eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Wird das Bildungssystem zum Wirtschaftsbetrieb?

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2006
Birgit Herz
Christiane Mettlau
Liebe Frau Prof. Herz, vielen Dank für die Einladung zum Gedankenaustausch, den ich gerne, wenn auch etwas spät, mit meinen aktuellen Fragen beginne.
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Hamburg, 10. August 2005 Liebe Frau Prof. Herz, vielen Dank für die Einladung zum Gedankenaustausch, den ich gerne, wenn auch etwas spät, mit meinen aktuellen Fragen beginne. In meiner derzeitigen Tätigkeit als Leiterin einer regionalen Einrichtung des Amtes für Bildung in Hamburg, die Beratung und Unterstützung zur Lösung von Schulproblemen anbietet, stehe ich in einem Spannungsfeld. Ich habe mit drohenden Ressourcen- und Personalkürzungen zu tun und nehme gleichzeitig wahr, wie die multifaktoriellen Problemlagen der Klienten sich steigern. Dies stellt mich vor Probleme, die ich in einer Kongressankündigung der National Association of Social Workers (NASW) der USA wie folgt beschrieben sehe: „Staff and member retention is often problematic in times of a ‚do more with less‘ mentality“. Da ich die Chance habe, im September 2005 am NASW-Treffen teilzunehmen, habe ich mir den workshop „Leadership Development in Times of Diminishing Resources“ schon vorgemerkt. In der Vorankündigung finde ich das Stichwort „keypositions“ - Schlüsselpositionen - und komme ins Nachdenken darüber, welche dies in unserem gemeinsamen Arbeitsbereich EuSE eigentlich sind? Unser Ziel, die Schulpflicht und damit auch das Recht auf Bildung für alle Schüler/ innen durchzusetzen, ist hoffentlich unstrittig. Der Weg dahin aber ist sowohl unter Fachexperten wie auch in der öffentlichen Meinung zunehmend kontrovers. In welche sonderpädagogischen Maßnahmen soll investiert werden? Die Schülergruppe mit Förderbedarfen in der emotionalen und sozialen Entwicklung ist unsere Klientel, welche Lern- und Gruppenprozesse in Regelschulen häufig stört, sprengt oder gar nicht erst nutzt. Sollen nun öffentliche Gelder investiert werden in die gemeinsame integrative Beschulung von Problemschüler/ innen, oder sollen teure Sondereinrichtungen finanziert werden, in denen Schulverweigerer separiert und repariert werden? Sind Dialog und Teilhabemöglichkeiten für kindliche Entwicklung wichtig? Können wir von Sondereinrichtungen für Verhaltensgestörte erwarten, dass sie unter isolierenden Bedingungen bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen soziale Entwicklungsprozesse in Gang setzen? Hinter dieser „heißen“ pädagogischen Grundsatzfrage verbirgt sich m. E. ein spannendes Dunkel. Welche besonderen Angebote sollen es denn sein, die wir Fachexperten bereithalten müssen, um die emotionale und soziale Entwicklung und schulische Lernprozesse anzuregen? Da gab es bisher einen bunten Markt der Möglichkeiten. Plötzlich aber wird klar: Wir können oder wollen dies alles gar nicht mehr bezahlen. Unter Einsparzwängen ist zu überlegen: Worauf kann verzichtet werden bzw. welche Unterstützungsformen müssen als „essentials“ abgesichert bleiben? Worauf also kommt es im Wesentlichen an? In dieser Phase sind wir als erfahrene Praktiker ebenso gefragt wie Sie als fachwissenschaftliche Vertretung. Schnelle und einfache Antworten werden ja schon angeboten im ak- 148 Wird das Bildungssystem zum Wirtschaftsbetrieb? Birgit Herz Hamburg Christiane Mettlau Hamburg Dialog VHN, 75. Jg., S. 148 -158 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel tuellen Diskurs um konfrontative pädagogische Vorstellungen. Diese werden teils missverstanden, teils angereichert mit „common-sense“- Positionen in privaten Fernsehsendern propagiert - nach dem Motto „Wer nicht hören will, muss fühlen“. So bieten Kolleginnen in der ZfH unter dem Titel „Härte und Sanktionen statt Empathie und Mitgefühl - Die konfrontative Pädagogik als letzte Chance für die Erziehungshilfe? “ noch mit einem Fragezeichen an. Sie, liebe Frau Herz, haben dazu, wie ich finde, außerordentlich Treffendes und Wichtiges in Ihrem Leserbrief geantwortet. Wäre dies einen weiteren Briefwechsel zwischen uns wert? Können wir Schlüsselpositionen für unser Fachgebiet und die Praxis finden? Ist die anstehende „Entrümpelung“ des sonderpädagogischen Bauchladens vielleicht auch eine Chance, gewohnte Praxis zu reflektieren, um effizienter und abgesicherter zu agieren? Ich denke, ja. Wenn wir diese Schlüsselpositionen nicht mitzubestimmen versuchen, werden sie uns von ordnungspolitisch orientierten Sozialtechnikern vorgegeben. Was mich in meinem workshop in Chicago erwartet, wo die Frage zur Diskussion steht, wie Führungs- und Leitungsaufgaben unter restriktiver Finanzlage wahrzunehmen sind, weiß ich nicht. Klar ist aber, dass der „richtige“ Umgang mit den wachsenden Problemen von Kindern und Jugendlichen offensichtlich länderübergreifend in Frage steht. Und wenn die Krise der Motor jeder Entwicklung ist, sehen wir im Bereich EuSE wohl noch bewegteren Zeiten entgegen. In diesem Sinne verbleibe ich mit steigendem Erkenntnisinteresse. Ihre Christiane Mettlau Rodés, 16. August 2005 Liebe Frau Mettlau, Ihr Brief erreichte mich während der Lektüre einer