den Frauenarzt, humangenetische Beratung und Diagnoseeröffnung 4. institutionelle Rahmenbedingungen 2 Methodik 2003 wurde in Süd- und Westdeutschland eine Fragebogenuntersuchung durchgeführt, an der unter anderem 699 Eltern von Kindern mit Down-Syndrom teilnahmen (siehe Lenhard u. a. 2005). Diese Untersuchung thematisierte die Frage, ob die Zunahme an vorgeburtlichen Untersuchungen zu einer sozialen Ausgrenzung von Eltern von Kindern mit Down-Syndrom führe. Insgesamt 5,3 % der Eltern (37 Väter und Mütter) gaben an, bereits vor der Geburt von der Diagnose gewusst zu haben. Vier Elternpaare und sechs einzelne Frauen waren zu weiterführenden Interviews bereit. Es ist generell sehr schwierig, eine größere Anzahl Eltern zu finden, die sich trotz positiver Diagnose bewusst für ein Kind mit Down- Syndrom entschieden haben. In aller Regel beschränken sich Studien auf Interviews mit einzelnen Eltern, und die so gewonnenen Erkenntnisse können nur schwer verallgemeinert werden. Es bot sich hier also die Chance, bei einer größeren Anzahl von Eltern konkrete Einblicke in die Motive und Rahmenbedingungen zu erlangen, die zum Austragen eines Kindes mit Down-Syndrom führten. Acht der Interviews wurden im direkten Gespräch, zwei telefonisch durchgeführt. Dafür wurde die Methode des problemzentrierten Interviews gewählt, um eine Gesprächssituation entstehen zu lassen, die einer natürlichen Interaktion so weit wie möglich entsprach. Den Interviews lag ein halb-standardisierter Fragebogen zugrunde, auf den im Gespräch immer wieder zurückgegriffen wurde. Die Antworten auf die Fragen des Leitfadens waren frei, und die Eltern konnten sich umfangreich dazu äußern. Alle Gespräche wurden mit einem Kassettenrekorder aufgenommen und später transkribiert. Erwartung eines Kindes mit Down-Syndrom 41 VHN 1/ 2006 3 Ergebnisse Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den einzelnen Fragen getrennt voneinander erörtert: Frage 1: „Auf welche Weise erfuhren Sie bereits vor der Geburt von der Behinderung des Kindes? “ Bezüglich dieser Frage gab es zwei Gruppen von Eltern. Bei der ersten Gruppe hatte sich im Rahmen von Screenings (= Reihenuntersuchungen) eine unspezifische Erhöhung des Risikos gezeigt. Dies ist nicht mit einer gesicherten Diagnose gleichzusetzen, stellt aber einen konkreten Hinweis auf das Vorliegen einer Trisomie 21 dar. Eine weitergehende invasive Diagnostik (also Fruchtwasserentnahme und Chromosomenanalyse) wurde von diesen Eltern jedoch abgelehnt, weil sie das Kind auf jeden Fall zur Welt bringen wollten. In einem Fall drängte der Arzt aufgrund des fortgeschrittenen Alters sehr auf die Durchführung invasiver Untersuchungen, was die Frau jedoch ablehnte. Gemäß ihren Aussagen sei der Arzt so sehr an der Durchführung der Amniozentese (= Fruchtwasseruntersuchung) interessiert gewesen, dass er diese sogar bereits abgerechnet hatte, obwohl die Frau nicht mit der Untersuchung einverstanden war. Bei jeweils zwei weiteren Fällen ergaben sich Hinweise auf der Basis des Triple-Tests (14. Schwangerschaftswoche [SSW] und 16. SSW) oder der Nackentransparenz-Messung (10. SSW und 20. SSW). Beim Triple-Test werden drei verschiedene Hormonkonzentrationen im mütterlichen Blut gemessen; daraus ergeben sich Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Vorliegen von Trisomie 21. Eine ähnliche Aussagekraft hat die Nackentransparenz-Messung, bei der per Ultraschall die Dicke des Nackens des Fetus vermessen wird. Eine dieser vier Frauen ließ daraufhin eine Amniozentese durchführen. Bei der zweiten Gruppe traten im zweiten oder sogar erst im dritten Schwangerschaftsdrittel Komplikationen auf, die auf das Vorliegen eines Down-Syndroms hindeuteten. In fünf Fällen wurde mittels Ultraschall ein Herzfehler (anschließend Amniozentese in der 19. SSW) oder eine Duodenal-Atresie (Darmverschluss; 12. SSW, 27. SSW, 32. SSW, 32. SSW) festgestellt. Eine Duodenal-Atresie führt zu einer vergrößerten Menge an Fruchtwasser, die bei zwei Frauen mittels einer Entlastungspunktion (Entnahme von Fruchtwasser zur Verminderung des Drucks in der Gebärmutter) reduziert werden musste. Die beiden Frauen ließen das entnommene Fruchtwasser auf Chromosomenanomalien untersuchen. In beiden Gruppen zusammen ließen fünf Frauen eine Amniozentese und eine Frau eine Nabelschnurpunktion durchführen. Frage 2: „Stand die Entscheidung für das Kind bereits vor Inanspruchnahme der vorgeburtlichen Untersuchungen fest? Falls ja, warum wurden die Untersuchungen gemacht? “ Bei sechs der zehn Frauen bzw. Elternpaare stand die Entscheidung für das Kind bereits vor der