Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Wozu Theorie?
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Markus Dederich
Die Behindertenpädagogik und Rehabilitationswissenschaften sind nach geläufiger Vorstellung angewandte Wissenschaften. Sie haben als solche eine dienende Funktion für die Praxis. Vor dem Hintergrund dieses Vorranges der Praxis wird immer wieder die Frage nach der Funktion, dem Sinn und dem Stellenwert der Theoriebildung gestellt. Diese scheinen oftmals nicht nur nicht klar zu sein – vielmehr lässt sich nicht selten die Haltung ausmachen, Theorie sei im Grunde überflüssig oder nutzlos. Demgegenüber möchte ich nachfolgend die schlichte These begründen: Theorie ist, trotz aller mit ihr verbundenen Probleme, unverzichtbar. Im Kern sollen zwei Aspekte des Theoriebegriffs herausgearbeitet werden. Erstens soll ihre kritisch-reflexive Funktion skizziert und begründet werden; zweitens soll gezeigt werden, inwiefern die Theorie als eine „Schule des Sehens“ zu begreifen ist, ohne die eine reflektierte und veränderungsoffene Praxis gar nicht möglich ist.
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Der Begriff Theorie Der Begriff der Theorie hat eine lange und verzweigte Geschichte, die eine Reihe von Bedeutungsverschiebungen und radikalen Umdeutungen mit sich gebracht hat. Aus diesem hochkomplexen Prozess möchte ich nachfolgend einige Aspekte herausgreifen und beleuchten. Einem weit verbreiteten Lexikon zufolge ist „Theorie“ „die umfassende wissenschaftliche Lehre zur einheitlichen Erklärung eines Phänomenbereichs mit dem Ziel der systematischen Ordnung zusammengehöriger Gegenstände“ (DTV-Lexikon 1999, 74). Theorie im wissenschaftlichen Sinn impliziert die Notwendigkeit, Gegenstandsgebiete und Themen einzugrenzen und zu identifizieren, Begriffe zu definieren, Sachverhalte auf methodisch nachvollziehbare Weise zu klären und in Beziehung zu setzen. Sie zielt auf einheitliches, systematisches und kohärentes Erklärungswissen, kurz: auf die Produktion einer Wissensordnung. Dieses Verständnis von Theorie operiert implizit mit einer Trennung von wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen. Jedoch ist 99 Fachbeitrag VHN, 75. Jg., S. 99 -109 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Wozu Theorie? Markus Dederich Universität Dortmund ■ Zusammenfassung: Die Behindertenpädagogik und Rehabilitationswissenschaften sind nach geläufiger Vorstellung angewandte Wissenschaften. Sie haben als solche eine dienende Funktion für die Praxis. Vor dem Hintergrund dieses Vorranges der Praxis wird immer wieder die Frage nach der Funktion, dem Sinn und dem Stellenwert der Theoriebildung gestellt. Diese scheinen oftmals nicht nur nicht klar zu sein - vielmehr lässt sich nicht selten die Haltung ausmachen, Theorie sei im Grunde überflüssig oder nutzlos. Demgegenüber möchte ich nachfolgend die schlichte These begründen: Theorie ist, trotz aller mit ihr verbundenen Probleme, unverzichtbar. Im Kern sollen zwei Aspekte des Theoriebegriffs herausgearbeitet werden. Erstens soll ihre kritisch-reflexive Funktion skizziert und begründet werden; zweitens soll gezeigt werden, inwiefern die Theorie als eine „Schule des Sehens“ zu begreifen ist, ohne die eine reflektierte und veränderungsoffene Praxis gar nicht möglich ist. Schlüsselbegriffe: Theorie und Praxis, Sinn, Funktion und Stellenwert von Theorie, Aspekte des Theoriebegriffs ■ What’s the Use of Theory? Summary: According to a common concept, special educational science and rehabilitation sciences are applied sciences. Consequently they act as „servants“ for practice. Against the background of this precedence of practice, questions concerning the function, the meaning und the importance of generating theories are asked time and again. Apparently quite often there is no definite answer to these questions - and moreover in many cases there can be observed a negative attitude whereby theory is considered futile and superfluous. In contrast to these statements the author tries to give reason for the following simple theses: Despite all the problems involved, theory is indispensable. He elaborates two aspects of the concept of theory: Firstly he delineates and justifies the critical reflexive function of theory and secondly he reveals to what extent theory has to be seen as a „school of seeing“, without which a reflective practice - which is open to changes - is not feasible. Keywords: Theory and practice, function, meaning and importance of theory, aspects of the concept of theory menschliche Erkenntnis dem „Handbuch philosophischer Grundbegriffe“ (1974) zufolge immer theoretische Erkenntnis, wenn sie über eine Feststellung des im Hier und Jetzt Gegebenen hinausgeht. „Das gilt für vorwissenschaftliche, wissenschaftliche und außerwissenschaftliche, formale und materiale, normative und explanatorische, empirische und spekulative Erkenntnis grundsätzlich gleichermaßen. Theoretisch ist menschliche Erkenntnis ihrer Form nach, insofern sie allgemein ist, und ihrem Inhalt nach, sofern sie das