Expertise des Deutschen Jugend-Instituts über das Modell der „Glen-Mills-Schools“ in Pennsylvania/ USA. Anlass für diese Expertise war die Initiative einer deutschen Glen-Mills- Akademie, eine solche Institution für delinquente Jugendliche auch in Deutschland zu etablieren. Ich war erleichtert, dort zu lesen, dass das Ministerium 2001 dieses Vorhaben, eine „Super-Verhaltensgestörten-Sonderschule“ zu gründen, abgelehnt hat. Aber dazu später. Ich bin natürlich neugierig, von Ihren Eindrücken und Erfahrungen von dem Kongress in Chicago zu hören - der Blick über den bundesrepublikanischen Tellerrand hinaus hilft, die eigene Realität präziser zu erfassen. So habe ich eine Menge gelernt durch den fachlichen Austausch mit finnischen und englischen Kollegen und Kolleginnen. Ich will dazu kurz berichten, weil es zur Klärung Ihrer Frage nach den Schlüsselpositionen beiträgt. Finnland hat zu Beginn der 1990er Jahre die erste schwere Rezession erlebt, Arbeitslosigkeit wurde zu einem Problem der finnischen Gesellschaft. Um 1996 traten bei den Kindern jene Phänomene auf, die uns beiden gut bekannt sind: Verhaltensprobleme. Zeitnah wurden Forschungsgelder investiert, um einerseits den Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Deprivation und der Entwicklung von Beeinträchtigungen im emotionalen, sozialen und kognitiven Verhalten zu klären. Andererseits bereiste eine Forschergruppe England, die USA, Holland und Deutschland, um sich fachwissenschaftlich und praktisch mit den Standards dieser Länder auseinander zu setzen. In der Folge wurden sowohl Präventionsals auch Interventionsprogramme entwickelt, um die Dropout-Rate so gering wie möglich zu halten. Dabei wurde insbesondere auch großer Wert darauf gelegt, die Eltern und primären Bezugspersonen umfassend zu unterstützen, sei es bei Überschuldungsfragen, Alkoholmissbrauch oder Ähnlichem. Da sich die Gesundheitsämter und die Allgemeinen sozialen Dienste in Finnland meist auf dem jeweiligen Schulgelände befinden, bestehen professionelle Kooperationsformen in jeder Schulgemeinde, die folglich sehr frühzeitig Hand in Hand zusammenarbeiten. Es war eine staatlicherseits gewollte Entscheidung, Wird das Bildungssystem zum Wirtschaftsbetrieb? 149 VHN 2/ 2006 für alle Heranwachsenden, auch für unsere Klientel, Bildung und Erziehung integrativ zu realisieren. Liebe Frau Mettlau, wie Sie ja bei unserem deutsch-finnischen Kolloquium im Mai in Hamburg erfahren haben, besteht auch in Finnland mittlerweile der Trend zur Ressourcenverknappung; gleichwohl ist deutlich geworden, dass das ausgeprägte Interesse an der individuellen, sozialen, emotionalen und kognitiven Entwicklungsförderung die schulischen und außerschulischen Investitionen bestimmt. Von einer solchen Kultur, in der es den politisch Verantwortlichen darauf ankommt, dass „keiner verloren geht“, sind wir in Deutschland leider weit entfernt. Mich hat beeindruckt, mit welcher Konsequenz Forschungsprojekte und Praxisentwicklung staatlicherseits vorangetrieben wurden und werden, und welch hoher Stellenwert der sonderpädagogischen Qualifizierung - auch der Berufsschullehrer/ innen - beigemessen wird. Hier in Deutschland findet ja eine völlig gegenläufige Entwicklung statt - ungeachtet gesetzlicher Vorgaben. Finanzielle Restriktionen und Ressourcenverknappung verantworten eine „Ökonomisierung des Sozialen“, wie es Otto Speck treffend formuliert hat. Alle gesellschaftlichen Felder, die nicht direkt Kapitalinteressen dienen, kämpfen um ihr Überleben, sofern sie nicht schon „abgewickelt“ sind. Wenn ich bedenke, wie viele Projekte im Bereich Frauenförderung, Kinder- und Jugendhilfe, Migrations- und Flüchtlingshilfe hier bei uns in Hamburg den vielfältigen Einsparmaßnahmen bereits zum Opfer gefallen sind, dann ist nicht zu übersehen, dass gerade unsere Klientel - Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung - eher unter das Etikett „unrentierliche Zukunftsbelastung“ subsumiert werden. Kinder und Jugendliche sind Seismographen gesellschaftlicher Entwicklung, und sie reagieren auf unzumutbare Lebensbedingungen mit ihrem ‚unzumutbaren‘ Verhalten. Dabei stimme ich Ihnen zu, dass die Verhaltensprobleme eine neue Qualität aufweisen: Sie sind komplex, insbesondere bei einem Aufwachsen in Multiproblemkonstellationen wie Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, oft verbunden mit Alkoholmissbrauch, Arbeitslosigkeit oder psychischer Erkrankung eines und/ oder beider Elternteile. Bei diesen Kindern und Jugendlichen, diesen „Störern“, diesen „Schwierigen“, sehe ich allerdings eine große pädagogische Chance: Sie haben noch nicht resigniert, ihre Verhaltensinszenierungen sind „normale“ Reaktionen auf „unnormale Lebenslagen“. Jede Verhaltensstörung hat einen subjektiven Sinn, bringt die vielfältigen Entwicklungs- und Lebensbehinderungen zum Ausdruck. Aufwachsen in der Risikogesellschaft ist umso risikoreicher, je mehr die soziale Geografie durch Armut geprägt wird. In Hamburg wächst derzeit jedes vierte Kind unter den Bedingungen von Armut auf. Was dies konkret bedeutet, wissen Sie nur zu gut aus dem Einzugsbereich Ihrer Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstelle im Hamburger Stadtteil Stellingen. Von