Inanspruchnahme der Diagnostik fest. Ein Paar hatte bereits vor der Heirat über diese Frage diskutiert und war zu der Entscheidung gelangt, ein Kind mit Behinderung auf jeden Fall zur Welt zu bringen. Eine Frau sagte, dass das Leben mit der Zeugung beginne. Ein auffälliger Befund ergab sich bei diesen beiden Fällen im Rahmen des ersten Ultraschalls bei der Schwangerschaftsvorsorge. Zwei weitere Frauen bezeichneten das Kind als Wunschkind, das auf jeden Fall zur Welt kommen sollte. In diesen beiden Fällen wurden Screenings durchgeführt, bei denen die Frauen nicht wussten, was dabei untersucht wurde: „Der [Triple-Test] war automatisch mit dabei… Das war in der regulären Vorsorge. Wir sind angerufen worden, und das Ergebnis wurde mitgeteilt.“ „… weil ich das nicht wusste, dass der Arzt das untersuchen wird. Das ist halt so: Die Ärzte vermitteln den Schwangeren den Eindruck, wenn wir jetzt diese Untersuchung machen, dann tun sie alles dafür, Wolfgang Lenhard et al. 42 VHN 1/ 2006 dass das Kind gesund zur Welt kommt… Ich wusste aber nicht, dass die jetzt gezielt nach solchen Auffälligkeiten suchen. Von der Nackenhautdicke hatte ich noch nie was gehört, gelesen oder sonst was. Das ist ein Wert, der mir gar nichts sagte. [Der Test wurde durchgeführt] weil ich das nicht wusste, dass der Arzt das untersuchen wird … [Der Arzt] sagte, ich schick’ Sie da mal zur Feindiagnostik, damit wir auch sichergehen, damit wir nichts übersehen …“. Ähnliche Missstände berichten auch Marteau et al. (1992) für Großbritannien: Den 82 % der Schwangeren, denen man ein Serumscreening anbot, wurde in der Mehrzahl der Fälle (58 %) der Test als Routineverfahren beschrieben, und die Schwangeren wurden nicht um ihre Zustimmung zur Durchführung der Untersuchung gebeten. Ein Paar gab an, dass es nach auffälligen sonographischen Befunden sehr unruhig gewesen sei und die Unsicherheit nicht mehr ertragen konnte. Zwei weitere Paare wollten nach der Feststellung einer Duodenal-Atresie diagnostische Sicherheit, um sich besser auf die Geburt vorbereiten zu können: „Vor allem weil ich wusste, danach kommt sie in die Klinik und wird operiert… Und weil ich Angst hatte, ich verliere den Kontakt zum Kind, den man so im Körper noch hat… Ich wollte die emotionale Nähe … Ich kannte einfach noch vom ersten Kind … Er kam mir am Anfang fremd vor, das eigene Kind. Ich kannte diese Erfahrung, dass es nicht sofort ‚Klack‘ macht… Aber ich dachte dann bei mir: Sie kann ich ja nicht bei mir behalten wie ihn, wo es sich dann gelegt hat durch den Kontakt. Sondern sie kam dann ja weg von mir in den OP und in den Brutkasten. Ich kann sie am Anfang ja nicht einmal in den Arm nehmen.“ Frage 3: „Gab es bereits im Umfeld Kontakte zu Menschen mit Down-Syndrom? “ Eine Frau hatte eine Freundin mit einem Kind mit Down-Syndrom, und eine andere Frau kannte Kinder mit Down-Syndrom aus ihrer Berufstätigkeit als Krankengymnastin. Letztere betonte aber den Unterschied zwischen der Arbeit mit Kindern mit Down-Syndrom und der persönlichen Betroffenheit im Falle einer positiven Diagnose. Zwei weitere Frauen hatten Verwandte mit anderen Behinderungen. Die anderen sechs Eltern kannten das Down-Syndrom nur aus dem Fernsehen oder dem Studium oder hatten noch nichts davon gehört. Eine Frau gab an, immer schon Angst davor gehabt zu haben, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen: „Ich hatte mit Sicherheit schon solche Menschen gesehen. Auch gedacht: ‚Die armen Eltern‘ und fand das ziemlich schrecklich. Ich hatte aber auch keine Berührungspunkte. Ja, und dann kannte ich es nur aus den Medien … Und eigentlich war es für mich immer schlimm, so ein Kind zu kriegen. Und jetzt ist es anders! “ Sowohl Wohlfahrt (2002) als auch Palmer und Kollegen (1993) beschreiben die persönliche Bekanntschaft mit Menschen mit Behinderung als einen beeinflussenden Faktor für das Austragen der Schwangerschaft nach positiver Diagnose. Demgegenüber gaben keine Eltern in der vorliegenden Studie an, dass die Bekanntschaft mit Menschen mit Down-Syndrom oder das Wissen über das Behinderungsbild der ausschlaggebende Grund für die Entscheidung zum Austragen der Schwangerschaft gewesen sei. Frage 4: „Welche Motive spielten bei der Entscheidung für das Kind eine Rolle? “ Die meisten Frauen gaben als Grund für die Entscheidung die grundsätzliche Ablehnung von Abtreibung und das Lebensrecht jedes Menschen an. Teilweise verspürten die Frauen zum Zeitpunkt der Diagnose schon Kindsbewegungen. Zwei Frauen äußerten ihr Entsetzen über eine so späte Abtreibung: „Jeder hat ein Recht auf Leben. Das ist auch im Grundgesetz nicht eingeschränkt… Das steht jedem Menschen zu, auch dem Menschen, der behindert ist… Der Gedanke, dass das Kind im Bauch getötet Erwartung eines Kindes mit Down-Syndrom 43 VHN 1/ 2006 wird und dann die Geburt stattfindet mit all den Schmerzen und allem, das ist für mich eine absolute Horrorvorstellung.