Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte (2/06)
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Elterliches Erziehungsverhalten aus der Sicht von Kindern mit Lern- und Verhaltensstörungen
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Elterliches Erziehungsverhalten aus der Sicht von Kindern mit Lern- und Verhaltensstörungen Friedrich Linderkamp Universität Dortmund Ausgangslage Eigene Untersuchungen zu Störungshintergründen und Bedingungszusammenhängen bei Störungen mit Oppositionellem Trotzverhalten (OPP) und/ oder Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen (ADHS; Linderkamp 2005) haben dokumentiert, dass hinsichtlich psychosozialer Risikofaktoren bei den verschiedenen Störungsformen weniger Unterschiede als Gemeinsamkeiten bestehen. Dies trifft vor allem auf familiäre Faktoren zu, deren Stellenwert störungsübergreifend besonders hoch einzuschätzen ist. Über die Störungssubgruppen OPP, ADHS, OPP + ADHS hinweg konnten in erheblichem Ausmaß unbalancierte Familiensysteme (erfasst mittels des FAST, Gehring 1998), erhöhte Neurotizismuswerte der Eltern (erfasst mittels des BVND, Hänsgen 1991) sowie starke innerfamiliäre Konflikte (erfasst mittels quantifizierter Verhaltens- und Problemanalysen) festgestellt werden. Diese Ergebnisse stützen ein Modell von Patterson, DeGarmo und Knutson (2000), die störungsübergreifende Mechanismen für die Entstehung und Aufrechterhaltung externalisierender Verhaltensstörungen ausmachen. Gemäß diesem Modell interagiert ein extrem aktiver und schwieriger Säugling mit einer nicht responsiven, erziehungsschwachen Bezugsperson, die vor allem strenges und unzuverlässiges Erziehungsverhalten zeigt. Im weiteren Entwicklungsverlauf manifestieren sich dann häufig schon früh die ADHS-typischen und/ oder oppositionellen Verhaltensstörungen. Im Einzelnen lässt sich die eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern häufig mit jenen psychischen Beeinträchtigungen assoziieren, die in den eigenen Untersuchungen in Form von Beziehungs- und Verhaltensproblemen in den Familien und psychischen Beeinträchtigungen der Eltern ermittelt wurden. Konkret zeigen sich diese Probleme als sehr spezifische negative Interaktionsmuster zwischen Bezugspersonen und Kind. Dabei lässt sich ein beiderseitig erzwingendes Interaktionsverhalten (coersive interaction) feststellen, das sich auf Seiten der Eltern in Form von typischem unangemessenem Erziehungsverhaltens zeigt. Die Spezifität dieser gestörten Eltern-Kind- Interaktion stellen Dumas und Lafreniere (1995) in einem Reviewbeitrag fest: Eltern external auffälliger Kinder zeigen typisches negatives Erziehungsverhalten häufig nur gegenüber ihrem eigenen auffälligen Kind, wohingegen sie mit fremden Kindern deutlich angemessener und unterstützender umgehen. Diese spezifischen negativen Interaktionsmuster zeigten sich auch in den eigenen Untersuchungen, denn die größten Auffälligkeiten der Kinder wurden im Umgang mit den Eltern registriert. Gegenüber älteren, jüngeren und fremden Personen ließen sich demgegenüber kaum Verhaltensprobleme feststellen. Untersuchung Offenbar nehmen gestörte Eltern-Kind-Interaktionen einen zentralen Stellenwert bei der Entstehung und Aufrechterhaltung kindlicher Verhaltensstörungen ein. Eine genauere Analyse des elterlichen Erziehungsverhaltens könnte folglich wichtige Informationen für die Entwicklung von Elternberatungs- und