jeweils Gegebene (die besonderen ‚Daten‘ einer Problemsituation) transzendiert“ (1486). Dies impliziert, dass auch unser Alltags- und „Allerweltswissen“ (Berger/ Luckmann 1977) theoretisch ist. Es operiert ebenso wie unser wissenschaftlich-professionelles Wissen mit unhinterfragten Annahmen, kollektiven Gewissheiten und Überzeugungen, basiert auf Überlieferung, Erziehung, persönlicher Erfahrung und anderem mehr. Hierauf werde ich weiter unten noch zurückkommen. Betrachten wir nun Theorie im engeren Sinn, also wissenschaftliche Theorie, so erweist sich die Abstraktheit als eines ihrer herausragenden Merkmale. Sie ist mit sinnlicher Wahrnehmung nicht zugänglichen Ideen, Sachverhalten oder Zusammenhängen befasst. Unter anderem hieraus speist sich die ablehnende Haltung von Theorieverächtern. Betrachtet man jedoch die Etymologie, so ist Theorie eng mit dem Sehen verknüpft. Sinnliche Wahrnehmung im Sinne der „aisthesis“ sowie Denken bilden hier noch eine - wenn auch lockere und nicht unproblematische - Einheit. „Theoria“ heißt „Zuschauen, Betrachtung, Untersuchung“. Dahinter steht der griechische Stammbegriff „theoros“, „Zuschauer“ - zusammengezogen aus „thea“: „Anschauen, Schau“ und „horaein“: „sehen“ (vgl. Duden 1989, 743). Aus dieser Sicht betrachtet, ähnelt der Theoretiker einem Zuschauer im Theater: Er befindet sich in einer gewissen Distanz zu dem, was er betrachtet; er sitzt im Dunkeln und verfolgt das in Licht getauchte Geschehen auf der Bühne. Es ist hier gerade die Distanz, welche die Möglichkeit des Sehens, d. h. der Ein-Sicht, des Gewinns einer Erkenntnis, eröffnet. Theorie ist demzufolge ursprünglich eher betrachtend und nicht in erster Linie auf Pragmatik, auf die Hervorbringung von Gestaltungswissen hin angelegt. Abstraktheit, ein notwendiges, zugleich jedoch auch spannungsreiches Verhältnis zur Anschauung und eine gewisse Distanz zum Gegebenen können folglich als zentrale Charakteristika der Theorie verstanden werden. Diese Eigenschaften der Theorie und ihre Implikationen haben in der Geschichte zum Teil gravierende Umdeutungen erfahren. In der Antike und im Mittelalter war die Theorie in gewisser Weise Selbstzweck. Sie war eine kontemplative Tätigkeit, die um ihrer selbst willen betrieben wurde. So unterscheidet noch Thomas von Aquin zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften, die er in eine klare Rangordnung bringt. Letztere, die praktischen Wissenschaften, sind an einem außerhalb ihrer selbst liegenden Nutzen orientiert, und dies macht sie schätzenswert. Die theoretischen Wissenschaften jedoch tragen ihren Zweck in sich selbst, und dies zeichnet sie gegenüber den praktischen Wissenschaften als sowohl gut wie ehrenhaft aus. Nach der radikalen Neuausrichtung des Theoriebegriffs in der Neuzeit, wie er mustergültig von Francis Bacon formuliert wurde, stellt sich dies ganz anders dar. Bei Bacon nämlich wird Wissen mit Macht gekoppelt. Wissen zu schaffen, dient der Erreichung von Zwecken, die außerhalb des Wissens selbst liegen. Das pragmatisch ausgerichtete Wissen dient in seiner Idealform letztlich der Verbesserung von Lebensumständen und dem Wohlergehen des Menschen. Wissenschaft ist hier nicht mehr theoretisch im Sinne der antiken contemplatio, sondern wird zu einer Kunst. Die Theorie stellt, wie Jonas (1994) es formuliert, „ein Wissen um die planvolle Veränderung des Veränderlichen“ (314) bereit. Eine Theorie, die dieses Kriterium nicht erfüllt, wird heute daher häufig nicht nur in eine (negativ bewertete) Opposition zur Praxis gebracht; sie gilt vielen auch Markus Dederich 100 VHN 2/ 2006 als weltfern, kopflastig, sogar nutzlos. Was aber eher pragmatisch ausgerichtete Behindertenpädagoginnen und Behindertenpädagogen gerne ausblenden: Wenn es stimmt, dass Wissen und Macht prinzipiell gekoppelt sind, dann wird es unverzichtbar, auch die praktische Behindertenpädagogik - etwa eine engagierte Pädagogik der „warmen Herzen“ oder lerntheoretisch grundierte Trainingsprogramme - unter Machtgesichtspunkten immer wieder zu reflektieren. Eine weitere Konsequenz des pragmatisch ausgelegten und erfolgsorientierten Theoriebegriffs ist, dass die Wissenschaft selbst von ihrem Vorgehen her praktisch wird, nämlich experimentell. Und schließlich dies: Da Theorie Mittel zum Zweck ist und die eigentlichen Werte die Zwecke sind, zu deren Verwirklichung sie dient, ist sie selbst nach weit verbreiteter Überzeugung wertfrei. Ich werde später noch einmal kurz auf die Frage zurückkommen, ob dies im Kontext einer angewandten Menschenwissenschaft haltbar ist. Theorie steht also in einem Spannungsverhältnis von Selbstzweck und Mittel zum Zweck, von „Schau“ bzw. Kontemplation und Pragmatik. Ich möchte im Folgenden beide Deutungen des Theoriebegriffs als Zugänge zu den Aufgaben der Behindertenpädagogik als Wissenschaft behandeln und auf Implikationen hin befragen. Theorien sind Optiken Legt man die Etymologie zugrunde, befasst sich die Theorie mit der Frage des Sehens, das hier metaphorisch für Erkenntnis steht. In Klammern gesagt: Die metaphorische Rede