“ „Das war prinzipiell schon immer in mir drin, dass ich gesagt habe, ich kann das nicht mit mir vereinbaren. Also zum einen, dass ich denke, dass die Schuldgefühle bei einer so späten Abtreibung - es war bereits die 19. Woche, wo man bereits Kindsbewegungen spürt - sicherlich größer sein werden, wo ich mein Leben lang nicht mit klarkommen werde, weil es letztendlich eine Geburt ist, die da eingeleitet wird.“ Mehrere Eltern kritisierten die Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderung vor und nach der Geburt. Eine Abtreibung sei nicht gerechtfertigt, da bei einer nachgeburtlich entstehenden Behinderung schließlich auch alles getan werde, um das Kind am Leben zu erhalten: „Und auch durch eine Frühgeburt kann man ein behindertes Kind bekommen. Dann hat man es auch, und dann wird es mit allen Mitteln am Leben erhalten, und man hat unter Umständen dann auch ein schwer behindertes Kind. Das weiß man eben alles vorher auch nicht.“ „Wir haben ja noch drei größere Kinder. Was passiert, wenn z. B. eines dieser Kinder verunfallt und auch behindert ist. Diese Konsequenz muss man sich ja auch irgendwie klarmachen. Und da kann man ja auch nicht sagen: ‚Weg damit.‘ Das ist auch eine Motivation gewesen.“ „Die meisten Menschen mit Behinderung sind ja nicht behindert geboren. Da müsste ich ja auch sagen, ich müsste dann, wenn er schwierig wird, müsste ich ihn töten. Und das kam bei uns nicht in Frage … Aber das war nie ein Thema für mich, dass jemand mehr Recht hat zu leben als andere auf dieser Welt, wo das nie in Frage käme, die zu töten.“ Für drei Elternpaare war ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund religiöser Motive ausgeschlossen (alle drei Paare waren katholisch) bzw. wäre eine Behinderung des Kindes kein ausreichender Grund für einen Abbruch gewesen. Eine Frau gab an, sich auch nach der Diagnose nie Gedanken über einen Abbruch gemacht und nie darüber gesprochen zu haben. Frage 5: „War die Partnerin/ der Partner der gleichen Ansicht, oder gab es Partnerschaftskonflikte? Konnte eine gemeinsame Entscheidung getroffen werden? “ In keinem Fall kam es zu Entscheidungskonflikten zwischen den Partnern. Bei einem Paar äußerte der Vater die Angst, das Kind könne später isoliert aufwachsen, da kein anderes Kind mit ihm spielen würde. Eine Frau berichtete, ihr Partner hätte für eine Abtreibung plädiert, wenn die Behinderung früher erkannt worden wäre. Bei einem weiteren Paar beeinflusste die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom die Entscheidung für den Einsatz von pränatalen Untersuchungen beim zweiten Kind, ohne dass die Eltern sich über einen möglichen Abbruch nach positivem Befund einigen konnten: „Beim zweiten Kind haben wir eine Chorionzottenbiopsie (= invasive Untersuchung zwischen der 10. und 14. Schwangerschaftswoche, Anm. d. Autoren) machen lassen. Wir haben uns auch nicht einigen können, wie wir dann entschieden hätten. Ich habe gesagt, ich kriege das Kind auch so, mein Mann hat gesagt, er wüsste nicht, ob er mit zwei behinderten Kindern leben kann. Dann haben wir hin und her überlegt, weil ich sagte, ich könne mit einem Abbruch nicht leben …“. Auch wenn nicht bei jedem Interview der Partner anwesend war, lebten alle interviewten Frauen mit dem Vater zusammen. Möglicherweise begünstigt eine stabile Beziehung die Entscheidung für ein Kind mit Down-Syndrom. Allerdings konnte diese Aussage aufgrund mangelnder Vergleichsgruppen nicht statistisch abgesichert werden. Hierfür wäre es nötig, auch die Partnerschaftsbeziehungen von Frauen mit einem selektiven Abort zu untersuchen. Frage 6: „Wer waren die ersten Kontakte nach der Diagnosemitteilung? “ Von allen interviewten Eltern nahm lediglich eine Mutter erst einige Zeit nach der Geburt und eine andere gar keinen Kontakt zu ande- Wolfgang Lenhard et al. 44 VHN 1/ 2006 ren Eltern von Kindern mit Behinderung auf. Alle anderen Eltern traten noch vor der Geburt - oder im Fall später Diagnosen unmittelbar nach der Geburt - in Verbindung mit anderen Eltern oder Selbsthilfegruppen. Meistens vermittelte das Klinikpersonal den Kontakt und unterstützte die Eltern mit Informationsmaterial oder Kontaktadressen. Zweimal wurden die Eltern an den deutschlandweit agierenden Arbeitskreis Down-Syndrom in Bielefeld verwiesen, der