eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Lebensweltorientierung in der Behindertenhilfe

41
2006
Klaus Grunwald
Hans Thiersch
Die Rede von Lebenswelt und Orientierung an der Lebenswelt ist in der sozialen und pädagogischen Arbeit ubiquitär. Unterschiedlichste Programme meinen sich als lebensweltorientiert ausgeben zu können, Lebensweltorientierung sei das, was man sowieso tue. Andere Programme verweisen auf ihre lebensweltliche Komponente; neben den – wie es heißt – streng methodischen Konzepten arbeite man natürlich lebensweltorientiert, es sei dem gesunden Menschenverstand geschuldet, dass man alltagsnah agiere. Diese Sicht scheint uns gerade auch in therapeutischen und/oder medizinisch orientierten Kreisen nicht selten vertreten.
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Die Rede von Lebenswelt und Orientierung an der Lebenswelt ist in der sozialen und pädagogischen Arbeit ubiquitär. Unterschiedlichste Programme meinen sich als lebensweltorientiert ausgeben zu können, Lebensweltorientierung sei das, was man sowieso tue. Andere Programme verweisen auf ihre lebensweltliche Komponente; neben den - wie es heißt - streng methodischen Konzepten arbeite man natürlich lebensweltorientiert, es sei dem gesunden Menschenverstand geschuldet, dass man alltagsnah agiere. Diese Sicht scheint uns gerade auch in therapeutischen und/ oder medizinisch orientierten Kreisen nicht selten vertreten. Solchem diffusen und banalisierenden Reden von Lebenswelt und Lebensweltorientierung gegenüber ist es notwendig, darauf zu insistieren, dass Lebensweltorientierung ein sozialpolitisch und pädagogisch ausgewiesenes Theoriekonzept ist, das eine spezifische Sicht auf Lebensprobleme mit institutionellen und professionellen Konsequenzen verbindet. Auf der Grundlage interaktionistischer und gesellschaftstheoretischer Ansätze und im Horizont einer hermeneutisch-pragmatischen Erziehungswissenschaft und Sozialen Arbeit entwickelt es Kriterien zur Kritik an Institutionen und Strukturen heutiger Sozialer Arbeit und entsprechenden Professionalisierungsmustern und zum Entwurf von institutionellen Arbeitsstrukturen, die heutigen Lebensverhältnissen angemessen sind. Im Folgenden soll nun skizzenartig zunächst in einer - allerdings eigentlich unerlaubten - Verkürzung eine Lesart des Begriffs der Lebensweltorientierung umrissen werden, die in der Sozialen Arbeit seit den 70er Jahren entwickelt worden ist, um dann in einem zweiten Schritt einige Konkretisierungen von Anschlussstellen dieses Konzepts zu der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen sowie zu sonder- und heilpädagogischen Paralleldiskussionen anzudeuten. Die Philosophie der Lebensweltorientierung als wissenschaftliches Konzept Soziale Arbeit in der Moderne zielt in Konstellationen von Not, Ausgrenzung und Verunsicherung auf Integration und Normalisierung. Sie ist darin auch ein Moment der gesellschaftlichen Realisierung des Projekts Soziale Gerechtigkeit; es müssen - so hat es Sen im „Capability Approach“ gefasst (2002) - Lebensbedingungen geschaffen werden, damit Menschen ihre Rechte und Beteiligungschancen überhaupt wahrnehmen können. Im Arbeitsverbund der modernen Gesellschaft agiert Soziale Arbeit neben zum Beispiel der Sozialpolitik, der Medizin oder neben anderen pädagogischen Disziplinen im spezifischen Auftrag, Lebensräume und -kompetenzen zu unterstützen, in denen Menschen sich als Subjekte ihrer selbst erfahren können. Diesen spezifischen Auftrag konkretisiert das Konzept Lebensweltorientierung, indem sie im Medium der gegebenen Lebensverhältnisse agiert (vgl. Grunwald/ Thiersch 2001). Sie sieht Menschen bestimmt durch ihre subjektiven Deutungs- und Handlungsmuster und geprägt durch die Erfahrung in Raum, Zeit und sozialen Bezügen. Menschen sind engagiert in der Pragmatik von Bewältigungsaufgaben, gerade auch in dem oft unterschätzten und „schmud- 144 Lebensweltorientierung in der Behindertenhilfe