administrativer Seite finden unterschiedliche Kürzungen im Bildungs- und Sozialsowie im Kinder- und Jugendhilfebereich statt, die auch Ihre Arbeit als Dienststellenleiterin nicht unerheblich tangieren. Sie beschreiben das Dilemma, einerseits mit dem mannigfaltigen und komplexen Hilfebedarf konfrontiert zu sein, und andererseits die administrativen Vorgaben über reduzierte Förderressourcen umsetzen zu müssen. Jeder Lösungsversuch dieser strukturell verursachten Restriktionen führt zu einem enormen subjektiven Handlungsdruck. Denn die kommunale Budgetierung soll sich ja - trotz steigender Fallzahlen - in optimale und effektive „Leitungsqualität“ transformieren. Aber, liebe Frau Mettlau, es ist absurd zu glauben, dass wir jemals individuell (und sei es durch noch so „effizientes“ Engagement) das ausgleichen können, was unsere Gesellschaft einer bestimmten Gruppe von Heranwachsenden verwehrt, nämlich anerkannte und legitime Teilhabe. Birgit Herz, Christiane Mettlau 150 VHN 2/ 2006 Angesichts der steigenden Arbeitsverdichtung in öffentlichen Institutionen der Bildung und Erziehung - ich erinnere an das neue Hamburger Lehrerarbeitszeitmodell - stellen sich vielfach Hilflosigkeit, Überforderung und Burnout bei den Professionellen ein. Es ist ein Trugschluss zu glauben, die Dynamik internationaler Kapitalmärkte auf Prozesse der Bildung und Erziehung erfolgreich übertragen zu können. Eine solche Logik muss scheitern, weil verletzliche Lern- und Entwicklungsprozesse weder getaktet noch genormt, also mechanisch reglementiert pädagogisch begleitet werden können. Daher bin ich davon überzeugt, dass nicht Autoritätsverliebte oder dem Strafprinzip Zugeneigte, sondern in ihrem pädagogischen Alltag überforderte Kolleg/ innen in ihrer Not „anfällig“ werden für disziplinierende Sozialtechniken, eben weil sie scheinbar schnelle Entlastung versprechen. Hierin liegt der Charme jener „Superverhaltensgestörtensonderschulen“: Sie bieten eine schnelle, effiziente und scheinbar kostengünstige Lösung, unkomplizierte Antworten auf komplexe Fragen. Wo der Markt und die damit einhergehende Trägerkonkurrenz die Hilfe- und Unterstützungsangebote dominieren, können solche Pseudo-Lösungen durchaus an Bedeutung gewinnen. Einer fachlichen oder gar empirischen Überprüfung halten solche schnellen Lösungen jedoch nicht stand. Es handelt sich um einen unlauteren Etikettenschwindel, oft gepaart mit Omnipotenzphantasien: So bezeichnen sich einige Vertreter der „Konfrontativen Methode“ in der Pädagogik als „Crime fighter“, „Schläger-Therapeuten“ oder „Subkulturelle Helden“. Um es zynisch zu wenden, liebe Frau Mettlau, vielleicht stehen uns nicht nur solche Pseudo-Lösungen à la Glen Mills ins Haus, womöglich wird gar die Prügelstrafe wieder hoffähig. Ebenso denkbar ist - ganz im Trend des Zeitgeistes - die Renaissance eines religiösen Fundamentalismus in der Pädagogik. Die Zunahme sanktionsorientierter und wegschließender Aktivitäten zeigt sich z. B. darin, dass ja bei uns in Hamburg von den politisch Verantwortlichen vor gut zwei Jahren das Konzept der „Geschlossenen Unterbringung“ wieder belebt und kürzlich eine zweite kinder- und jugendpsychiatrische Einrichtung etabliert wurde. Derzeit steht ein zweites Jugendgefängnis ebenso zur Diskussion wie die Reduzierung des Strafmündigkeitsalters von 14 auf 12 Jahre. Eine solche (m. E. keineswegs moderne, vielmehr antiquierte) Politik der Härte, Stärke und Kälte wird kaum dazu beitragen, die soziale Integration an den Rändern der Gesellschaft zu gewährleisten und das demokratische Recht auf Chancengleichheit zu verwirklichen. Um es im Rahmen unseres persönlichen Dialoges in extremis zu formulieren: Kann vor dem dargestellten Hintergrund überhaupt noch von „Integration“ gesprochen werden? Handelt es sich nicht vielmehr um unpädagogische Disziplinierung, Dressur und Unterwerfung? Natürlich haben Sie vollkommen recht damit, dass wir Fachvertreterinnen in dem gegenwärtigen Dilemma eine offensive Diskussion darüber führen sollten, welche Schlüsselpositionen unverzichtbare „essentials“ für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen der emotionalen und sozialen Entwicklung sind, wie wir Kinder und Jugendliche mit massiven schulischen Misserfolgskarrieren optimal fördern können. Erziehungswissenschaft als politische Handlungswissenschaft unterliegt ja derzeit ebenfalls einem Reputationsverlust in der scientific community. Die Aufsplitterung der sonderpädagogischen Qualifizierung in Bachelor- und Master-Studiengänge trägt wenig dazu bei, unsere Profession zu stärken. Das sieht konkret ganz so aus, wie Sie es in Ihrem Brief geschildert haben: Auch ich muss mit weniger Ressourcen (z. B. einer drastischen Kürzung der Lehrauftragsmittel) mehr Studierende in einem neuen, prüfungsintensiveren Studiensystem qualifizieren. Betrachtet man den Beruf des Hochschullehrers sportlich, so befinden wir uns im permanenten Vierkampf, nämlich zugleich in Forschung, Lehre, akademischer Selbstverwaltung und Prüfungsverpflichtungen invol- Wird das Bildungssystem zum Wirtschaftsbetrieb? 