aufgrund von Informationskampagnen in den Kliniken besonders bekannt ist. In zwei Fällen hatte kurze Zeit zuvor eine andere Frau in der Klinik ein Kind mit Down-Syndrom entbunden. In einer Klinik arbeitete eine Kinderkrankenschwester, die selbst Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom war: „Da habe ich eigentlich direkt Kontakt aufgenommen. Und die kam mich dann besuchen, wollte mich zuerst mit ihrer Tochter besuchen, aber da war ich nicht bereit zu. Das hätte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekonnt. Da hat sie Bilder mitgebracht … Als ich zuerst die Bilder angekuckt habe, habe ich nur geheult und fand es schrecklich. Am zweiten Tag ging es dann schon, da fand ich das Baby schon wieder süß, so niedliche Augen.“ Ein anderes Paar telefonierte unmittelbar nach der Diagnosestellung in der 19. SSW mit einer Familie mit einem Kind mit Down-Syndrom. Auch dieses Paar war zunächst nicht zum persönlichen Kontakt bereit, empfand das Gespräch aber als äußerst wichtig. Die Diagnosemitteilung und die Kommentare des Laborpersonals empfanden diese Eltern als sehr negativ: „Als ich die Diagnose erfahren habe … habe ich in diesem Labor angerufen, und der Arzt hat gesagt: ‚Ich habe gelesen, Sie haben doch schon drei gesunde Kinder. Ziehen Sie doch einen Schlussstrich drunter.‘ Das ist ein Unding! Eine Frau, die sich gerade dazu durchgerungen hat und sich in diesem Loch befindet, das zieht einen total nieder… Da müssten die Humangenetiker lernen, die Eltern einfach zu tolerieren in ihrer Entscheidung …“. Eine weitere Frau mied trotz frühzeitiger Diagnose den Kontakt zu anderen Eltern bis kurz vor der Geburt. Erst durch beharrliches Drängen der Hebamme telefonierte sie kurz vor der Geburt mit der Mutter eines Kindes mit Down- Syndrom. Zusammenfassend lassen sich also zwei Sachverhalte feststellen: Zum einen suchten fast alle Eltern Austausch mit anderen Eltern von Kindern mit Down-Syndrom. Dieser Kontakt war zwar für die Entscheidung zur Fortsetzung der Schwangerschaft nicht ausschlaggebend, wurde aber in jedem Fall als sehr hilfreich bewertet. Zum anderen spielten das Klinikpersonal und die Mitarbeiter der genetischen Beratungsstellen eine enorm wichtige und überwiegend, aber nicht durchgehend positive Rolle bei der Vermittlung von Kontaktadressen und Informationen. Frage 7: „Wie reagierte das soziale Umfeld auf die Entscheidung, die Schwangerschaft auszutragen? “ Bis auf eine Frau besprachen alle Eltern die Diagnose mit den Menschen aus ihrem sozialen Umfeld. Zunächst dominierten nicht nur bei den betroffenen Eltern selbst, sondern auch bei den Menschen im sozialen Umfeld Betroffenheit und Besorgnis: „Ich habe es zuerst alleine erfahren - ich muss sagen, die Ärzte waren sehr nett - dann kam mein Mann. Für den brach natürlich auch eine Welt zusammen. Es waren alle eigentlich geschockt… Man hat ja Vorstellungen, wenn man ein Kind haben möchte, so Träume und was weiß ich. Die sind natürlich erst einmal alle weg, und man weiß ja nicht, was kommt. Was ist das für ein Kind, wie sieht es aus? Kriege ich ein hässliches Baby? Und ich wollte ja auch ein hübsches Baby haben.“ Über ausschließlich positive Reaktionen auf die Entscheidung zur Fortsetzung der Schwangerschaft berichtete nur eine Frau. In fast allen anderen Fällen gab es gemischte Reaktionen: Während die Menschen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld ihre Hilfe und Unterstüt- Erwartung eines Kindes mit Down-Syndrom 45 VHN 1/ 2006 zung anboten, wurden unterschwellige Kritik, Vorwürfe und Unverständnis meist eher von weniger nahe stehenden Personen geäußert. Häufig bestand die Kritik in wohl gemeinten Ratschlägen und Aufklärungsversuchen wie z. B., ob es sich die Eltern nicht noch einmal überlegen wollten oder ob es wirklich nötig sei, sich eine solche Belastung aufzubürden. In einzelnen Fällen brachen Familienmitglieder den Kontakt zu den Eltern komplett ab. Als besonders belastend wurde auch die später immer wiederkehrende Frage beschrieben, ob die Eltern nicht bereits vor der Geburt von der Behinderung gewusst hätten. Schließlich impliziert diese Frage den Vorwurf, den Fötus mit Trisomie 21 nicht abgetrieben zu haben: „Die [Vorwürfe] kamen eigentlich von Fremden, die haben dann gesagt: ‚Habt ihr das nicht vorher gewusst? ‘ Und am Anfang haben wir gesagt ‚doch‘ und waren immer noch schüchtern. So nach zwei oder drei Jahren oder so kamen immer noch solche Sachen. Da habe ich dann immer gesagt: ‚Ja und, was war denn die Alternative? ‘ Und dann, wenn man das sagt, dann sind sie immer alle still. Die Alternative ist eine einzige: Das Kind töten. Und da sind sie immer alle ruhig.