Elterntrainingskonzepten liefern. Zur Erfassung des Erziehungsverhaltens der Eltern wurde in der vorliegenden Untersuchung das Erziehungsstil-Inventar (ESI) von Krohne und Pulsack (1995) eingesetzt; ein Verfahren, das Hinweise auf problematisches Erziehungsverhalten sowohl des Vaters als auch der Mutter liefert. Im Einzelnen wurden folgende Skalen berücksichtigt: 159 VHN 2/ 2006 Aktuelle Forschungsprojekte - unterstützende Erziehung - einschränkendes Verhalten - Häufigkeit positiver Rückmeldung/ Lob - Häufigkeit negativer Rückmeldung/ Tadel - Inkonsistentes Erziehungsverhalten und - Intensität des Bestrafens. Die Datenerhebung erfolgte gemäß den Einschätzungen der Kinder (im Alter von acht bis 16 Jahren), so dass ein ökologisch valider Zugang gewährleistet werden konnte. Zu Vergleichszwecken wurde der ESI außer bei Kindern mit externalisierenden Verhaltensstörungen auch bei Schulkindern mit Dyskalkulie oder LRS sowie bei einer unbelasteten Kontrollgruppe eingesetzt. Ergebnisse Bislang liegen Daten von 24 Kindern mit externalisierenden Verhaltensstörungen, von 13 Schulkindern mit Dyskalkulie oder LRS sowie von 21 Grundschulkindern (Kontrollgruppe) vor. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass sowohl störungsübergreifendes wie auch störungs- und geschlechtsspezifisches unangemessenes Erziehungsverhalten vorliegt. So erfahren die Kinder beider Störungsgruppen gleichermaßen sowie in gleichem Ausmaß seitens der Väter und Mütter ein stark inkonsistentes Erziehungsverhalten. Die Gruppe der Kinder mit spezifischen Lernstörungen beklagt das höchste Maß an mangelnder Unterstützung und an Einschränkungen, wobei sich in dieser Hinsicht vor allem die Mütter hervor tun. Die Kinder mit externalisierenden Verhaltensstörungen erfahren hingegen die höchste Strafintensität (v. a. durch die Mütter) und das höchste Maß an Tadel (v. a. durch die Väter). Bemerkenswert ist, dass sich die Kinder beider Störungsgruppen durchaus ausreichend gelobt fühlen. Die Stichprobe wird derzeit erweitert. Es wird erwartet, dass sich störungs- und geschlechtsspezifische Muster unterschiedlichen Erziehungsverhaltens identifizieren lassen. Weitere Informationen sowie genaue Literaturangaben können eingeholt werden unter friedrich.linderkamp@uni-dortmund.de Beziehungsprozesse in der Förderung und Begleitung von Menschen mit schweren Entwicklungsbeeinträchtigungen Kathrin Schleenbecker Universität Freiburg/ Schweiz Ausgangslage und Fragestellung Das hier vorgestellte Projekt wird im Rahmen einer Promotionsarbeit realisiert. Der vorläufige Arbeitstitel der Dissertation lautet: Beziehungsprozesse in der Förderung und Begleitung von Erwachsenen mit schweren Entwicklungsbeeinträchtigungen Theoretische Überlegungen und empirische Studien des Verhältnisses zwischen Erwachsenen mit schweren Entwicklungsbeeinträchtigungen und ihren Begleiter/ innen Die Beziehung, die zwei (oder mehr) Menschen verbindet, birgt in den ihr zugrunde liegenden Begegnungen Chancen zur gegenseitigen Anregung und individuellen Entwicklung (Fornefeld 2001, 44). So gesehen kann Heilpädagogik als eine Beziehungswissenschaft verstanden werden. Bach macht in einem 1998 erschienenen Aufsatz allerdings darauf aufmerksam, dass die zwischenmenschliche Beziehung in der heilpädagogischen Wissenschaft - im Gegensatz zu organisatorischen und didaktischen Aspekten - bis dato nur unzureichend reflektiert worden