151 VHN 2/ 2006 viert. Als weitere Trendsportarten in diesem edlen Wettstreit gelten zunehmend Fundraising- Aktivitäten - das Einwerben von Drittmitteln -, die „Kennzifferitis“ für (möglichst fremdsprachige) Veröffentlichungen sowie die Ausrichtung und Organisation von (möglichst) internationalen Kongressen. Ich befürchte, diese neue „Qualität“ der Arbeitsverdichtung wird zwangsläufig zu einer Verschiebung der eigenen Leistungsfähigkeit und -bereitschaft führen, denn jede Woche hat nun einmal nur sieben Tage! Was unter dem label „Reform“ oder „Innovation“ derzeit an deutschen Hochschulen implementiert wird, all die schönen neuen center of excellence (wir nennen sie intern „Leuchttürme“) vertuschen nur unzureichend, worum es eigentlich geht, nämlich um die Etablierung eines kostengünstigen light-Studiums. Ihre Frage nach den Schlüsselpositionen hat mich bei diesem verordneten neuen Zuschnitt des Studiums - ich rede lieber von „Zurechtstutzen“ - ganz intensiv beschäftigt. Welches sind die „key positions“, welche Qualifikationen sind grundlegend für unser Fachgebiet, welche Kompetenzen Standards, und vor allem: Für welche zukünftigen Aufgaben müssen Studierende vorbereitet sein? So sehe ich eine deutliche Parallele zwischen Ihrer speziellen Leitungsverantwortung bei REBUS Stellingen und meiner Verpflichtung, für ein neues, abgespecktes akademisches Curriculum Sorge zu tragen. Es wird von uns eine Bewältigungskompetenz kognitiver Dissonanzen verlangt; deren Resultate mögen - auf Neudeutsch - unsere „Kunden“ beurteilen. Zu einer sehr wesentlichen Schlüsselqualifikation zählt für mich das Umgehen-Lernen mit Ungewissheit, das Raum-und-Zeit-geben- Können für Um- und Irrwege sowohl in Bezug auf unsere Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern und Lehrer/ innen als auch auf die sie begleitenden Institutionen. Nur eine solche Dialog-bezogene Offenheit schafft Raum für heilpädagogische Entwicklungsprozesse. Es geht eben nicht um bloße Anwendungstechniken, um einheitliche Methoden, einfache Rezepturen und womöglich Machbarkeitsparolen; es geht zentral um die Anbahnung, die ‚Wahrnehmungs‘-Schulung von, die Befähigung zu und die Öffnung für unterschiedliche Perspektiven, jeweils bezogen auf die Klientel. Traumatisierte Heranwachsende, delinquente Kinder und Jugendliche brauchen Pädagog/ innen, die bereit und in der Lage sind, eine „biophile Allianz“ einzugehen, die Konstanz, Verlässlichkeit, Zukunftsoptimismus in flexiblen Handlungsstrategien authentisch als Professionelle, d. h. auch mit professioneller Distanz, bereithalten können. Ferner stellt für mich die Entwicklung einer ethischen Grundhaltung ein wichtiges Element der beruflichen Qualifizierung dar. Wussten Sie, dass z. B. an der Universität Birmingham im Förderschwerpunkt „Emotional and behavioral difficulties“ ein komplettes Studienmodul die ethischen Grundlagen unseres Faches behandelt? Solcherart geschulte Sonderschullehrer/ innen wissen bspw. um Kinderrechte - auch und gerade bei unserer Klientel. Diese ethische und moralische Dimension in der Erziehungshilfe hilft auch, den Blick zu schärfen für den derzeitigen paternalistischen mainstream. Unverzichtbar ist ein Verständnis menschlicher Entwicklung im Kontext ihrer sozialen, psychophysischen Bedingungen, das auf finale Zuschreibungen und Etikettierungen verzichtet. Ziel ist vielmehr ein psychodynamischer Interpretationsrahmen auf der Grundlage von wechselseitigen Anerkennungsprozessen. Dies verlangt ein hohes Maß an Empathie, die Welt mit den Augen der Kinder und Jugendlichen zu sehen. Liebe Frau Mettlau, solche Kompetenzprofile stehen ja in direktem Zusammenhang mit Ihrer Frage, in welche sonderpädagogischen Maßnahmen denn investiert werden soll, ob wir integrative oder segregierende Angebotsformen brauchen und vor allem, wie die konkrete Praxis der Fachleute aussehen sollte! ? Sie sprachen von einer „Entrümpelung des sonderpädagogischen Bauchladens“. Ich kann dieser implizit von Ihnen kritisierten Vielfalt durchaus positive Sei- Birgit Herz, Christiane Mettlau 152 VHN 2/ 2006 ten abgewinnen: Jeder Experte ist doch dort am erfolgreichsten, wo er oder sie mit Überzeugung diesen oder jenen Ansatz praktiziert. Das mag die Orientierung an Gestalt-, Musik- oder Maltherapie, an der konstruktiv-kritischen oder subjektiven Didaktik u. v. m. sein. Um der individuellen Unterschiedlichkeit, der (z. B. geschlechterdifferenten oder ethnischen) Heterogenität unserer Schüler/ innen-Biografien adäquate, d. h. individualisierte Förderungen anbieten zu können, ist eine solche Vielfalt unverzichtbar. Das Motto ,eine Methode - ein Konzept für alle‘ verbietet sich in der Praxis, denn das hieße, den Respekt und die Achtung vor der Autonomie jedes Kindes und Jugendlichen preiszugeben. In unserem Förderschwerpunkt gibt es kein one size fits all. Natürlich geht es mir bei dieser Vielfalt nicht um Beliebigkeit, sondern um eine größtmögliche Handlungspluralität, die es erlaubt, jedes einzelne Kind oder jeden Jugendlichen nach seinen individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Problemlagen optimal zu fördern. Dazu gehört selbstverständlich auch die Bereitstellung von Zeit, denn bisweilen stellen ja die Schüler/ innen, die das Vertrauen in Erwachsene verloren haben (z.B. durch Misshandlung) gerade uns Professionelle auf die Probe. Sie testen unsere