“ „Das sind Sachen, die kommen indirekt, zwischen den Zeilen. Z. B.: ‚Habt ihr das nicht schon vorher gewusst? ‘ Auf diese Frage bin ich mit der Zeit unheimlich empfindlich geworden. Am Anfang habe ich das noch gar nicht richtig kapiert. Das kam dann erst nachher so durch, dass ich gedacht habe: ‚Mist, was wollt ihr mir eigentlich damit sagen‘ … Aber da musste ich erst einmal hinkommen, bis ich die Frage kapiert habe, was das eigentlich bedeutet. Nach dem Motto: ‚Das hätte wirklich nicht sein brauchen.‘ Da bin ich immer empfindlicher geworden, und diese Frage kommt sehr häufig.“ Beide Elternpaare reagierten auf diese Frage zuerst sehr zurückhaltend, machten dann aber die Erfahrung, dass der offensive Umgang mit dem mit dieser Frage verbundenen impliziten Vorwurf und das direkte Ansprechen des Problems am produktivsten waren. Generell scheint die Frage „Habt ihr das nicht schon vorher gewusst? “ der häufigste implizite Vorwurf an Eltern von Kindern mit Down-Syndrom zu sein (vgl. Lümkemann 2001, 59). Die meisten Eltern berichteten aber auch von sehr positiven Reaktionen. War die Entscheidung erst einmal gefällt, akzeptierten sie viele Menschen aus dem näheren Umfeld und sagten ihre Hilfe und Unterstützung zu. Frage 8: „Wie reagierte das soziale Umfeld auf die Geburt des Kindes mit Down-Syndrom? “ Fast alle Eltern berichteten von Unterstützung durch das Umfeld von der Geburt an. In zwei Fällen herrschte zunächst eine große Betroffenheit. Viele Freunde und Bekannte wussten nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten, z. B. ob sie den Eltern gratulieren oder eher Beileid wünschen sollten. Nach Aussage der Eltern war es einfacher, nachdem sie sahen, dass es für die Eltern kein Problem war: „Dass die auch nachher gemerkt haben: Das Kind ist da und sieht ja eigentlich auch ganz niedlich aus. Und die haben ihr Kind lieb. Sie haben es natürlich auch alle besucht. Wir haben auch noch nie so viele Gratulationskarten bekommen. Letztendlich ist dieser Bann eigentlich total gebrochen.“ „Es gab Freunde, die weiter weg wohnen, die damit nicht umgehen konnten und die sich nicht mehr gemeldet haben oder sich dann irgendwann viel später gemeldet und gesagt haben: Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten … Viele haben sich nicht getraut, sich selber zu melden. Und wenn, dann war am Telefon eine ganz große Betroffenheit da … Und das fand ich schon schlimm. Weil wir haben uns trotzdem darüber gefreut, dass sie da ist, und sie war ja auch willkommen von Anfang an. Und diese ‚Herzliches-Beileid-Stimmung‘, die fand ich schon schlimm, dass man selber auf die Leute zugehen musste …“. „Eine einzige Frau, bei der ich es nicht erwartet hätte, hat sich nicht mehr gemeldet. Aber alle anderen … positiv. Alle sind gekommen und haben uns Mut gemacht und haben gesagt: ‚Wenn irgend etwas ist, wir helfen euch.‘ Man hat zwar gemerkt, das war bei allen erst einmal so ein Schockzustand, und nach drei Tagen kamen dann langsam die Anrufe. Sie haben dann erst einmal abgewartet, wie wir reagieren, aber sind da halt ganz normal mit umgegangen, und wir wollten auch angesprochen werden.“ Wolfgang Lenhard et al. 46 VHN 1/ 2006 Die Hälfte der Eltern berichtete auch von negativen Erfahrungen im Anschluss an die Geburt. Bei allen diesen Eltern gab es Freunde oder Bekannte, die den Kontakt abbrachen. Auch berichteten diese Eltern von Getuschel hinter dem Rücken, von Vorwürfen, warum keine Fruchtwasseruntersuchung gemacht worden sei, oder von negativen Aussagen des Klinikpersonals und den Sachbearbeitern der Krankenkassen: „Alle Freunde haben mich im Krankenhaus besucht und Anteil genommen. Also man hat schon von Ärzten gelegentlich Sprüche gehört. Da kommen die meisten eigenartigen Sprüche, z. B. in der Kinderklinik, als es um die Frage ging, operieren oder nicht operieren. Da sagte ein Arzt: ‚Ja, das lohnt sich nicht bei Kindern mit Down-Syndrom.‘ „[Der Oberarzt] kam dann zu mir und fragte mich eine rhetorische Frage: ‚Sie wollen doch, dass wir alles für Ihr Kind tun? ‘ Ich sagte: ‚Ja, klar.‘ Erst nachher habe ich diese Frage kapiert… [Ich] habe mich dann schon ziemlich darüber aufgeregt und fand das schon ziemlich schlimm. Wenn ich da jetzt nein gesagt hätte, hätten sie ihr dann etwa keinen Sauerstoff gegeben oder was weiß ich? Es wurde so mit unterstellt: ‚Wir können auch weniger tun.‘ … Oder Nachtschwestern, die sagen: ‚Solche Kinder bekommt man heute nicht mehr.‘ … Da wurde mir von der Krankenkasse gesagt, was ich wollte, ich wäre ja auch selber schuld.