vom Sehen als Erkennen ist nicht unproblematisch, da sie in unserer Kultur häufig die negativ wertende Verkoppelung von Blindheit mit fehlender Einsicht oder der Unfähigkeit, zu Erkenntnis und Wissen zu gelangen, impliziert. Was bedeutet es nun für eine „Menschenwissenschaft“ (um den schönen Begriff von Norbert Elias [1971] zu verwenden), in diesem Sinne Theorie zu betreiben, d. h. den Menschen - oder besser: die Menschen - anzusehen und dabei ihn/ sie betreffende Phänomene sichtbar zu machen, zu bedenken, zu ordnen und auf diesem Wege vielleicht zu Erkenntnis oder Wissen zu gelangen? Diese Frage stößt uns zunächst auf ein erkenntnisbzw. ein wissenschaftstheoretisches Problem: Was, so ist zu fragen, wird sichtbar, wenn wir sehen? Sehe ich einfach, was da ist, sehe ich es, wie es sich mir zeigt, oder ist etwas so da, wie es mir scheint, weil ich es auf eine bestimmte Weise sehe? Auf welche Weise wird es sichtbar? Welche Faktoren, Variablen, Wirkmächte sind am Werk, wenn etwas auf spezifische Weise sichtbar wird? In welchen Kontexten und vor welchen aktuellen und historischen Horizonten wird es thematisch? Wie wird das, was wir sehen, in Wissen transformiert, und wie formiert unser Wissen das, was wir sehen? In welchen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungstraditionen stehen unser Wissen und unsere Methoden, dieses hervorzubringen, zu begründen und zu prüfen? Wie bringen unsere Theorien das symbolisch hervor, was sie als Themen, Fragen und Probleme behandeln? In der Selbstlegitimation der universitären Ausbildung von Lehrern und Pädagogen wird immer wieder auf die Praxisrelevanz der Theorie verwiesen. Eine dezidierte theoretische Perspektive gilt manchmal geradezu als anstößig, während die „Praxisorientierung“ unhinterfragt als Gütesiegel fungiert - wobei der Begriff der Praxis oftmals genauso unreflektiert bleibt wie jener der Theorie. Gerade angesichts des Primates der Praxis stellen sich jedoch auch Fragen: Wie nehme ich das wahr und wie verstehe ich das, was in meinem praktischen Tun geschieht? Welchen Wissensformen folgt die Praxis? Welche impliziten oder expliziten Theorien, Modelle, Behinderungskonstrukte sind ihr eingelagert? Wie wirken pädagogische Theorien und wissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch institutionelle Traditionen, gesellschaftliche Aufträge und Delegationen in die Praxis hinein? Wozu Theorie? 101 VHN 2/ 2006 Die Reflexion auf solche Rahmenbedingungen, Voraussetzungen und Implikationen der Praxis sowie des Wissens, denen diese Praxis folgt (ein Wissen, das, wie wir weiter oben gesehen haben, auch vorwissenschaftlicher Natur sein kann), könnte man in Anlehnung an Elias (1971) Mythenjagd nennen. Mythenjäger versuchen u. a. „durch Tatsachenbeobachtung nicht zu belegende Bilder von Geschehenszusammenhängen, Mythen, Glaubensvorstellungen und metaphysische Spekulation“ (53) aufzudecken. Eine solche Mythenjagd, so Elias, „die Entlarvung von zusammenfassenden Vorstellungsmythen als faktisch unfundiert, bleibt immer eine Aufgabe der Wissenschaften, denn innerhalb oder außerhalb der Gruppe von wissenschaftlichen Spezialisten verwandelt man wissenschaftliche Theorien selbst häufig genug in Glaubenssysteme“ (54). Folgt man Elias, ist also nicht nur die Praxis eine Art „angewandter Mythologie“; auch die Wissenschaft mit ihrer Wissensproduktion, die eigentlich die Überwindung von Mythen zur Aufgabe hat, droht immer wieder selbst in Mythologie umzuschlagen. Eine Auseinandersetzung mit dieser problematischen Dynamik erfordert es unter anderem, sich mit den Zwecken, Zielen und Folgen theoretischer und angewandter Wissenschaften zu befassen. Wenn Wissenschaft selbst dazu tendiert, in Mythologie umzuschlagen, so ist darüber hinaus zu fragen, welche Selbstbeschreibungen unsere Wissenschaft angesichts ihrer (zugeschriebenen oder selbst beanspruchten) gesellschaftlichen Funktionen hervorbringt. Nun werden sich die Theorieverächter angesichts dieser Überlegungen durchaus bestätigt sehen können. Wenn wir im Sinne der vorangehenden Fragen den Gehalt des Theoriebegriffs zu ergründen suchen, richtet sich unser Blick nämlich zunächst nicht mehr auf die Menschen bzw. die Gegenstände unserer Forschung selbst, sondern auf die Prozesse und Mechanismen der Erzeugung von Wissen. Nicht mehr alleine das Was des Wissens, sondern auch und vor allem das Wie steht nun im Fokus. Wir haben uns fragend auf eine Ebene der Abstraktion hinaufgeschraubt, welche die Phänomene nicht mehr direkt im Blick hat. Dem steht jedoch eine wichtige Einsicht gegenüber: So zeigen die hier aufgeworfenen Fragen, dass theoretisches und praktisches Wissen Optiken gleicht, die uns den „Gegenstand“, den sie erschließen oder „handhabbar“ machen sollen, auf eine bestimmte Weise sehen lassen. Sie führen uns auf einem spezifischen Weg an den „Gegenstand“ heran und machen ihn auch nur auf diese für dieses Wissen (diese Theorie, diese praktische Methode) spezifische Weise zugänglich. Theorien sind ebenso wie Methoden als Optik und als Erkenntnis-Weg zwangsläufig