Das Reden von Lebensweltorientierung ist ubiquitär Klaus Grunwald, Hans Thiersch Trend VHN, 75. Jg., S. 144 -147 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel deligen“ Alltag. Lebenswelt ist aber immer auch befangen in unzulänglichen Ressourcen, bornierter Enge und Machtstrukturen. Lebensbewältigung ist - so verstanden - Kampf um Anerkennung in den Widersprüchlichkeiten der Lebenswelt. Auf diese Widersprüchlichkeiten bezieht sich Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, sie steht in der Spannung von Respekt vor gegebenen Alltagsstrukturen und Destruktion der Pseudokonkretheit des Alltags (vgl. Kosik 1967). Respekt gilt der Eigensinnigkeit der Lebenswelt, Destruktion gilt der Kritik und Überwindung ihrer Borniertheiten. Respekt meint also die Anerkennung der Vitalität und Leistung in der Bewältigung gerade auch von schwierigen, unglücklichen oder unzureichenden Lebensmustern. Die Destruktion des Pseudokonkreten zielt dagegen auf die Entwicklung der Voraussetzungen für einen gelingenderen Alltag, in dem die individuellen Optionen im Horizont sozialer Gerechtigkeit verstanden werden. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit berücksichtigt die Unterschiedlichkeit von Perspektiven und agiert im Medium der gemeinsamen Verhandlung, um einen erreichbaren und tragfähigen Lebensentwurf zu finden. In solchen Verhandlungen versteht sich Lebensweltorientierung als selbstkritisch gegenüber der in aller Pädagogik, Institution und Professionalität strukturell angelegten Gefahr einer Überlegenheit, welche die eigene Forderung nach Respekt vor der Eigensinnigkeit der Lebensmuster der Adressat/ innen einengt und unterläuft. Das Konzept Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit hat sich im Lauf der Jahre durchgesetzt im Kampf gegen eine alte, disziplinierende Fürsorge, die Soziale Arbeit strukturiert sich als Dienstleistung, also als Einlösung von Rechtsansprüchen, in den Prinzipien von Prävention, Alltagsnähe, Dezentralisierung/ Regionalisierung, Vernetzung, Integration und Partizipation. Darin aber bilden sich neue Formen einer fürsorglichen Belagerung, nun bestimmt durch die sublime Hegemonie der Eigenlogik von Institutionen und Professionen. In ihrem prinzipiellen Ausgang von der Adressat/ innenperspektive insistiert Lebensweltorientierung auf der Notwendigkeit immer neuer Anstrengungen um eine selbstkritische Vermittlung von institutionellen und professionellen Ressourcen mit der Adressatenperspektive. Dem entsprechen Konzepte der Lernenden Organisation, die auf der Permanenz von kommunikativen Reform- und Lernprozessen insistieren, die jenseits aller Selbstreferentialität sich den Herausforderungen der Adressat/ innen und der Umwelt gleichermaßen stellen (vgl. Grunwald 2001). Die in diesem Horizont sich stellenden Aufgaben sind beträchtlich. Die Spannung zwischen Konzept und vorfindbarer Realität in der Sozialen Arbeit ist oft verzweiflungsvoll groß. Die Schere zwischen Selbstanspruch und Realität öffnet sich aktuell auch im Kontext von Sparzwängen und einer neokonservativen Politik der Dethematisierung von sozialen Problemen und Lebensschwierigkeiten. Gerade diesen aktuellen Entwicklungen gegenüber ist es notwendig, auf konzeptuellen Ansprüchen zu bestehen. Diese aber müssen, um glaubwürdig zu sein, konkretisiert werden, auch in den in ihnen liegenden Widersprüchen. Wir wollen es im Folgenden nun aber nicht für unser angestammtes Gebiet, die Soziale Arbeit, skizzieren (vgl. Thiersch 2002; 2005; Grunwald/ Thiersch 2004; vgl. Böhnisch/ Schröer/ Thiersch 2005), sondern - dieses gleichsam überspringend - uns nun auf Anschlussstellen und Parallelen zu Diskursen in der Behindertenhilfe beziehen. Konkretisierungen Eine Kernfigur der Lebensweltorientierung, die Spannung von Respekt vor gegebenen Alltagsstrukturen und Destruktion der Pseudokonkretheit des Alltags, ist auch für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen konstitutiv. Die Destruktion der Pseudokonkretheit ist nötig als Motivation und Provokation, um Möglichkeiten eines gelingenderen Alltags freizusetzen. Sie aber steht in der Gefahr, an eine Tradition anzu- Lebensweltorientierung in der Behindertenhilfe 145 VHN 2/ 2006 knüpfen - ja, diese zu stützen - die gerade den Verweis auf bessere Verhältnisse immer wieder zur autoritären Durchsetzung gesellschaftlicher Normerwartungen benutzt hat. Es braucht den Respekt gegenüber den Arbeitstraditionen, die im Namen und Auftrag allgemeiner Normen Anpassung, Sozialdisziplinierung und Stigmatisierung praktizieren. Respekt vor der Eigensinnigkeit von Lebensverhältnissen bedeutet vor allem das stete Bemühen um die Anerkennung der Unterschiedlichkeit lebensweltlicher Erfahrung, also ein Wissen darum, dass mir im Anderen auch immer der Fremde begegnet; Respekt muss - allen professionellen Verstehensmustern und Arbeitsaufträgen gegenüber - das Andere als Fremdes akzeptieren und stehen lassen können. Auch in der Praxis des Respekts liegen aber wiederum Gefährdungen. Die im Respekt liegende Zurückhaltung in Bezug auf Destruktion und den Entwurf von Optionen kann dazu dienen, sich vorschnell zu entlasten, die eigene Untätigkeit und Phantasielosigkeit vor sich zu entschuldigen oder im Verweis, dass jeder für sich selbst zuständig sei, gleichsam professionell zu kaschieren und zu legitimieren. Eine besondere Verführung kann in diesem Zusammenhang darin liegen, angesichts der so oft gegebenen Gutartigkeit und - vielleicht teils anerzogenen - Zufriedenheit vieler Menschen mit Behinderungen, sich nicht auf einen Kampf um bessere Möglichkeiten einzulassen und sich mit Bewältigung, Ausweichstrategien und Dankbarkeit zu begnügen. Pädagogik darf aber solchen Tendenzen nicht erliegen und muss darauf insistieren, dass Möglichkeiten zur Artikulation eigensinniger Interessen und zur Partizipation freigesetzt und ermutigt werden, um so Chancen zu einem gelingenderen Alltag zu entwickeln (vgl. Thimm 1995; Metzler/ Wacker 2001; Metzler 2004). Lebensweltorientierte Diagnosen sehen den Menschen in der Auseinandersetzung und im Kampf um Anerkennung in seiner Lebenswelt. Dieses komplexe Vorhaben muss gegen Verengungen gesichert werden. So haben sich Konzepte der Frühförderung durch Jahre hinweg dahingehend geöffnet, dass Frühförderung es nicht nur mit einem gehandicapten Kind zu tun hat, mit dem es in bestimmten Programmen zu üben und zu trainieren gilt, sondern dass dieses Kind immer Kind einer Familie ist, in der Eltern und Geschwister leben, die eingebettet ist in nachbarschaftliche und soziale Beziehungen. Frühförderung, so gesehen, muss - so strapazierend es auch sein kann, wenn sich die Aufgaben derart öffnen - die Arbeit mit dem Kind verbinden mit der Arbeit in den Verhältnissen und an ihrer Veränderung (vgl. Seemann 2003). Die Frage nach den Verhältnissen dramatisiert sich, wenn die Lebenswelt der Adressat/ innen von Randständigkeit bedroht ist und daraus gravierende Probleme der Vernachlässigung oder Überforderung resultieren. Klein klagt angesichts der nach wie vor herrschenden Beschränkung der Diagnosen von Behinderungen auf medizinisch-psychologische Probleme die fehlenden sozialen Diagnosen ein (vgl. 2004). Er verweist darauf, dass ein Großteil der in die Sonderschule überwiesenen Kinder zuvor keine soziale Hilfe erfahren haben, dass also die für die Entwicklung entscheidenden frühen Jahre ganz offensichtlich in ihren für die Kinder so verhängnisvollen lebensweltlichen Strukturen nicht zum Anlass genommen wurden, rechtzeitig Hilfe zu arrangieren. Das Misstrauen gegenüber institutionellen und professionellen Entwicklungen hat in der Sozialpädagogik dazu geführt, dass einer ambulanten, gegebene Lebensverhältnisse stützenden und präventiven Arbeit vor stationären Settings der Vorzug gegeben wird, die ihrerseits in einer breiten Skala sehr unterschiedlicher Hilfsmöglichkeiten differenziert ist. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit zielt - und da liegen zur Zeit massive Probleme - auf die regionale und sozialräumliche Arbeit im Gemeinwesen und der in ihm zu realisierenden Vernetzung der Institutionen und bürgerschaftlichen Initiativen. Das gleiche Problem stellt sich in der Behindertenhilfe, wie das neuerliche Erstarken der Selbsthilfebewegung deutlich macht. Angesichts Klaus Grunwald, Hans Thiersch 146 VHN 2/ 2006 der nach wie vor gegebenen Dominanz der Großeinrichtungen ist es dringlich, die vorhandenen Tendenzen zur Deinstitutionalisierung der großen Einrichtungen und zur breiten Differenzierung des Hilfsangebots auch im sozialräumlichen Horizont vehement zu stärken. Damit soll keinem neuen Dogma der Behindertenhilfe im Sinne einer unreflektiert vollzogenen Deinstitutionalisierung das Wort geredet werden. Vor allem aber darf sie nicht in den Sog sozialökonomischer Instrumentalisierungen von professionellen Arrangements geraten (vgl. Grunwald 2001). Maxime muss sein, Menschen zu einem gelingenderen Alltag zu ermutigen und - auch im Hinblick auf europäische Entwicklungen - für Menschen differenzierte Arrangements zu finden, die dies ermöglichen. Solche Parallelen in den Diskussionen zwischen Lebensweltorientierung und Behindertenhilfe müssten weiter verfolgt und konkretisiert werden. Wir hoffen aber, dass unsere Skizzen deutlich machen, dass Kooperation und Vernetzung zwischen beiden Bereichen in der Gemeinsamkeit der theoretischen und praktischen Arbeitsintentionen weiter getrieben werden können und müssen. Hier stehen unterschiedliche Deutungsansätze oft unverbunden nebeneinander, hier irren z. B. die betroffenen Eltern noch immer häufig ratlos von Instanz zu Instanz und finden oft wirklich weiter führende Hilfe erst im Kreis von Mitbetroffenen. Literatur Antor, G. (2001): Lebenswelt. In: Antor, G.; Bleidick, U. (Hrsg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. Stuttgart, 202 - 205 Böhnisch, L.; Schröer, W.; Thiersch, H. (2005): Sozialpädagogisches Denken. Wege zu einer Neubestimmung. Weinheim u. a. Grunwald, K. (2001): Neugestaltung der freien Wohlfahrtspflege. Weinheim Grunwald, K.; Thiersch, H. (2004): Das Konzept Lebensweltorientierte Soziale Arbeit - einleitende Bemerkungen. In: Grunwald, K.; Thiersch, H. (Hrsg.): Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Weinheim, 13 - 39 Grunwald, K.; Thiersch, H. (2001): Lebensweltorientierung. In: Otto, H.-U., Thiersch, H. (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit/ Sozialpädagogik. Neuwied, 1136 - 1148 Klein, G. (2004): Frühförderung und lebensweltorientierte Sozialarbeit. In: Grunwald, K.; Thiersch, H. (Hrsg.): Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Weinheim Kosik, K. (1967): Die Dialektik des Konkreten. Frankfurt/ M. Metzler, H. (2004): Behinderte Teilhabe - eine Fallgeschichte. In: Grunwald, K.; Thiersch, H. (Hrsg.): Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Weinheim, 297 - 304 Metzler, H.; Wacker, E. (2001): Behinderung. In: Otto, H.-U.; Thiersch, H. (Hrsg.): Handbuch zur Sozialarbeit/ Sozialpädagogik. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Neuwied, 118 - 139 Seemann, E. (2003): Frühfördern als Beruf. Über die Entwicklung professionellen Handelns in Spannungsfeldern. Bad Heilbrunn Sen, A. (2002): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktgesellschaft. München Speck, O. (2005): Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zu Erziehung und Bildung. 10., überarbeitete Auflage. München Thiersch, H. (2002): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Weinheim Thiersch, H. (2005): Begriffspolitik in der Krise der Sozialen Arbeit. In: Neue Praxis 35, 246 - 251 Thimm, W. (1995): Das Normalisierungsprinzip - Eine Einführung. Marburg Prof. Dr. Klaus Grunwald Achalmstraße 30 D-72072 Tübingen Prof. Dr. Hans Thiersch Beethovenweg 14 D-72076 Tübingen Lebensweltorientierung in der Behindertenhilfe 147 VHN 2/ 2006