“ Insgesamt dominierten aber positive Erfahrungen und ausgeprägte Unterstützung. Frage 9: „Welche Wünsche haben Sie an Mediziner? “ Die zahlreichen Reaktionen auf diese Frage zeigen, dass dieser Punkt den Eltern sehr am Herzen lag. Bei fast allen Eltern waren die Erfahrungen mit Ärzten äußerst vielschichtig. Die kritischen Punkte drehten sich schwerpunktmäßig um vier Themenkomplexe: Erstens forderten die Eltern eine höhere Kompetenz und mehr Wissen über das Down-Syndrom, verbunden mit Fortbildungen auf diesem Gebiet (insgesamt vier Nennungen). Sie klagten, dass sie sich selbst mühsam Informationen hätten suchen müssen, und dass Mediziner verschiedener Fachrichtungen wie z. B. Orthopäden und Zahnärzte die Behandlung des Kindes abgelehnt hätten, weil sie das Down-Syndrom nicht kannten. Einige Eltern mussten sogar erst die betreffenden Mediziner aufklären, obwohl die Kompetenz eigentlich auf Seiten der Ärzte liegen sollte. Auch fehlte z. T. die Vermittlung von Kontaktadressen und Selbsthilfegruppen, und es wurde der Wunsch geäußert, von Beginn an mehr sozialrechtliche Informationen zu erhalten: „[Dass] einfach mal einer kommt, der sich zu diesem Behinderungsbild auskennt und sagt: So und so ist das, und die und die Hilfeleistung gibt es, und so geht es mit der Pflegeversicherung. Und nicht, dass die Eltern, die zunächst so viel zu tun haben, sich ins Internet klemmen müssen und alles selber und durch Zufall erfahren.“ Als zweites wurde mangelnde Sensibilität und fehlende Offenheit bei der Mitteilung der Diagnose (insgesamt vier Nennungen) beanstandet: „… als die dann ihren Test abgenommen hatten, dann haben sie es mir nicht ins Gesicht gesagt. Ich wurde um 3 Uhr entlassen und um 5 habe ich telefonisch die Nachricht erhalten, dass das Kind doch Down-Syndrom hätte. Das fand ich ziemlich feige“. „Der Professor H. hat das nicht besonders feinfühlig gemacht. Er hat mich hereingerufen und sagte: ‚Ich muss Ihnen leider mitteilen, Ihr Kind hat eine Trisomie 21‘, da habe ich noch ziemlich doof da gesessen, weil ich nicht wusste, was eine Trisomie 21 ist, ‚also Ihr Sohn ist mongoloid. Also ich rufe jetzt am besten erst einmal Ihren Mann an, dass er Sie abholt.‘ Dann hat er es ihm auch am Telefon gesagt. Dann sind wir nach Hause geschickt worden. Wir haben dann erst einmal im Duden nachgesehen. Da stand dann Idiotie darunter, was auch sehr aufbauend war.“ Ein dritter zentraler Punkt war die Forderung nach mehr Akzeptanz für die Entscheidung der Eltern zum Austragen der Schwangerschaft. Eine Frau äußerte Verständnis für die schwierige Situation, in der sich Mediziner befinden. Vier Elternpaare wünschten sich dagegen aktiveres Eintreten für das Leben der ungeborenen Kinder. Mediziner sollten nicht nur über die Erwartung eines Kindes mit Down-Syndrom 47 VHN 1/ 2006 Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch aufklären, sondern Hilfen und Perspektiven aufzeigen, die das Leben mit einem Kind mit Behinderung ermöglichen: „Und das ist ein Wunsch … dass man einfach den Eltern auch sagt: Bevor ihr euch jetzt entschließt, die Schwangerschaft abzubrechen, dann guckt euch halt mal Familien an, die mit so einem Kind leben und guckt für euch selber… könnt ihr so leben? … dass man den Eltern eine Perspektive aufzeigt.“ „Aber deswegen ist [das Leben] nicht ärmer oder schlimmer oder schlechter als vorher. Man sollte den Familien mehr Mut machen, auf das Risiko einzugehen und so einen Menschen wirklich anzunehmen. Da müssen die Ärzte auch wirklich dahinter sein … Dass man sich auch wirklich für das Kind entscheiden kann.“ Als letzter Punkt wurde eine bessere Aufklärung vor Inanspruchnahme pränataler Untersuchungen angemahnt (insgesamt drei Nennungen). Eltern warnten vor einem Automatismus, der darin besteht, dass ab einem mütterlichen Alter von 35 Jahren routinemäßig Fruchtwasseruntersuchungen gemacht werden, die bei einem positiven Befund mit dem Abort enden: „Was mich so ein bisschen stört, gerade was die Medizin angeht, dass teilweise von den Ärzten das Gefühl vermittelt wird: Wir können alles, und Sie müssen das und das und das tun als Eltern oder werdende Eltern, und dann wird Ihr Kind gesund geboren werden. Aber dass man diese Dinge in vielen Punkten nicht in der Hand hat, wird auch von den Ärzten … zu wenig rübergebracht. Dieser Automatismus der Pränataldiagnostik, der ist halt einfach groß: Da stellt sich ein Befund, und dann wird das einfach angeboten. Es wird auch nicht ausreichend aufgeklärt, dass man eben, wenn bestimmte Diagnosen gestellt werden, eben gerade nicht therapieren kann … Dass es keinen Weg dazwischen gibt, und dass nicht vorher darüber aufgeklärt wird: ‚Das ist jetzt die Diagnose. Wenn Sie diese Untersuchung machen, dann kann dies oder das passieren, und wie verhalten Sie sich, wenn die Diagnose nicht so ist, wie von Ihnen erwünscht? ’ Es wird einfach diese Diagnostik angeboten … Und wenn man nicht genug aufgeklärt ist, dann ahnt man nicht, was da auf einen zukommt.