Glaubwürdigkeit, unsere Verlässlichkeit. Da bedarf es - zusätzlich zur Zeit - auch der Phantasie und des vertrauensvollen Beziehungsaufbaus. Für diese Portion Phantasie brauchen wir einen „bunten sonderpädagogischen Bauchladen“. Die Frage seiner Finanzierbarkeit schmälert nicht seine pädagogische Berechtigung! Diese Vielfalt droht derzeit aufgrund der sparpolitisch motivierten Neustrukturierung des Sonderschullehramtes in der ersten und zweiten Phase verloren zu gehen: Technokratisierung hat Vorfahrt vor Phantasie, Kreativität, Experimentierfreude und Unkonventionellem. Als ehemalige Seminarleiterin für die zweite Sonderschullehrer/ innenphase wissen Sie ja nur zu gut z. B. um die Absurdität der inszenierten Lehrproben. Bei den derzeitigen Ausgangsbedingungen in den Schulen, der Kinder- und Jugendhilfe, der Frauen- und Familienpolitik u. a. m. enthalten meine Überlegungen durchaus eine gewisse Portion Sozialromantik; trotzdem: Wir haben im Sinne einer advokatorischen Ethik Forderungen zu stellen und müssen uns für deren Umsetzung politisch, in der fachwissenschaftlichen Theorie und in der Praxis vor Ort engagieren. Die Förderung von allen Kindern und Jugendlichen sowie die Unterstützung von Eltern in ihrem Erziehungsauftrag gibt es nicht zum Nulltarif! Vor allem im Bereich der Prävention würden sich Investitionen lohnen. Das Beispiel Finnland zeigt dies deutlich. Leider hat sich Deutschland auch in diesem Feld als „verspätete Nation“ hervorgetan. So wäre im Land, in dem der Kindergarten erfunden wurde, wohl endlich an eine umfassende Qualifizierung von Kindergärtnerinnen (übrigens auch an die Anhebung ihres sozialen Status) zu denken! Elterntraining, Elternkurse, Erziehungspatenschaften, Familienunterstützende Hilfen fallen derzeit als primärpräventive Angebote kaum ins Gewicht. Wo es solche Angebote gibt - z. B. speziell für alleinerziehende Mütter in sozialen Brennpunkten -, sind sie ständig von Kürzungen bedroht. Auch die Implementierung einer positiven peer-Kultur in Schulen und deren Möglichkeiten für die Entwicklungsförderung wäre eine lohnende Investition. Doch auch dieses ermutigende Projekt ist auf private Stiftungsgelder angewiesen. Des Weiteren wäre das Potential der Netzwerkbildung über Ressort- und Fachgrenzen hinaus für unsere Klientel auszubauen. Und gerade in der Freien und Hansestadt Hamburg wäre die Vielfalt der unterschiedlichen Einrichtungen für unsere Klientel zu nutzen - auch hinsichtlich der Synergieeffekte. Die vielen stadtteilbezogenen Arbeitsgruppen und Runden Tische sind freilich allemal Notlösungen in Zeiten knapper Ressourcen; sie stimmen dennoch optimistisch - auch deshalb, weil Netzwerkbildung und die Synergieeffekte des Kooperierens Lernprozesse mit sich bringen, die sich direkt auf die professionelle Arbeit mit unserer Klientel auswirken. Wird das Bildungssystem zum Wirtschaftsbetrieb? 153 VHN 2/ 2006 Einen ganz wesentlichen Faktor will ich zuletzt nennen: Wir müssen mit Freude, Engagement und hoher Motivation unsere Aufgaben bewältigen können - diese Haltung wird unter den derzeitigen Bedingungen nicht eben gefördert. Statt Humor, Sachverstand und Gelassenheit breitet sich eher Unmut, Unverständnis, innere Emigration, gar Zynismus aus. Die Ignoranz dem vorhandenen Humankapital in Bildung und Erziehung gegenüber ist eine Krise, die hoffentlich zu einem Motor der konstruktiven Kritik an der derzeitigen Bildungs-, Kinder- und Jugendhilfe, Frauen-, Familien-, Migrations- und Sozialpolitik wird! Liebe Frau Mettlau, ich grüße Sie ganz herzlich und bin gespannt, auf welche Resonanz meine Ausführungen bei Ihnen stoßen werden. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Chicago, Ihre Birgit Herz Hamburg, 10. Oktober 2005 Liebe Frau Prof. Herz, mein später Dank für einen langen Brief kommt nun aus Hamburg. In Chicago fand ich einfach keine Zeit und im Sechsbett-Zimmer eines Youth-Hostels auch keinen Platz zum Schreiben. Durch Ihren Brief war ich schon gut eingestimmt auf meine USA-Reise. Nach 14 Tagen in Chicago konnte ich mir von den Folgen einer „Ökonomisierung des Sozialen“, wie Sie Speck zitierten, ein Bild machen, das meine kühnsten Vorstellungen übertraf. Das öffentliche Bildungswesen in den USA steckt in einer existenziellen Krise. Was bei uns noch einen PISA-Schock auslöste - nämlich Schulabbrecherquoten von ca. 12 % - wäre für die US-public-schools eine Erfolgsmeldung wert. Denn hier liegen die drop-out-Raten in einigen Problemschulen der Innenstädte weit über 50 %, und in einigen Grundschulen können nach den ersten drei Schuljahren 70 % der Schüler weder lesen noch schreiben. Der Zusammenhang zwischen Armut und Bildungsnotstand in den sozialen Brennpunkten der großen Städte ist überdeutlich. Präsident Bush machte daher die öffentliche Bildung zur Chefsache und erließ ein Gesetz mit dem fortschrittlichen Namen „No Child Left Behind“, mit dem der Abwärtstrend aufgehalten werden soll. Dieses Gesetz verlangt, dass Schulen mit harten Leistungstests für ihre Schülerschaft in jährlichen Leistungsbilanzen verglichen werden. Schulen, die in diesem „ranking“ versagen, werden geschlossen, die Mitarbeiter entlassen, die Schülerschaft auf andere Nachbarschulen verteilt. Dies betraf in diesem Jahr in Chicago zehn public-schools. Gibt es bald keinen „schlechten Unterricht“ mehr? Die schwierige Schülerklientel mit Lern- und Verhaltensproblemen jedenfalls wird unter diesen harten Konkurrenzbedingungen für Schulen zur existenzbedrohenden Gefahr, da sie die Testergebnisse verschlechtern. So verkehrt sich der Titel „No Child Left Behind“ für unsere Klientel in sein Gegenteil. Förderangebote sollen in den Schulen gemacht werden und sind aus dem eigenen Etat der weitgehend autonom wirtschaftenden Schulen zu bestreiten. Ein Kollege aus Chicago sagte mir dazu: „Willst Du Förderung für ein Kind mit Förderbedarfen, brauchst Du einen guten Anwalt.