sei. Angesichts der zentralen Bedeutung der Beziehung für pädagogisches Handeln erscheint diese Feststellung Bachs bemerkenswert. Es gilt folglich danach zu fragen, wie sich ein Forschungszugang zum angesprochenen Thema gewinnen lässt. Eine Antwort auf diese Frage soll in dieser Arbeit aufgezeigt werden, nicht zuletzt unter Zuhilfenahme der von Bach unterschiedenen Begriffe (1998, 28): „Beziehungs- Aktuelle Forschungsprojekte 160 VHN 2/ 2006 partner“, „Beziehungsthematik“ und „Beziehungsbedingungen“. Die theoretischen Überlegungen der Arbeit umfassen inhaltliche Aspekte der Beziehung in der heilpädagogischen Praxis (Beziehungsthematik), Charakterisierungen der ausgewählten behinderten Personen und ihrer Betreuer (Beziehungspartner) sowie schließlich die Bedingungen ihres Verhältnisses zueinander (Beziehungsbedingungen). Der Schwerpunkt der empirischen Untersuchung bezieht sich auf den letztgenannten Faktor (Beziehungsbedingungen). Das Handeln in einem Beziehungsprozess in seinen vielfältigen Situationen wird durch Kommunikationsabläufe aufeinander abgestimmt. Aufgrund theoretischer Überlegungen, die hier nicht im Detail aufgeführt werden können, stehen diesbezüglich die folgenden erkenntnisleitenden Fragestellungen im Zentrum der empirischen Arbeit: 1. Welche Kommunikationskanäle werden von Erwachsenen mit schweren Entwicklungsbeeinträchtigungen und ihren Begleiter/ innen in der Förderung und Begleitung genutzt? 2. Wie sehen die Interaktions- und Kommunikationsverläufe im Umgang miteinander in ausgewählten Situationen (z. B. Essenssituation, Pflegesituation) des Tagesablaufes aus? 3. Der Austausch zwischen diesen Personengruppen findet unter bestimmten kontextuellen Voraussetzungen statt. Wie sehen diese Voraussetzungen für den Austausch der ausgewählten Personen aus hinsichtlich • der zeitlichen Organisation • der räumlichen Bedingungen • der personalen Ressourcen • der Lebensgemeinschaft und der Lebensgeschichte? Für die empirische Untersuchung wurde in zwei deutschen Institutionen ein Probelauf durchgeführt. Das Forschungsdesign wurde zur Datenerhebung in der Schweiz überarbeitet und optimiert. Methodisches Vorgehen Das Projekt lässt sich als eine Erarbeitung von (explorativen) Einzelfallstudien beschreiben. Fallstudien weisen ein komplexes Forschungsdesign auf. Die Kombination der Herangehensweisen ermöglicht das Herausstellen bedeutsamer Elemente - hier die Bedingungskomponenten - einzelner Fälle, aber auch das zusammenhängende Darstellen der Gesamtstruktur (Kraimer 1995). Fatke (1997, 59) geht davon aus, dass die Analyse und der Vergleich der erhobenen Daten mit vorhandenem Wissen die Differenzierung neuer Erkenntnisse sowie das Aufzeigen von Zusammenhängen ermöglicht. Für die Fallstudien wurde bei mehreren Wohn- und Beschäftigungseinrichtungen in verschiedenen Kantonen der Schweiz um Mitarbeit angefragt. Nach der Zusage einiger Institutionen wurden verschiedene Gespräche hinsichtlich der Personenwahl und datenschutzrechtlicher Aspekte geführt sowie das Projekt bei den beteiligten Wohngruppen ausführlich vorgestellt. Die Auswahlkriterien für die Personen lassen sich, zum Teil unter Herbeiziehung einer Personenkreisbeschreibung von Fröhlich (2003, 16), wie folgt formulieren: Ausgewählte Personen • leben und wohnen in institutionell organisierten Wohnformen mit verschiedenen Angeboten zur individuellen Gestaltung und Begleitung des Lebens; • sind