selektiv und perspektivisch begrenzt. Natürlich folgt diese Annahme ihrerseits einer bestimmten theoretischen Blickrichtung. Sie geht, mit Ciompi (1997) gesprochen, von einem obligat beschränkten Horizont sowohl des menschlichen Erkennens im Allgemeinen wie des wissenschaftlichen Wissens im Besonderen aus: „Unser Wissens- und Verstehenshorizont ist unausweichlich begrenzt“ (21). Während wir in unserer Lebenspraxis immer subjektiv das Zentrum unserer Welt sind, führt die Einsicht in die Begrenzung unseres Wissens- und Verstehenshorizontes zumindest auf einer Reflexionsebene nicht nur zu einer „Dezentration unserer Weltsicht“ (ebd.), sondern auch „zur Verneinung jedes absoluten Wahrheitsanspruchs, ja wohl überhaupt jeder Möglichkeit zur Erkenntnis irgendeiner ontologischen ‚Wahrheit an sich‘“ (ebd.). Hieraus ergibt sich folgende wissenschaftstheoretische Kardinalfrage: Wie geht eine wissenschaftliche Disziplin damit um, dass - wie Niklas Luhmann gezeigt hat - die Produktion blinder Flecken konstitutiv für Wissenschaft ist? Wie reflektiert sie die Möglichkeit ihres eigenen Nicht-Sehens? Worüber spricht sie, worüber nicht, und wie tut sie dies? Welche selektiven Redeordnungen und Diskurse sind in ihr am Werk? Diese zuletzt formulierte Frage verweist auf eine weitere Annahme, die meinen Überlegungen zugrunde liegt: Wissen ist stets in historisch gewachsenen Kontexten situiert und wird in ge- Markus Dederich 102 VHN 2/ 2006 sellschaftlichen Institutionen (etwa Universitäten) kultiviert, d. h. verfeinert und gepflegt. Wissen entsteht im Gravitationsfeld von Erkenntnis- und Verwertungsinteressen, in einem gesellschaftlichen, politischen und disziplinären Kontext. Dieser stellt eine spezifische theoretische, begriffliche und methodologische Matrix bereit, welche die Möglichkeitsbedingung für die Produktion von Wissen ist. Theorien eröffnen unseren Blick auf die Welt, grenzen ihn aber zugleich auch systematisch ein. Das heißt aber auch: Die Mechanismen der Theorie- und Wissensproduktion bringen die im Prinzip unendliche Pluralität der Erscheinungsweisen, der möglichen Weisen des Sichtbarwerdens eines „Gegenstandes“ zum Verschwinden. Die Kontextbezogenheit von Wissen verweist auf eine weitere (durch die Hermeneutik inspirierte) Annahme, die den hier formulierten Fragen zugrunde liegt. Erkenntnis und Wissen entstehen nicht aus dem Nichts, sondern sie knüpfen an Vorangehendes und bereits Bestehendes an, sie wurzeln darin wie ein Baum in der Erde, in einem sich dem Blick entziehenden Untergrund. Wissen basiert ebenso auf Vorwissen, wie jedes Verstehen ein Vorverständnis voraussetzt. Dieser Annahme zufolge sind Vorwissen bzw. Vorannahmen, der Prozess der Gegenstandskonstituierung und die Produktion von neuem Wissen zirkulär miteinander verschränkt. Ein zentrales Problem bei der Entwicklung von Theoriekonstruktionen über den (behinderten) Menschen besteht demzufolge darin, dass das, was erst noch zu bestimmen, zu definieren, theoretisch zu begründen oder abzuleiten wäre, häufig in verborgener Form als implizites Modell oder Wissen bereits vorausgesetzt wird. Analoges gilt sicherlich für praktische Förderkonzepte. Um mich überhaupt mit menschlichem Behindertsein beschäftigen zu können, brauche ich bereits eine Vorstellung, eine Idee davon, wie „Behinderung“ (oder seine semantischen Äquivalente) zu verstehen sein könnte. Vorwissen bzw. bestehende Vorannahmen (mitsamt ihren historischen, sozialen, fachspezifischen und individuell-biografischen Einlagerungen) sowie Gegenstandskonstitution sind daher eng miteinander verflochten. Was folgt nun aus diesen komplexen und vielleicht auch kompliziert anmutenden Überlegungen? Aus ihnen folgt die Unverzichtbarkeit einer metatheoretischen, reflexiven und historisch-kritischen Theorieperspektive. Zwar entgeht auch die Einführung von Metaebenen letztlich weder der Horizontbeschränkung, der Kontextabhängigkeit noch der zirkulären Abhängigkeit von Wissen und Vorwissen, sie hilft aber, diese Probleme überhaupt erst sichtbar und bewusst zu machen sowie auf ihre Voraussetzungen, Implikationen und Folgen hin zu reflektieren. Mit Bourdieu gesprochen, folgt aus diesen Fragen für die Behindertenpädagogik wie für die Menschenwissenschaften überhaupt, dass diese „dazu verurteilt sind, nicht nur, wie die Naturwissenschaften, die Erkenntnis eines Objektes zum Ziel zu setzen, sondern auch die Erkenntnis der (ob praktischen oder wissenschaftlichen) Erkenntnis dieses oder jenes Erkenntnisobjekts, ja die Erkenntnis jedes überhaupt möglichen Objekts der Erkenntnis. (…) Sie haben keine andere Wahl, als sich die Erkenntnis von Erkenntnismodi, und zwar ihre historische Erkenntnis, zu erarbeiten, als sie zu historisieren und diese Erkenntnis selbst zugleich der historischen Kritik zu unterwerfen“ (Bourdieu 2001, 106). Dies scheint mir eine erste wichtige Antwort auf die Frage: Wozu Theorie? Über Wissen, Sprache und Repräsentation Im nächsten Schritt meines Gedankenganges möchte ich den bisher sehr allgemein skizzierten Zugang anhand des Begriffs der Repräsentation näher beleuchten. Theorien liefern systematisiertes, ordnendes Begründungs- oder Erklärungswissen über eingegrenzte Fragen- und Themenbereiche. Sie beruhen auf einer möglichst schlüssigen Eingrenzung, begrifflichen Erfassung, Beschreibung und Erklärung ihres Wozu Theorie? 