“ Das Konzept unserer Hamburger REBUS, in dem Beratung und Unterstützung unter einem Dach angeboten werden und keine Trennung zwischen Schulsozialarbeit, Sonderpädagogik und Schulpsychologie mehr besteht, hat die US-Kollegen sehr beeindruckt, aber nicht restlos überzeugt. Denn trotz Favorisierung der Inklusion für viele Förderschwerpunkte landen Schüler mit Verhaltensproblemen in Chicago schnell in Kleinklassen oder in heilpädagogischen Internatsunterbringungen mit therapeutischem Angebot außerhalb der Schulen. Diese sind ähnlich teuer wie bei uns, ca. 300 Dollar pro Tag. An den Kosten wird die Schule beteiligt, die ihren Schüler in die be- Birgit Herz, Christiane Mettlau 154 VHN 2/ 2006 sondere Einrichtung abgibt. Eine solche Regelung erscheint aus dem Hamburger Blickwinkel fair. Denn hier sind es oft Schulen, die teure Unterbringungen für Kinder mit schulischen und familiären Problemen fordern, die Kosten aber trägt das Jugendamt. Die Schulen tragen zur Lösung der Problemlagen nichts mehr bei. Die gemeinsame Verantwortung der beteiligten Institutionen und Fachkräfte aus Schule und Jugendhilfe bei der Lösung von Schul- und Entwicklungsproblemen ist bei uns noch nicht kultiviert. Vielleicht kommt es dazu in neuen Projektideen aus der behördenübergreifenden Arbeitsgruppe zwischen BBS und BFS in Hamburg. Aber zurück nach Chicago. Einige Schulen dort schärfen ihr Profil durch theoriegeleitete didaktische Konzepte, durch enge Vernetzung im Stadtteil und auch durch Kooperation mit Sozialarbeit. Diese wird von Agenturen am freien Markt angeboten und eingekauft. Die Agentur „Youth-Guidance“ arbeitet an 42 (5 %) Chicagoer Schulen. Ihr Ziel, die Schulstrukturen so zu verändern, dass sie den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder entsprechen, soll durch die Verbindung von Bildung und sozialen Serviceleistungen in den Schulen erreicht werden. Dazu gehört auch eine „health-clinic“ direkt in der Schule, Beratung und Unterstützung für bestimmte Schülergruppen und berufsvorbereitende Angebote in Kooperation mit Firmen. „Youth-Guidance“ nennt dieses Prinzip „one Stop shopping“, und es ähnelt dem finnischen Konzept, unterstützende Dienste aus dem Bereich Soziales und Gesundheit in der Schule anzubieten. Entscheidend anders aber ist, dass die Projekte in Chicago eine Lebensdauer von ein bis drei Jahren haben, zu 50 % privat finanziert sind und mit hohem Werbeaufwand wie Produkte am Markt platziert und gehalten werden müssen. Vorteilhaft dabei ist, dass Personal zielgerichtet und befristet eingestellt werden kann. Die Projekte sind zum Erfolg „verdammt“, ebenso wie die Mitarbeiter. Ausgerechnet diese herausfordernde Situation für die Mitarbeiter finde ich faszinierend. Unsere Dienstverhältnisse, die völlig unabhängig von der Leistung alle absichern, sind in den USA unvorstellbar. Die Kollegen dort verstehen nicht, wie wir in Hamburg mit demselben Personal die unterschiedlichsten Konzepte voranbringen wollen. Die Entwicklungs- und Implementationszeiten, die wir neuen Projekten geben - z. B. zehn Jahre für I/ R- Schulen oder jetzt fünf Jahre für die REBUS -, könnten in den USA nur von überzeugten Geldgebern ermöglicht werden, die daran glauben, dass die gesteckten Ziele durch genau diese Konzepte und die beteiligten Mitarbeiter erreicht werden können. Dieses Geld zu finden, ist in den USA Aufgabe der Einrichtungen selber. Allein für die Aufgabe des „Fundraising“, die Sie künftig auf sich zukommen sehen, gibt es in den Sozialarbeiteragenturen Extrastellen. Auch die Universitäten unterhalten eigene Abteilungen, deren Aufgabe es ist, Geld aufzutreiben und Werbung zu machen. So kam unsere Austauschdelegation in den Genuss von Abendveranstaltungen mit gutem Essen an sechs Universitäten Chicagos, da der Besuch europäischer Fachleute nicht nur dem Fachaustausch mit Lehrkörper und Studierenden dient, sondern auch der Selbstdarstellung der Universität nützlich ist. Die Konkurrenz aller Einrichtungen - ob Universitäten, Schulen oder Agenturen - ist groß. So war auf dem NASW-Kongress, der während drei Tagen im Holiday Inn von Chicago stattfand, ein riesiger Ballsaal mit Marktständen bestückt, an denen sich alle vorstellen konnten. Die kiloschwere Tüte voller Werbegeschenke, die ich aus diesem Saal mitbrachte, enthält ein Sammelsurium aus Kugelschreibern, Schreibblocks, T-shirts, Lesezeichen, Magnetstickern, Ansteckern etc., mit denen massiv Werbung für Soziale Arbeit gemacht wird. Entscheidend im Wettbewerb aber bleibt der Preis. So stand ich mit einer Studentin vor dem Tisch der Chicago State University, die begeistert sagte: „Oh, die ist preiswert. Ich habe ein Jahr dort verbracht.