zwischen 18 und 45 Jahre alt; • haben ausgeprägte kognitive Beeinträchtigungen; • brauchen andere Menschen zum Sammeln von einfachen Umwelterfahrungen; • brauchen andere Menschen, die es verstehen, auf einfache Art und Weise zu kommunizieren und die sich nicht ausschließlich auf lautsprachliche Kommunikation beziehen; • brauchen Menschen, die sie zuverlässig pflegen und versorgen. Aktuelle Forschungsprojekte 161 VHN 2/ 2006 Im Sommer 2005 wurden von drei ausgewählten Bewohnern und Bewohnerinnen in Schweizer Institutionen Daten erhoben. Der Hauptzugang zu den Fallstudien erfolgte durch teilnehmende Beobachtungen, die zum Teil mit Videoaufnahmen verbunden waren. Ziel dieser Beobachtungen war die Erfassung kommunikativer Abläufe in ausgewählten Situationen im Alltag. Die Beobachtungen verteilten sich auf vier aufeinander folgende Tage in einem festgelegten Zeitraster: Pro Tag wurden zwei Videos von ca. 10 Minuten aufgenommen und zeitversetzt zusätzlich drei Stunden der Beobachtungen protokolliert. Die ausgewählten Videoaufnahmen umfassen Essenssituationen (inklusive Vor- und Nachbereitung), Pflegesituationen und Situationen mit einem gezielten Unterstützungsangebot in der Freizeit oder bei alltäglichen Verrichtungen. Eine weitere Voraussetzung für die Videoaufnahmen war die gemeinsame Aktivität der Beteiligten. Die Auswertung der Videoaufnahmen erfolgt anhand von Beobachtungskriterien, die - soweit es möglich war - aus der theoretischen Erörterung des Themas erarbeitet wurden. Die protokollierten Beobachtungen dienen der Erfassung von Begegnungen im Tagesverlauf und deren Struktur. In einem Zeitraum von drei Stunden nach den Videoaufnahmen wurde ein Leitfadeninterview (5 - 15 Minuten) mit dem/ der an der beobachteten Situation beteiligten Begleiter/ in durchgeführt. Damit sollte dessen/ deren subjektives Erleben erfasst werden, indem Aspekte des gemeinsamen Umgangs, Rahmenbedingungen und Störfaktoren reflektiert wurden. Zur Klärung weiterer Rahmenbedingungen wurde jeweils ein Leitfadeninterview mit der Gruppenleitung geführt. Andere Kontextfaktoren wurden mit Hilfe von Dokumentenrecherchen und einem Fragebogen zu Strukturdaten zusammengetragen. Ausblicke Die Auswertung der erhobenen Beobachtungsdaten wird mit Hilfe einer auf dem Markt erhältlichen Software zur Analyse von Verhaltensbeobachtungen durchgeführt. Anschließend erfolgen die Transkription der Interviews und deren Analyse mit einem Textanalyseprogramm. Die Auswertung der erhobenen Daten soll bis zum Sommer 2006 abgeschlossen sein. Danach ist eine Vorstellung der Ergebnisse und deren Diskussion in den einzelnen Wohngruppen vorgesehen. Einzelne Schwerpunkte der Auswertung haben sich zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Beitrages schon herauskristallisiert: • Kommunikative Fähigkeiten im gegenseitigen Umgang zwischen den ausgewählten Erwachsenen und ihren Begleiter/ innen • Bedingungen im Beziehungsprozess und Dialog im Lebensraum: zeitliche und räumliche Faktoren • Beziehung und Dialog vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte • Kontakte und Kontaktchancen im Alltag. Aufgrund forschungsethischer Überlegungen ist bei der Aufbereitung und Darstellung der erhobenen Daten besondere Vorsicht geboten (Hopf 2003). Weitere Informationen und Literaturhinweise können eingeholt werden unter Kathrin.Schleenbecker@unifr.ch Aktuelle Forschungsprojekte 162 VHN 2/ 2006