103 VHN 2/ 2006 Gegenstandes. Jedoch sind sie, wie gezeigt, unausweichlich abstrakt und perspektivisch begrenzt. Sie bilden Realität nicht ab, sondern haben einen produktiven, zugleich hervorbringenden und verbergenden Charakter. Indem sie Erkenntnis ermöglichen, schränken sie diese zugleich auch systematisch ein. Damit rückt ein Schlüsselproblem insbesondere der Humanwissenschaften in den Blick: Wie repräsentiert sie ihre Gegenstände - in unserem Fall also: unvertraute, erwartungswidrige, Irritationen auslösende, aus dem Rahmen des Normalen und des Normativen herausfallende Verhaltensweisen, körperliche Gestalten, Kognitionen, Weisen des Lernens, Wahrnehmens und Erlebens? Wie produziert die Behindertenpädagogik Behinderung? Wie Waldenfels (2002 a) zeigt, lässt der Begriff „Repräsentation“ vier verschiedene Bedeutungen zu: „Vorstellung“, „Vergegenwärtigung“, „Darstellung“ und „Stellvertretung“. a) Der Aspekt der „Vorstellung“ verweist darauf, dass etwas als etwas gedacht wird - es ist mit Bedeutung und Sinn versehen. Wenn etwas als etwas repräsentiert oder vorgestellt wird, sind immer Muster, Gestalten, Strukturen oder Regeln im Spiel, die das, was sich zeigt, auf eine bestimmte Art und Weise sehen machen. Das aber heißt: Etwas ist nicht einfach unmittelbar „präsent“, außerhalb der Zeit, kontextfrei und aus bedeutungsstiftenden Horizonten herausgelöst. Diese gehen als Rahmen- und Hintergrundbedingungen in das ein, was sich zeigt - also auch in unsere Theorien von menschlichem Behindertsein und in die Schlussfolgerungen, die wir für die pädagogische, therapeutische und rehabilitative Praxis daraus ziehen. b) Repräsentation als „Vergegenwärtigung“ bedeutet, dass etwas, das „nicht zeitlich-räumlich gegenwärtig ist, (…) vergegenwärtigt“ wird (155). Etwas wird gedanklich oder als Vorstellung vergegenwärtigt, ohne gegenwärtig zu sein. In dieser Hinsicht verweist „Repräsentation“ auf eine paradox anmutende Situation: Die Anwesenheit des Abwesenden. Dies ist ein beständiges, quasi chronisches Problem der universitären Lehre. Auch die Lehre, die gerne Praxisnähe für sich in Anspruch nimmt, hat bisher - wenn überhaupt - nur ansatzweise Lösungen für dieses Problem gefunden. c) Die Bedeutungsdimension der „Darstellung“ kommt in den Blick, wenn etwas durch und mit Hilfe von Medien dargestellt und erfahrbar wird. Repräsentation ist in diesem Sinne symbolische Vermittlung etwa durch die Schrift oder das gesprochene Wort. Hier rücken Begrifflichkeiten und Fachtermini, Regeln der Formulierung wissenschaftlicher Aussagen, Hypothesen und Schlussfolgerungen oder die Produktion von Texten in den Blick. Ebenso bedeutsam sind aber auch Bilder, Film- oder Tonaufzeichnungen, die etwa im Rahmen der empirischen Forschung häufig zum Einsatz kommen. Von zentraler Bedeutung in diesem Kontext ist, dass es eine medienfreie, gleichsam „unschuldige“ Repräsentation nicht gibt. In diesem Sinne sind nicht nur Texte, sondern beispielsweise auch die Statistik der quantitativen Forschung Medien, die das, was sie abbilden sollen, transformieren. Das, was durch das Medium repräsentiert werden soll, und die Art und Weise, wie es mittels des Mediums repräsentiert wird, sind nicht mehr sauber zu trennen. Dies ist ein forschungsmethodisches Kardinalproblem, das in vielen theoretischen und empirischen Arbeiten unseres Fachs merkwürdig unreflektiert bleibt. d) Schließlich ist die Repräsentation im Sinne der politischen und juristischen „Stellvertretung“ zu nennen. Hier taucht vor allem die Frage auf, „woher die Vertretende Instanz die Autorität nimmt, für andere zu sprechen und zu entscheiden“ (157) - auch dies eine Frage, die insbesondere behinderte Menschen selbst auf eindringliche Weise an unsere Wissenschaft zu richten begonnen haben und auf die wir noch viele Antworten schuldig sind. Markus Dederich 104 VHN 2/ 2006 Waldenfels schlägt vor, „Repräsentation“ als „diskursive Ordnung der Erfahrung“ (157) zu fassen. Dieser Zugang wirft eine Reihe von Fragen auf: „(1) Als was, in welchem Sinne, in welcher Bedeutung tritt das auf, was zur Erscheinung und zur Sprache kommt? (2) In welchen raum-zeitlichen Kontexten geschieht dies und (3) in welchen Medien? (4) Wer spricht, wenn etwas zur Sprache kommt? “ (ebd.). Diese Problematisierung der Repräsentation zeigt zumindest dreierlei: 1. Schrift und Sprache sind ebenso wie Methoden und Theorien „nicht in einer vorgängigen Ordnung der Dinge begründet, sondern bringen eine Ordnung der Dinge erst hervor“ (Bublitz 2003, 3). In Repräsentationen sind nicht nur „Vorstellungen, Bilder und Kodierungskonventionen“ (30) eingelagert, sondern sie haben einen wirklichkeitserzeugenden, produktiven Charakter: Medien und Zeichenordnungen bringen „symbolisch, sprachlich und diskursiv das hervor, was sie symbolisieren oder ‚bezeichnen‘“ (ebd.). 