“ Ich fragte: „Hast Du viel gelernt? “, und bekam zur Antwort: „Nein, eigentlich nicht, aber ich konnte sie bezahlen.“ Wird das Bildungssystem zum Wirtschaftsbetrieb? 155 VHN 2/ 2006 Ein US-Schulexperte, der jahrelang in der Schulsozialarbeit tätig war, sagte mir über seine Sicht auf die USA: „Das 20. Jh. war die Zeit der Rassengegensätze, das 21. Jh. wird das der Klassengegensätze sein.“ Die politische Auseinandersetzung mit der sozialen Realität drängt sich in den USA für die Bereiche Sozialarbeit, Bildung, Wohlfahrts- und Gesundheitswesen auf. Ein Tag in der South-Side Chicagos: Der Freie Träger„catholics charities“ betreibt eine Sozialstation, die wie eine Mischung aus Supermarkt für Kindernahrung und Lehrküche aussieht. Für eine Klientel, die unter Drittweltbedingungen lebt, werden im weiträumigen Keller zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen für Kinder und Familien angeboten, mit der Hoffnung, dass der einladende Supermarkt im Erdgeschoss, in dem mit Wohlfahrtsgutscheinen bezahlt wird, die Bedürftigen als Kunden anzieht und dass sie nebenbei auch noch andere Angebote aus dem Keller annehmen. Der in den USA landesweit bekannt gewordene Sozialarbeiter Geoffrey Canada lotste seine Kundschaft in ein Kinder- und Familienzentrum in Harlem mit dem Versprechen „Free Pampas! “, um sie dann für Erziehungsberatung zu gewinnen. Der Ideenreichtum und die Kreativität, mit der viele Kollegen, die ich in Chicago kennen lernte, an die Lösung von Bildungs- und Erziehungsfragen herangehen, wird noch durch ihr Engagement und den Pragmatismus verstärkt. Im Bewusstsein der sozialpolitischen Zusammenhänge nicht aufzugeben, finde ich bewundernswert. Vor dem Hintergrund der zu bewältigenden Problemlagen bei den „inner-city-kids“ fordert der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. John Lyons von der North-Western-University Chicago, Prävention nicht mehr als „pretreatment“ oder „case-finding“ zu missbrauchen, sondern im wahren Sinne zu betreiben: „Prevent environmental based problems means to change the environment! “ Er fordert in diesem Sinne „community development activities“, die den Focus auf Kinder und Familien legen und diese als gleichberechtigte Partner ansprechen. Gleichzeitig weist Mr. Canada aus Harlem deutlich darauf hin, wie gering die Ressourcen sind, auf die einige Brennpunkt- Gemeinden in US-Metropolen noch zurückgreifen können. Echte Sorge für Kinder, Nachbarschaftshilfe, soziale Infrastruktur, kinderfreundliches Wohnumfeld, familienfreundliche Arbeits- und Alltagswelt, gute Schulen etc. - all dies fehlt in den „inner-cities“. Dort wachsen Menschen heran, die ihre Rolle als künftige Konsumenten nicht spielen werden. Das Etikett „unrentierliche Zukunftsbelastung“, das Sie zitieren, passt hier genau. Das Gewaltpotential an Selbst- und Fremdgefährdung ist hoch. Die Lebenserwartung von 45 Jahren für männliche Afroamerikaner hingegen niedrig. Ich bin noch dabei, meine Eindrücke zu ordnen und sie mit den Kollegen aus den Delegationen von Hamburg und Birmingham, die ebenfalls in Chicago waren, zu diskutieren. Dabei ist mir Ihre „Liste“ der „essentials“ für unseren Förderschwerpunkt besonders wichtig: Ethische Grundhaltung, Empathiefähigkeit, Dialog, Vernetzung nennen Sie als Qualitätsmerkmale sonderpädagogischer Kompetenz im Förderschwerpunkt EuSE. Und ich muss selbstkritisch hinterfragen, ob sich diese in meiner pädagogischen Praxis verwirklichen lassen. Aktuell hat ja in Hamburg die Debatte zum Thema „Vernachlässigte Kinder“ zu Verfahrens- und Verwaltungsvorschriften geführt, die in Schulen, Jugendämtern und REBUS bedeutsam werden. Die Betonung der eingreifenden, kontrollierenden Aspekte sozialer Arbeit soll die Rechte der Kinder auf Unversehrtheit und Entwicklung schützen. Die „vielfältigen Entwicklungs- und Lebensbehinderungen“, die Sie als Ursache für gestörte Verhaltensweisen nennen, sollen von nun an früher aufgespürt werden. Frühwarnsignale werden katalogisiert als Arbeitshilfe für die „Hausbesucher“. Was passiert danach? Was folgt auf die Früherkennung? Welche Problemlösungen werden angeboten, welche werden angenommen? Werden Kinder unter sozioökonomischen Deprivationsbedingungen durch eine „Fürsorge“ mit Eingriffsrechten Birgit Herz, Christiane Mettlau 156 VHN 2/ 2006 gestärkt? Oder werden sich Familien in schwierigen sozialen Lagen wieder stärker vor anfordernden sozialen und Bildungseinrichtungen abschotten? Haben wir für die Gestaltung von dialogischen Lernprozessen in gegenseitiger Zuwendung und Wertschätzung noch genügend Raum? Werden die Einrichtungen, in denen wir arbeiten, so verändert, dass wir um unsere „essentials“ kämpfen müssen? Ich glaube, ja. Die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und professionellen Realität der Kollegen aus Chicago schärft meinen Blick auf sozial- und bildungspolitische Entwicklungen hier. Ich bin froh, dass ich diese Reise machen und Kontakte knüpfen konnte, die sich auch zu weiterem Austausch zwischen Kollegen und Studierenden ausbauen lassen. Hier im Bezirk Elmsbüttel aber steht jetzt die fachliche Auseinandersetzung mit