“ Frage 10: „Welche Wünsche haben Sie an Sonderschullehrer/ Psychologen? “ Zu dieser Frage äußerten drei Mütter keine Meinung. Vier weitere Mütter bzw. Eltern konnten ausschließlich von positiven Erfahrungen berichten. Ein Elternpaar wünschte sich von den Regelschullehrern mehr Kompetenzen auf dem Gebiet der integrativen Beschulung, und ein anderes forderte Kooperationsklassen in den örtlichen Regelschulen, da ihre eigene Tochter täglich einen sehr weiten Weg zum nächsten Förderzentrum zurücklegen müsse. Eine Frau wünschte sich einen höheren Stellenwert des Lesens und Schreibens an den Förderschulen. Eine andere Mutter und ein weiteres Elternpaar vermissten die Vermittlung bestimmter Informationen. Im ersten Fall hätte sich die Frau über Hilfen bei der Auswahl der passenden Schulform gefreut. Im zweiten Fall hatten die Eltern nur durch Zufall von der Frühförderung erfahren. Frage 11: „Welche Wünsche haben Sie an die Politik und die Gesellschaft im Allgemeinen? “ Zum einen forderten Eltern mehr Integration im gesellschaftlichen und schulischen Bereich. Zum anderen wünschten sich die Eltern für sich und ihre Kinder mehr Akzeptanz. Eine Mutter und ein Elternpaar wünschten sich eine bessere Aufklärung der Allgemeinbevölkerung sowohl was die Anwendungsproblematik der Pränataldiagnostik als auch die Ursachen und Charakteristika des Down-Syndroms angeht: „Dass viele Sachen, auch über Down-Syndrom, mehr publik gemacht werden. F. geht überall mit hin, aber es gibt noch so viele absolut unwissende Menschen. ‚Das kommt vom vielen Alkohol‘ hat eine Mutter mir einmal erzählt…“. In zwei Interviews wurden die Streichung von Leistungen und der Mangel an Fördergeldern beklagt. Eine andere Frau bedauerte die Notwendigkeit, gegenüber Behörden stets das eigene Recht erstreiten zu müssen: Wolfgang Lenhard et al. 48 VHN 1/ 2006 „Dass Ämter da so reagieren, dass man Sachen nicht genehmigt bekommt, die einem eigentlich zustehen. Man muss sich als betroffene Eltern immer erst informieren. Dann wird das grundsätzlich erst einmal abgelehnt. Da muss man dann immer sagen: Mir steht das aber aus dem oder dem Grund zu. Dann wird es zähneknirschend genehmigt. Das ist schon sehr negativ. Das ist aber das einzige, was wirklich Probleme macht.“ 4 Resümee Die meisten der erfassten Einflussfaktoren spielten in der Entscheidung für das Kind keine Rolle. Weder die Kenntnis des Down-Syndroms noch die Bekanntschaft mit Menschen mit Behinderung noch die Unterstützung durch das soziale Umfeld noch die Kenntnis der Leistungen des sozialen Netzes waren für die Fortsetzung der Schwangerschaft ausschlaggebend. Die meisten Eltern entschieden sich für das Kind, da sie sich bereits vor Inanspruchnahme der Untersuchungen Gedanken zu diesem Thema gemacht und sich zum Austragen der Schwangerschaft entschieden hatten. Die maßgeblichen Beweggründe für die Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs waren grundsätzliche, schon vor der Schwangerschaft feststehende ethische oder religiöse Überzeugungen. Die Ergebnisse zeigen, dass der gesellschaftliche Diskurs über Fragen der Bioethik weiter intensiviert werden muss. Es ist wichtig, dass die Auseinandersetzung mit diesem Themengebiet bereits im Vorfeld einer Schwangerschaft stattfinden muss und nicht erst zu einem Zeitpunkt, wenn werdende Eltern persönlich betroffen sind und sich in einer Notlage befinden. Insbesondere ist es wichtig, in der gynäkologischen Praxis und der humangenetischen Beratung in noch viel stärkerem Maße auf Bedeutung und Konsequenz diagnostischer Untersuchungen hinzuweisen. Im Idealfall sollten sich Eltern bereits über die Bedeutung des ersten Ultraschalls voll im Klaren sein. Eine kompetente Entscheidung für oder gegen die Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik können die Eltern nur dann treffen, wenn eine individuelle Beratung und Aufklärung über etwaige Konsequenzen bereits vorher stattfindet. Weiterhin muss im Falle einer positiven Diagnose eine ergebnisoffen und non-direktiv geführte Beratung stattfinden. Aufgabe darf es nicht sein, ausschließlich auf die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch hinzuweisen, sondern es müssen gleichermaßen Chancen und