2. Was immer durch Repräsentation „zur Erscheinung, in den Blick, zur Sprache kommt“ - es wird durch die Modi der Repräsentation nicht ausgeschöpft. Es bleibt ein uneinholbarer Überschuss, eine Differenz, die sich der Repräsentation, dem Wissen und Zugriff entzieht (vgl. Waldenfels 2002 b, 34). Waldenfels nennt dieses Phänomen „repräsentative Differenz“ (ebd.). Hier stoßen die Möglichkeiten unseres Wissens an eine, wie es scheint, prinzipielle Grenze - die aber häufig nicht als solche wahrgenommen und anerkannt wird. 3. Offensichtlich ist Repräsentation mehr als eine getreue, adäquate abbildliche Wiedergabe dessen, was uns zeigt -„und darin liegt die ihr inhärente ‚Gefahr‘ -, dass die Repräsentation eine trügerische, (...) entstellende Macht aufweist, die mehr zu tun scheint, als bloß zu repräsentieren“ (Därmann 2002, 14). An diesem Punkt tut sich ein großes Themen- und Problemfeld der Behindertenpädagogik und Rehabilitationswissenschaften auf: etwa die Frage nach der impliziten Gewaltförmigkeit von Wissensordnungen, Theorien und pädagogischen Konzepten oder die Frage nach der implizierten Gewaltsamkeit, die Verstehensprozessen eingelagert sein kann. Ist es überhaupt möglich, ein adäquates Wissen vom anderen Menschen zu erlangen und diesen zu verstehen? Oder kann dies nur gelingen, wenn eine als gemeinsam unterstellte Lebens- oder Wissensordnung zugrunde gelegt wird, auf die das, was der Andere zeigt oder äußert, bezogen werden kann? Anders gefragt: Ist ein Verstehen möglich, das über die Grenzen meiner Lebensform, meiner Überzeugungen, meines Wissens und meiner Art, die Welt und den Menschen zu sehen, hinausgeht? Aus den mit der Repräsentation verknüpften Problemen ergibt sich eine m. E. zentrale Frage: Wie sind eine Annäherung an und ein verstehendes Wissen über den anderen Menschen möglich, ohne ihn symbolisch zu vereinnahmen und einer Wissensordnung einzupassen? Hier schreiten wir auf einem sehr schmalen Grat. Auf der einen Seite besteht die Notwendigkeit eines Wissens vom anderen Menschen, das sich seiner eigenen Grenzen bewusst bleibt, und auf der anderen die Möglichkeit einer theoriegeleiteten gewaltsamen Aneignung. In der Praxis der Erziehung, Therapie, Förderung, Begleitung und Beratung brauchen wir - gleichsam als Kompass - ein verlässliches, theoretisch fundiertes und empirisch abgestütztes Wissen. Zugleich müssen wir dabei der Tatsache eingedenk bleiben, dass ein solches Wissen immer nur vorläufig, hypothetisch und unvollständig ist und notwendig auch bleiben wird - dass der Andere nicht mit unserem Wissen um ihn identisch ist, unser Verstehen ein perspektivisches, begrenztes und vorläufiges ist. Angesichts der Unausdeutbarkeit des anderen Menschen wird die Frage für pädagogische und helfende Berufe, für Wozu Theorie? 105 VHN 2/ 2006 die Erziehung, Rehabilitation, Therapie und Beratung zentral: Wie ist es möglich, sich ihm anzunähern, ohne sich in einem Netz theoriegesteuerter Projektionen zu verfangen und ohne den anderen Menschen seiner Einzigkeit, seiner Singularität zu berauben. Dieses Problem stellt sich auch und gerade vor dem Hintergrund von Ökonomisierungstendenzen und eines ausgeprägten Nützlichkeitsdenkens, die auch unseren Arbeitsbereich zunehmend unter Druck setzen. Ist so etwas wie eine angemessene, den anderen Menschen nicht verfehlende Form des Zugangs und der Repräsentation möglich? Eine Antwort auf diese Frage könnte sich durch einen Blick auf den Zusammenhang zeigen, der zwischen Repräsentation und Erfahrung besteht. Repräsentation und Erfahrung Als angewandte Menschenwissenschaft ist die Behindertenpädagogik notwendig Erfahrungswissenschaft. Gemeinhin wird Erfahrung mit Empirie gleichgesetzt. Diese verkürzende Deutung wird dem, was ein phänomenologischer Zugang zur Erfahrung freilegt, jedoch keineswegs gerecht. Zunächst gilt es, die Aufspannung der Erfahrung zwischen den Polen Gewöhnung und Überraschung zu beachten: „Die Polarisierung kann bis ins Extrem führen, so dass wir auf der einen Seite mit Klischees und Stereotypien, auf der anderen mit Störungen, Verwirrungen und Erfahrungsschocks konfrontiert werden“ (Waldenfels 2002 b, 30f). Des Weiteren kann man mit Waldenfels zwei Varianten von Erfahrung unterscheiden: eine schwache und eine starke. Die schwache Variante verläuft in mehr oder weniger festen Bahnen, die unsere Erwartungen, Vorentwürfe und Vorannahmen, die Art und Weise, wie wir etwas erfahren, entweder bekräftigt oder verändert, die erfahrenden Subjekte selbst aber unberührt lässt. Die starke Variante hingegen verweist auf Erfahrungen, „die uns und unsere Welt verändern“ (30). Betrachten wir die starke Variante der Erfahrung, zeigt sich die zirkuläre Verschränkung von Subjekt, „Gegenstand“ und Erfahrung. Starke Erfahrungen sind produktiv, weil sie unsere Gewissheiten erschüttern, die Weisen unseres Sehens in Frage stellen. Sie sprengen Öffnungen in die Gehäuse unseres Wissens und unserer Theorien und können so zu einem Ausgangspunkt für eine neue Annäherung