Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Liegt Inklusion im Trend?
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Alfred Sander
Kaum hat sich der Begriff Integration in der Heil- und Sonderpädagogik allgemein durchgesetzt, schon tritt mit „Inklusion“ ein neuer Terminus hinzu und provoziert die berechtigte Frage, was er denn genau bedeute.
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51 51 Kaum hat sich der Begriff Integration in der Heil- und Sonderpädagogik allgemein durchgesetzt, schon tritt mit „Inklusion“ ein neuer Terminus hinzu und provoziert die berechtigte Frage, was er denn genau bedeute. In der deutschsprachigen Fachliteratur ist seit fast zehn Jahren immer häufiger von Inklusion die Rede, und das nicht selten in Zusammenhängen, in denen bisher das Wort Integration genügte. Wenn mit Inklusion dasselbe gemeint sein sollte wie mit Integration, dann wäre das neue Wort verzichtbar. Viele Fachleute verwenden die beiden Begriffe jedoch nicht synonym, sondern verstehen Inklusion als eine konsequente Weiterentwicklung von Integration. Was für eine Weiterentwicklung ist gemeint? Ich möchte mit einem historischen Abriss antworten, der fünf Stadien unterscheidet; denn um Entwicklungstrends zu finden, ist es zweckmäßig, größere Zeiträume zu betrachten. Bekanntlich existierte in unserer Kultur und Zivilisation bis vor gut 200 Jahren keine öffentliche Unterstützung für Menschen mit Behinderungen. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, waren behinderte Menschen der privaten Mildtätigkeit oder dem Straßenbettel überlassen. Schulische oder berufsbezogene Ausbildung gab es für sie nicht. Alois Bürli, dessen knappe Darstellung (Bürli 1997, 56) mich anregte, nennt dieses vor-heilpädagogische Stadium zutreffend das der Exklusion. Menschen mit Behinderungen waren in aller Regel von den gesellschaftlichen Einrichtungen ausgeschlossen, insbesondere auch vom Bildungswesen exkludiert. Als in der Aufklärung die grundsätzliche Gleichheit und die Bildungsfähigkeit aller Menschen postuliert worden war, entstanden kurz vor und nach der Französischen Revolution erste dauerhafte Bildungsanstalten für behinderte Menschen. Es waren Heimschulen für gehörlose und für blinde Jugendliche, abgetrennt vom allgemeinen Schulwesen. Damit hatte ihre Exklusion ein Ende gefunden und ihre schulische und berufliche Bildung - wenn auch separiert - begonnen. Das Stadium der Separation war erreicht und breitete sich aus. Die Zahl der Sonderschulen mit oder ohne Heimbetrieb für Jugendliche mit allen Arten körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen nahm im Lauf des 19. Jahrhunderts erst langsam, dann immer schneller zu, und bekanntlich hat besonders in Deutschland die Einführung der Hilfsschule seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute in unzähliger Häufigkeit zu schulischer Bildung in Separation geführt. In den 1960er-Jahren entstand in vielen Ländern der westlichen Welt als Reaktion auf den zunehmenden Neokonservatismus der Generation der Kriegsüberlebenden eine starke gesellschaftskritische Bewegung junger Menschen, die soziale Ungerechtigkeiten anprangerten und zum Teil massiv dagegen kämpften („68er-Bewegung“). In diesem Umfeld wurde schulische 51 Liegt Inklusion im Trend? Alfred Sander Trend Für jedes Heft wird ein Repräsentant oder eine Repräsentantin eines heilpädagogischen Fachgebiets dazu eingeladen, einen persönlich gefärbten Kurzbeitrag zu voraussichtlichen Trends der kommenden Jahre in Forschung, Theorie und Praxis zu verfassen. VHN, 75. Jg., S. 51 -53 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Separation als soziales Unrecht erkannt, insbesondere, wenn sie gegen den Willen der Betroffenen als negative Selektion durchgeführt wurde. So erhob sich heftige Kritik am Sonderschulwesen. „Schulische Aussonderung geht mit gesellschaftlicher Zurücksetzung einher“ (Bleidick 2004, 305). Die Sonderschulvertreter reagierten darauf mit der Zusage, durch vielfältige Formen der Zusammenarbeit mit allgemeinen Schulen künftig die Separation abzubauen. Es begann also die Phase der Kooperation von Sonderschulen mit Regelschulen. Mancherorts verlief sie zwar kreativ und anregungsreich, vielerorts aber nur kümmerlich; insgesamt gesehen blieb sie im Sinne von Separationsminderung unwirksam. Nichtsdestoweniger wird in verschiedenen Regionen bis heute bildungspolitisch auf Kooperation gesetzt. Kooperation sichert den Fortbestand der Sonderschulen und hält ernsthafte Veränderungsansprüche auch von den Regelschulen fern. Die Kritik