dem neuen Kinderschutzkonzept des CDU-Senats an. Unsere REBUS und das Kinderschutzzentrum wollen mit den Jugendämtern gemeinsam die oben aufgeworfenen Fragen diskutieren. Machen Sie mit? Ich lege Ihnen die ersten beiden Papiere dazu bei und freue mich auch, darüber mit Ihnen zu sprechen. Ich danke Ihnen für die großartige Möglichkeit, im Austausch mit Ihnen meine Praxiserlebnisse zu begriffener Erfahrung werden zu lassen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Semesterbeginn. Mit herzlichen Grüßen Ihre Christiane Mettlau Hamburg, 17. Oktober 2005 Liebe Frau Mettlau, vielen Dank für Ihren langen und spannenden Brief sowie die Papiere des Hamburger Kinderschutzbundes und das neue Kinderschutzkonzept der Behörde. Es fiel mir schwer, mir die von Ihnen beschriebene Alltagswirklichkeit vorzustellen. Sie haben also jetzt konkret erlebt, welche abenteuerlichen Szenarien durch den Druck der Marktkonkurrenz entstehen können; und ebenso auch, welch überdeutlicher Zusammenhang zwischen Armut und Bildungsnotstand besteht. Erstaunt hat mich Ihre Schilderung, wie unsere amerikanischen Kolleginnen und Kollegen mit ihrer durchökonomisierten Arbeitssituation klar kommen: Sie sprechen von Ideenreichtum, Kreativität, Engagement und Pragmatismus. Vielleicht brauchen wir in der Bundesrepublik Deutschland dazu noch eine Portion britischen Humor, um nicht gänzlich im Krisengejammer zu versinken! Ihre Einschätzung, dass sich die Einrichtungen, in denen wir arbeiten, derart verändern werden, dass wir um unsere „essentials“ kämpfen müssen, teile ich. Wir sollten gemeinsam Strategien entwickeln, um unsere Anstrengungen für Synergieeffekte zu nutzen. Daher nehme ich Ihr Angebot gerne an, mich an der fachlichen Diskussion um das neue Kinderschutzkonzept in Hamburg zu beteiligen. Die Notwendigkeit eines eingreifenden, kontrollierenden Vorgehens in Familien in Multiproblemkonstellationen, um den Kindesschutz zu gewährleisten, ist ja nicht von der Hand zu weisen; dies wird ja beispielsweise auch in Finnland praktiziert. Ich stimme Ihnen völlig zu, dass der Kern des Problems jedoch in der Frage liegt: Wohin führt eine statistische Erfassung, das Ansammeln von Daten in Melderegistern? Welche sinnvollen Perspektiven, Angebotsformen und Hilfesysteme können realistisch umgesetzt werden, damit die Intensivierung staatlicher Kontrolle auch hier nicht zur bloßen Symbolpolitik benutzt wird? Ich denke z. B. an das hiesige Familieninterventionsteam (FIT), dessen Arbeitsweise ja durchaus zu begrüßen ist. Aber wie Sie ja wissen, werden sachliche und personelle Mittel des FIT aus den Allgemeinen Sozialen Diensten bereitgehalten - was diesen wiederum fehlt, um z. B. notwendige Hilfen zur Erziehung zu finanzieren. Das neue Kinderschutzkonzept der Stadt sieht u. a. vor, Arbeitsabläufe zu straffen und vorhandenes Personal effizienter einzusetzen. Sol- Wird das Bildungssystem zum Wirtschaftsbetrieb? 157 VHN 2/ 2006 che neuen Standards sind ja durchaus zu begrüßen, nur tragen sie primär zur Arbeitsverdichtung der Kolleginnen und Kollegen bei und weniger zu einem schlüssigen Konzept, wie der Schutz von Kindern in Hamburg nachhaltig verbessert werden kann. Der Landesverband Hamburg des Deutschen Kinderschutzbundes formuliert da sehr viel deutlicher, dass eine Verbesserung des Schutzes von Kindern vor allem einer interdisziplinär vernetzten Ausgestaltung und verbesserter personeller Ausstattung bedarf. Die Aussage des amerikanischen Kollegen, Prof. Dr. John Lyons, ist hier doch von großer Bedeutung: die Veränderung der Lebensumgebung als Präventionsansatz! Wie könnte eine solche Veränderung der Lebensumgebung in unseren Problemstadtteilen, diesen Wüsten beziehungsloser Langeweile, diesen sozialen Brennpunkten und Ghettos, diesen städtebaulichen Verschandelungen aussehen? Wie können wir hier Kinder, Eltern, Kolleginnen und Kollegen in schulischen und außerschulischen Einrichtungen stärken? Wie können wir glaubhafte Alternativen zur Kriminalisierung und zu repressiven Anpassungstechnologien entwickeln? Bei dem Balanceakt zwischen Zivilisation und Barbarei nach der Flutkatastrophe in New Orleans wurde sehr prägnant deutlich, wie schmal der Grat zwischen Gewalt/ Anarchie und Kultur/ Demokratie ist. Nur letztgenanntes kann unser Ziel sein; das im Grundgesetz verbürgte Recht auf Bildung und gewaltfreie Erziehung darf auch unter den derzeitigen ökonomischen Zwängen nicht geopfert werden! Liebe Frau Mettlau, ich schreibe Ihnen heute nur ganz kurz, viel lieber würde ich mich mit Ihnen bald zusammensetzen - vielleicht bei einem Arbeitsessen -, um einerseits das weitere Vorgehen zu konkretisieren und um andererseits mit Ihnen zu überlegen, wie Ihre Reiseeindrücke für Ihren Lehrauftrag im Sommersemester 2006 für unsere Studierenden fruchtbar gemacht werden können. Vielen Dank auch für die guten Wünsche zum Semesterbeginn; diesmal wird es ein nachdenkliches Semester, eine Art Abschiedssemester. Mit „herz“lichen Grüßen Ihre Birgit Herz Prof. Dr. Birgit Herz Universität Hamburg Institut für Behindertenpädagogik Sedanstraße 19 D-20146 Hamburg Christiane Mettlau Leitung REBUS Stellingen Hinter der Lieth 61 D-22529 Hamburg Birgit Herz, Christiane Mettlau 158 VHN 2/ 2006