werden. Dabei steht auch jede neue Erfahrung immer wieder in Gefahr, sich übermäßig zu verfestigen und nach außen hin abzudichten. Dennoch haben starke Erfahrungen das Potential, unsere Theoriearbeit auf eine neue Spur zu setzen. Dieser These zufolge sind es gerade auch außerwissenschaftliche Ereignisse, eben Störungen, Verwirrungen und Erfahrungsschocks, die Theoriearbeit befruchten und in Bewegung bringen. Indem sie uns verändern, verändern sie unsere Weise, die Dinge anzusehen. Dies bringt mich zu einem weiteren zentralen Aspekt des Theoriebegriffs. Theorie als Schule des Sehens und Anders-Denkens Wie ich einleitend gesagt habe, beinhaltet der Begriff der Theorie auch das Moment des Sehens, das für unser Verständnis von Theorie ebenfalls relevant ist. Es verweist auf eine phänomenologisch geschulte praktische Sehweise - den Versuch, sich aus der Umklammerung ritualisierter und verfestigter Sehweisen, die gesellschaftliche und kulturelle Vorurteile und Überzeugungen, wissenschaftliche Gewissheit und professionelle Abgeklärtheit allzu leicht mit sich bringen, zu befreien. Die Theorie als Schule des Sehens ist der Versuch, der oftmals latenten und unbemerkten Gewaltförmigkeit unseres Wissens inne zu werden, sich daran zu erinnern, dass unser Wissen und das, worauf es sich bezieht, niemals ganz und endgültig zur Deckung kommen können. Ganz wichtig für die Entwicklung einer solchen Haltung ist die Kultivierung einer echten Neugier - einer Neugier, die, wie Foucault 1984 Markus Dederich 106 VHN 2/ 2006 in seinem Buch Der Gebrauch der Lüste formuliert, nicht auf Aneignung des Zu-Erkennenden hinausläuft. Gemeint ist vielmehr eine Neugier, „die es gestattet, sich von sich selbst zu lösen. (…) Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist“ (15). Die Aufgabe eines Denkens über den Menschen ist demnach nicht, bereits Gewusstes zu rechtfertigen, sondern die Anstrengung auf sich zu nehmen „zu wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken“ (ebd.). Die Theorie als Schule des veränderten Sehens und Denkens hat, folgt man Foucault, auch eine ethische Seite. Er schreibt: „Es ist immer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den anderen vorschreiben und vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt… Aber es ist sein Recht, zu erkunden, was in seinem eigenen Denken verändert werden kann, indem er sich in einem ihm fremden Denken versucht“ (15f). Was folgt aus diesem Zugang zum Begriff der Theorie? Er ist ein Plädoyer für einen Prozess des Sich-Lösens - von vorgefassten Erwartungen, lieb gewonnenen Gewissheiten, der Neigung zum Besserwissen, allzu entlastenden Routinen des Wahrnehmens, Denkens, Forschens und auch selbstgewissen moralischen Urteilens (einer in der Behindertenpädagogik recht weit verbreiteten Neigung). Er setzt uns einer tiefgreifenden Erschütterung aus, die entstehen kann, wenn wir uns immer wieder in Frage stellen lassen: von der Sperrigkeit, den sich dem schnellen Zugriff entziehenden Aspekten der Erfahrung des anderen Menschen; von seiner Vielgestaltigkeit und Einzigkeit; von der Einsicht, dass Wissen und Nichtwissen immer Hand in Hand gehen - dass wir am Grunde unseres Wissens nicht auf einen Fels stoßen, sondern entdecken, dass die Gebäude unserer Gewissheiten auf dem unsicheren Boden der Kontingenz aufgebaut sind. Natürlich entgehen auch starke Erfahrungen im vorab vorgeschlagenen Sinn und der Versuch, anders zu denken, nicht der Horizontbegrenzung, der Produktion blinder Flecken und den Tücken der Repräsentation. Jedoch können die Reflexivität der Theorie und die Bereitschaft, sich für starke Erfahrungen zugänglich zu machen, unser Wahrnehmen und Denken beweglich und veränderungsoffen halten. Theorie und (Aus-)Bildung Beide skizzierten Annäherungen an den Theoriebegriff, also die kritisch-reflexive und die phänomenologische des möglichst unvoreingenommenen „Sehens“, spielen zusammen: im Widerstand gegen die Festschreibung dessen, was sich der Festschreibung entzieht, gegen die unreflektierte und fremdheitsresistente Fixierung auf totalisierende Sichtweisen und „vorgängige Denkbegrenzungen“ (Schneiders 1999, 22), gegen die Einengung, Einhegung und Einfrierung von Wissen, von Konzepten und Methoden pädagogisch-therapeutisch-rehabilitativer Praxis. Die Behindertenpädagogik birgt die Gefahr zu Totalisierungen, zur Produktion und Legitimation von Normalisierungseffekten und gesellschaftlichen Ordnungen, die das Außerordentliche und Singuläre ausschließen und so an der Pathologisierung und Marginalisierung von Menschen mitwirken. Sie ist historisch gesehen auf kaum entwirrbare Weise zugleich Sachwalterin und Kritikerin der historisch-gesellschaftlichen Konstruktion und Verbesonderung von menschlichem Behindertsein. Deshalb muss sie immer wieder einer radikalen Kritik unterzogen werden, etwa der Kritik, wie sie durch Menschen mit Behinderungen oder Vertreterinnen und Vertreter der Disability Studies formuliert wird (vgl. z. B. Linton 1998). Die Fragen, die ich vorab formuliert habe, sind genau dies: Werkzeuge der Reflexion und Kritik. In diesem Sinne hat die Theorie eine Störfunktion für die Behindertenpädagogik - ihre Aufgabe wäre ein Beitrag zu einer zugleich kritischen und produktiven Störung reibungs- Wozu Theorie? 