Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Warum behinderte Männer besondere Bedürfnisse haben und Rehabilitation auf Geschlechtergleichheit zielt
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Julia Zinsmeister
Die Autorin zeigt anhand der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung behinderter Menschen auf, dass die Rehabilitation zum Abbau sowohl behinderungs- als auch geschlechtsspezifischer Diskriminierung verpflichtet ist. Um das Phänomen besser verstehen zu können, schlägt sie statt eines additiven, eindimensionalen Modells der „doppelten Diskriminierung“ ein Modell der „Achsen der Differenz“ vor, das offen lässt, in welcher Art Diskriminierungen kumulieren oder einander relativieren können.
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Die Heil- und Sonderpädagogik hat nicht nur einen emanzipatorischen Anspruch, sondern auch einen entsprechenden gleichheitsrechtlichen Auftrag. Dieser wird u. a. im Sozialgesetzbuch zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) konkretisiert. In § 1 SGB IX heißt es: „Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen (…), um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden und ihnen entgegenzuwirken. Dabei wird den besonderen Bedürfnissen behinderter und von Behinderung bedrohter Frauen und Kinder Rechnung getragen.“ Zu den in § 1 genannten Leistungen gehören u. a. die pädagogische Unterstützung und Begleitung im Rahmen der Eingliederungshilfe (z. B. in betreuten Wohnangeboten), die heilpädagogische Frühförderung und die Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation. Nach § 1 SGB IX sind diese Leistungen und Maßnahmen darauf zu richten, die Gleichberechtigung behinderter Menschen sowohl in Bezug auf ihre Behinderung als auch ihr Geschlecht zu fördern. Bislang fühlen sich die meisten Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe freilich vorrangig, wenn nicht sogar ausschließlich dem Abbau oder der Kompensation behinderungsbedingter Nachteile verpflichtet. Es mag auf den ersten Blick auch nicht recht einsichtig erscheinen, warum der Abbau geschlechtsspezifischer Nachteile eine rehabilitative Aufgabe sein soll oder sein kann (Mrozynski 2002). 186 Das provokative Essay VHN, 75. Jg., S. 186 -191 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Warum behinderte Männer besondere Bedürfnisse haben und Rehabilitation auf Geschlechtergleichheit zielt Zum gleichheitsrechtlichen Auftrag der Pädagogik nach § 1 SGB IX Julia Zinsmeister Fachhochschule Köln ■ Zusammenfassung: Die Autorin zeigt anhand der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung behinderter Menschen auf, dass die Rehabilitation zum Abbau sowohl behinderungsals auch geschlechtsspezifischer Diskriminierung verpflichtet ist. Um das Phänomen besser verstehen zu können, schlägt sie statt eines additiven, eindimensionalen Modells der „doppelten Diskriminierung“ ein Modell der „Achsen der Differenz“ vor, das offen lässt, in welcher Art Diskriminierungen kumulieren oder einander relativieren können. Schlüsselbegriffe: Gleichheitsrecht, Frau und Behinderung, Diskriminierung ■ Why Disabled Men have Special Needs and why Rehabilitation Aims at Equality of the Sexes The Legal Mandate of Equality in Education According to § 1 SGB IX Summary: The author shows the intersectionality of sex and disability discrimination with reference to disabled people’s right on sexual and reproductive self-determination. For a better understanding of the phenomenon she suggests the use of an intersectional model of discrimination instead of the additive one-dimensional model of “double discrimination”. The “axes of difference” leave open how discriminations may cumulate or how they may put into perspective one another. Keywords: Right to equality, women and handicap, discrimination 1 Zur Kumulation von Diskriminierungsrisiken Hintergrund des § 1 S. 2 SGB IX bildet zunächst die gemeinschafts- und verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, in alle Planungs- und Entscheidungsprozesse die Perspektive des Geschlechterverhältnisses einzubeziehen und diese Planungs- und Entscheidungsprozesse wiederum für die Gleichstellung der Geschlechter nutzbar zu machen (Art. 2 und 3 Abs. 2 EG- Vertrag, Art. 3 Abs. 2 und 3 GG). Dieses Prinzip des Gender Mainstreaming ist in allen staatlichen Bereichen - von den Bau- und Finanzbehörden bis hin zur Sozialverwaltung - zu beachten. So erlangt Gender Mainstreaming auch Geltung in der staatlich finanzierten Rehabilitation und Sozialen Arbeit mit behinderten Menschen. In diesen Arbeitsfeldern besteht