an schulischer Separation war durch die Einführung der diversen Kooperationsformen nicht gegenstandslos geworden. Zweifel an der pädagogischen Effizienz von Sonderschulen und differenziertere humanitäre Erwägungen (Deutscher Bildungsrat 1973) auf wissenschaftlicher Seite sowie die Durchsetzungskraft von Gruppen junger Eltern „gegen Aussonderung behinderter Kinder“ auf praktisch-politischer Seite führten ab Mitte der 70er-Jahre in der BRD und etwa zeitgleich in vielen westlichen Ländern zur Aufnahme behinderter Kinder in allgemeine Schulen mit sonderpädagogischer Unterstützung. Das Stadium der Integration war erreicht. Seither nimmt die Quote der integrativ unterrichteten behinderten Kinder zu; in Deutschland ist sie aber immer noch viel kleiner als die Quote der in Sonderschulen unterrichteten Schülerinnen und Schüler. Mit andern Worten: Die Stadien der Separation, der Kooperation und der Integration überlappen sich gegenwärtig. Integration musste und muss sich gegen viele Widerstände durchsetzen (vgl. Schnell 2003) und findet besonders in der Schulverwaltung nur wenig Unterstützung. Verwaltungen pflegen tief greifende Reformen nie zu unterstützen. Dennoch kann man mit Preuss-Lausitz (2005, 71) die hinter uns liegenden 30 Jahre Integration durchaus als pädagogische „Erfolgsgeschichte“ bezeichnen: unter anderem, weil nichtbehinderte und behinderte Kinder auf natürliche Weise miteinander umzugehen lernten, behinderten Kindern und Jugendlichen die Separation erspart blieb, nichtbehinderte wie behinderte Kinder dabei leistungsmäßig mindestens ebenso gut gefördert wurden wie in getrennten Schulen und neue Impulse für eine breit wirkende Unterrichtsreform entstanden. Gemeinsamer Unterricht, besonders in seiner zieldifferenten Form, nötigt die Lehrperson zur Beachtung der individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes, er animiert zur unterrichtlichen Binnendifferenzierung, er lenkt den Blick auf spezielle Bedürfnisse und Fähigkeiten auch anderer Schüler und Schülerinnen in der Klasse. An diesem Punkt beginnt das Stadium der Inklusion. Inklusion setzt bei der ganzen Klasse an, inklusiver Unterricht berücksichtigt nicht nur das Integrationskind, sondern ebenso die speziellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Mitschüler, seien es Schwächen oder besondere Begabungen (ausführlicher bei Hinz 2004). In gutem integrativem Unterricht mit Zwei-Lehrer-System war es bisher schon gängige Praxis, dass bald alle Schüler und Schülerinnen vom binnendifferenzierten Lernangebot erfolgreich Gebrauch machten und die Arbeitsweise der ganzen Klasse sich positiv änderte. Daneben gibt es aber immer noch schulische Integration in Form von bloß additiver Beigesellung eines behinderten Kindes ohne weitere Veränderung des Klassenunterrichts. Solche fehlerhaften Integrationsformen entsprechen nicht dem Konzept der Inklusion. Inklusion will verstanden werden als optimierte und erweiterte Integration: optimiert insofern, als Fehlentwicklungen, die den Namen Integration eigentlich nicht verdienen, begrifflich ausgeschlossen werden; und erweitert insofern, als nicht nur Kinder mit Behinderungen gemeint sind, sondern alle Kinder Alfred Sander 52 VHN 1/ 2006 mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen welcher Art auch immer. Inklusion stellt einerseits eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Integrationsbegriff dar und andererseits eine konsequente Einbeziehung der Erfahrungen aus erfolgreicher Integrationspraxis. Ich denke, Inklusion liegt im Trend. Literatur Bleidick, Ulrich (2004): Zukunftsperspektive. In: VHN 73, 305 - 306 Bürli, Alois (1997): Internationale Tendenzen in der Sonderpädagogik - Vergleichende Betrachtung mit Schwerpunkt auf den europäischen Raum. Hagen: Fernuniversität Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission (1973): Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Stuttgart: Klett Hinz, Andreas (2004): Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der Inklusion. In: Schnell, Irmtraud; Sander, Alfred (Hrsg.): Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 41 - 74 Preuss-Lausitz, Ulf (2005): Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven der Integrationspädagogik. In: Sonderpädagogische Förderung 50, 70 - 80 Schnell, Irmtraud (2003): Geschichte schulischer Integration. Gemeinsames Lernen von SchülerInnen mit und ohne Behinderung in der BRD seit 1970. Weinheim/ München: Juventa Prof. Dr. Alfred Sander Mecklenburgring 47 D-66121 Saarbrücken Liegt Inklusion im Trend? 53 VHN 1/ 2006