107 VHN 2/ 2006 loser Normalität des Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Wie ich einleitend gesagt habe, ist die Behindertenpädagogik angewandte Wissenschaft. Ihr eigentlicher Sinn ist die Begleitung, planerische und prognostische Unterstützung, Evaluation, Kritik und Verbesserung der praktischen (pädagogischen, unterstützenden, begleitenden, therapeutischen, rehabilitativen) Arbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Schwierigkeiten und Behinderungen. Die Theorie ist daher Mittel zum Zweck, dem Zweck nämlich, Unterstützung in schwierigen Lebenslagen bereitzustellen und Lebensbedingungen zu verbessern. Diesen Zweck aber kann sie nur erfüllen, wenn sie, zumindest zeitweise, die Phänomene und Probleme der Praxis aus der Distanz betrachtet, befragt und analysiert, ohne in eine vorschnelle Pragmatik zu verfallen. Wenn die pragmatische Ausrichtung der Theorie letztlich auf Verbesserung abzielt, stellt sich jedoch sofort die Frage: Was bedeutet Verbesserung? Damit kann vieles gemeint sein, etwa ein Mehr an individuellem Glück, Bildung, Selbstverwirklichung, Kompetenzerwerb, sozialer Anpassungs- und Leistungsfähigkeit und anderes mehr. Die Frage nach den Zwecken der Theorie ist, so zeigt sich hier, untrennbar mit Werten verbunden. „Die Ermahnung, die Wissenschaft im Interesse des Menschen zu nutzen und in seinem besten Interesse, bleibt solange leer, als es unbekannt ist, was das beste Interesse des Menschen ist“ (Jonas 1994, 338). Eine Befassung mit der Frage nach den mit den Zwecken einer Wissenschaft verbundenen Werten ist somit unausweichlich, selbst wenn eine endgültige Antwort nicht zu erwarten ist. Die Problematisierung von Zwecksetzungen und Werten ist daher auch Voraussetzung für die Entstehung neuer Fragen, die Weiterentwicklung oder radikale Kritik von theoretischen Perspektiven und die Ausarbeitung neuer Konzeptionen, die pädagogische und rehabilitative Praxis befruchten und verändern. All dies ist auch für die Ausbildung von Pädagogen, Sozialarbeitern, Erziehern und Therapeuten von zentraler Bedeutung. Ich habe versucht anzudeuten, dass theoretisches Denken und eine Praxis des Wahrnehmens und praktischen Urteilens sich keineswegs ausschließen. Die Theorie hat eine bedeutsame Sensibilisierungsfunktion in Bezug auf pädagogisches und therapeutisches Denken, Wahrnehmen und Handeln - und wenn ihr dies nicht gelingt, ist sie in unserem Feld weitgehend sinnlos. Wenn Theorie nicht nur systematisiert, erklärt, fixiert und festschreibt, sondern auch zu einer Bewegung des Sich-Öffnens, des Übersich-Hinausgehens führt, dann kann sie einen wichtigen Beitrag zu einer Persönlichkeits- und Menschenbildung Studierender der Sonderpädagogik und der Rehabilitationswissenschaften leisten, um die es nach meiner Überzeugung in unserem Arbeitsbereich im Kern geht. Theorie sollte in der Tat nicht als Selbstzweck betrieben werden. Zugleich aber muss sie sich immer wieder auch von den Zwängen und Engführungen der Pragmatik, des Erfolgs, der zweckrationalen Umsetzbarkeit freimachen. Gerade hierin, in ihrer reflexiven Distanz zur Praxis - was hier auch heißt: zur Praxis der Hervorbringung und Reproduktion von Wissen - kann sie einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung von Urteilsfähigkeit leisten, und zwar einer reflexiven Urteilsfähigkeit über pädagogische und therapeutische Konzepte, Menschenbilder, anthropologische Thesen, institutionelle Regeln und Funktionsweisen, tradierte Überzeugungen, die diskursive und normalisierende, d. h. Zwang ausübende Dimension praktischen Handelns u. a. m. Hieraus erwächst ebenso ein Komplexitäts- und Kontingenzbewusstsein wie eine Sensibilität für Ambivalenzen und Aporien pädagogischen Handelns. Ein behutsamer, sensibler und reflektierter Umgang mit Theorien und Praxiskonzepten kommt aber auch - und dies ist der wichtigste Punkt - den Menschen zugute, die letztendlich den Bezugspunkt unserer Arbeit bilden oder zumindest bilden sollten. Markus Dederich 108 VHN 2/ 2006 Literatur Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas (1977): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt Bublitz, Hannelore (2003): Diskurs. Bielefeld Ciompi, Luc (1997): Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen Därmann, Iris (2002): Fremderfahrung und Repräsentation. In: Därmann, Iris; Jamme, Christoph (Hrsg.): Fremderfahrung und Repräsentation. Weilerswist, 7 - 46 DTV-Lexikon (1999) Band 18. München Duden (1989): Herkunftswörterbuch. Mannheim/ Wien/ Zürich Elias, Norbert (1971): Was ist Soziologie? München Foucault Michel (1984): Histoire de la sexualité. Vol. 2: L’usage des plaisirs. Dt. Ausgabe (1989): Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt/ M. Jonas, Hans (1994): Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. 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