Perspektiven für das Leben mit einem Kind mit Behinderung aufgezeigt werden. Die Berichte und die Wünsche der Eltern zeigen, dass im medizinischen Bereich zwar viele positive Erfahrungen gemacht wurden, dass aber gleichermaßen enormer Handlungsbedarf besteht. Danksagung Diese Studie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung der BRD finanziert (Fördernummer 01GP0208). Wir danken dem Down- Syndrom Netzwerk Deutschland e.V. und dem Bundesverband Lebenshilfe e.V. für die ideelle Unterstützung. Literatur Binkert, F.; Mutter, M.; Schinzel A. (2002): Impact of prenatal diagnosis on the prevalence of live births with Down syndrome in the eastern half of Switzerland 1980 - 1996. In: Swiss Medical Weekly 132, 478 - 484 Henn, W.; Babo, M.; Böcher, U. P. u. a. (2001): Embryonenschutz: Keine Entscheidung ohne qualifizierte Beratung. In: Deutsches Ärzteblatt 98, A 2088 - A 2089 Hepp, H. (1999): Pränatalmedizin - Anspruch auf ein gesundes Kind? Januskopf medizinischen Fortschritts. In: Hawighorst-Knapstein, S.; Schönefuß, G.; Knapstein, P. G.; Kentenich, H. (Hrsg.): Psychosomatische Gynaekologie und Geburtshilfe: Beiträge der Jahrestagung. Gießen: Psychosozial-Verlag, 23 - 44 Holch, Ch. (1999): Kinder, die es nicht geben soll. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt. Verfügbar unter: http: / / www.sonntagsblatt.de/ artikel/ 1999/ 19/ 19-s8.htm, 28. 10. 2003 Klinkhammer, G. (2003): Pränatale Diagnostik: Engere Grenzen für Spätabtreibungen. In: Deut- Erwartung eines Kindes mit Down-Syndrom 49 VHN 1/ 2006 Wolfgang Lenhard et al. 50 VHN 1/ 2006 sches Ärzteblatt, PP2, 351. Verfügbar unter: http: / / www.aerzteblatt.de/ v4/ archiv/ artikel.asp? i d=37987, 27. 10. 2003 Lenhard, W. (2003): Der Einfluss pränataler Diagnostik und selektiven Fetozids auf die Inzidenz von Menschen mit angeborener Behinderung. In: Heilpädagogische Forschung 29, 165 - 176 Lenhard, W. (2005): Die psychosoziale Stellung von Eltern behinderter Kinder im Zeitalter der Pränataldiagnostik. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät III der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Lenhard, W.; Henn, W.; Ebert, H.; Schindelhauer- Deutscher, J.; Breitenbach, E. (2005): Der Januskopf der Diagnostik: Eltern von Kindern mit Behinderung im Spannungsfeld zwischen Unsicherheit und Ausgrenzung. In: Geistige Behinderung 44, 99 - 114 Lümkemann, R. (2001): Down-Syndrom - die ersten Wochen. Erleben und Bewältigung der Diagnose durch die Eltern behinderter Kinder. Unveröffentlichte Dissertation Homburg/ Saar Mansfield, C.; Hopfer, S.; Marteau, T. (1997): Termination Rates After Prenatal Diagnosis of Down Syndrome, Spina Bifida, Anencephaly, and Turner and Klinefelter Syndromes: A Systematic Literature Review. In: Prenatal Diagnosis 19, 808 - 812 Marteau, T. M.; Slack, J.; Kidd, B.; Shaw, R. W. (1992): Presenting a routine Screeningtest in Antenatal Care: Practice Observed. In: Public Health 106, 131 - 141 Palmer, S.; Spencer, J.; Kushnik, T.; Wiley, J.; Bowyer, S. (1993): Follow-Up Survey of Pregnancies with Diagnoses of Chromosomal Abnormality. In: Journal of Genetic Counseling, 2, 139 - 152 Statistisches Bundesamt (2003): Statis - Die Zeitreihen des statistischen Bundesamtes, Version 1.3 [CD-ROM]. Herausgabe, Herstellung, Softwarerechte und Vertrieb: Bundesdruckerei Wohlfahrt, B. (2002): Gründe und beeinflussende Faktoren für die Fortsetzung der Schwangerschaft nach der Diagnose eines Down-Syndroms. Osnabrück: Der andere Verlag Wolfgang Lenhard Institut für Sonderpädagogik Universität Würzburg D-97074 Würzburg Tel.: ++49 (0) 9 31 8 88 48 65 Fax: ++49 (0) 9 31 8 88 48 91 E-Mail: wolfgang.lenhard@mail.uni-wuerzburg.de PD Dr. Erwin Breitenbach Institut für Sonderpädagogik Universität Würzburg D-97074 Würzburg Tel.: ++49 (0) 9 31 8 88 48 32 Fax: ++49 (0) 9 31 8 88 48 91 E-Mail: spa1020@mail.uni-wuerzburg.de Dr. Harald Ebert Institut für Sonderpädagogik Universität Würzburg D-97074 Würzburg Tel.: ++49 (0) 9 31 4 19 20 Fax: ++49 (0) 9 31 4 19 22 41 E-Mail: J.H.Ebert@t-online.de Joachim Schindelhauer-Deutscher Genetische Beratungsstelle am Institut für Humangenetik Universität des Saarlandes Universitätskliniken, Gebäude 68, 1. OG D-66421 Homburg/ Saar Tel.: ++49 (0) 68 41 1 62 66 12 Fax: ++49 (0) 68 41 1 62 66 00 E-Mail: hghjsd@uniklinik-saarland.de Prof. Dr. Wolfram Henn Genetische Beratungsstelle am Institut für Humangenetik Universität des Saarlandes Universitätskliniken, Gebäude 68, 1. OG D-66421 Homburg/ Saar Tel.: ++49 (0) 68 41 1 62 66 14 Fax: ++49 (0) 68 41 1 62 66 00 E-Mail: wolfram.henn@uniklinik-saarland.de