Bedarf an einer geschlechtssensibleren Leistungserbringung. Dieser Bedarf ist nicht allein frauenspezifischer Natur. Auch Männer haben ein Interesse daran, nicht wegen ihres Geschlechts benachteiligt zu werden. Traditionell wird die Gleichberechtigung freilich von Frauen angemahnt, da mangelnde Geschlechtergerechtigkeit vor allem Frauen die Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern erschwert, die gemeinhin als Privilegien gelten (Arbeit, Geld, Ansehen, Einfluss …). Der Vergleich der Lebenslagen zeigt, dass behinderte Frauen vermehrt benachteiligt werden. Sie sind zum Beispiel von Erwerbslosigkeit, Armut oder sexueller Gewalt ungleich stärker betroffen als behinderte Männer und nicht behinderte Frauen, und sie erhalten seltener Leistungen der beruflichen Rehabilitation als ihre männliche Vergleichsgruppe (BMFSFJ 1999). Der Gesetzgeber betont in § 1 SGB IX die „besonderen Bedürfnisse“ behinderter Frauen, um die Leistungsträger und die Rehabilitationseinrichtungen und Dienste für solche Benachteiligungen zu sensibilisieren, die häufig als „doppelte Diskriminierung“ bezeichnet werden. 2 Additives Modell: „doppelte Diskriminierung“ Dem Begriff der „doppelten“ Diskriminierung liegt ein additives Verständnis von mehrfacher Diskriminierung zugrunde. Frühere Analysen führten festgestellte „besondere Nachteile“ der Frauen bestimmter Minderheiten darauf zurück, dass diese behinderungsbedingte oder migrationsspezifische Nachteile erfahren (wie Männer der gleichen Minderheit auch) und ihre Problemlagen zusätzlich dadurch verschärft werden, dass sie frauenspezifischen Nachteilen ausgesetzt sind (Stötzer 2004; Schultz 1990). Soziale Unterschiede wegen des Geschlechts, der Behinderung oder der ethnischen Herkunft wurden als gleichzeitig wirksame, aber jeweils unabhängig, d. h. eindimensional wirkende Phänomene angesehen. Tatsächlich haben sowohl die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht als auch die Behinderung einen statistisch nachweisbar negativen Einfluss auf die Erwerbschancen und Einkommensverhältnisse der Betreffenden und potenzieren ihr Risiko, Opfer einer Sexualstraftat zu werden (Zinsmeister 2006 b). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass zentrale Aussagen über typische Nachteile und Problemlagen von „den Frauen“ oder „den Behinderten“ nicht 1 : 1 auf die Gruppe der behinderten Frauen übertragen werden können. Behinderte Frauen erfahren Benachteiligungen häufig in anderer Form (Ewinkel/ Hermes u. a. 1985). Dies zeigt sich insbesondere in den für den Geschlechterdiskurs zentralen Bereichen von Schwangerschaft, Mutterschaft und sexueller Gewalt. 2.1 Reproduktionsfreiheit und Elternschaft Der Blick auf behinderte Menschen als geschlechtliche Neutren trägt dazu bei, dass ihre sozialen Beziehungen fast nur im Hinblick auf ihre Herkunftsfamilie thematisiert, sie jedoch selten als (Ehe-)Partner und (potentielle) Eltern wahrgenommen werden. Warum behinderte Männer besondere Bedürfnisse haben 187 VHN 3/ 2006 Die tradierte und einst auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 10, 59 [78]) vertretene Ansicht, wonach die Mutterschaft der Bereich der Frau sei, „in dem ihr Wesen am tiefsten wurzelt und sich entfaltet“, bezog sich offenbar nur auf das Wesen nicht behinderter Frauen. Ihnen wird bis heute in aller Regel unterstellt, zur Versorgung eines Kindes fähig zu sein - wenn sie es denn nur wollen. Eine Behinderung hingegen wird gemeinhin mit Fürsorgebedürftigkeit gleichgesetzt, und es wird angenommen, dass Menschen, die selbst Hilfe benötigen, anderen nicht helfen können. Besonderen Vorbehalten begegnen Menschen mit der Diagnose einer seelischen oder geistigen Behinderung. Studien betreffend das Wohl von Kindern psychisch erkrankter Eltern nennen mögliche Belastungsfaktoren für die Kinder wie z. B. ein höheres Risiko, später selbst zu erkranken. Sie zeigen aber auch, dass sich die Erkrankung auf die Kinder nicht nur belastend, sondern auch neutral oder positiv auswirken kann (Wagenblass/ Schone 2001; Lazarus 2003). Auch die Diagnose einer geistigen Behinderung macht Menschen nicht zu „schlechteren“ Eltern. Belegt ist, dass sich die Probleme dieser Familien nicht wesentlich von denen nicht behinderter Eltern und ihrer Kinder unterscheiden (Pixa- Kettner, Bargefrede u. a. 1996). Anders als andere Eltern scheinen sich geistig behinderte Eltern aber keine Fehler erlauben zu können. Sie zählen zu den am strengsten kontrollierten und überwachten Elterngruppen in der Gesellschaft, an die bisweilen höhere Maßstäbe angelegt werden als an andere Eltern (Pixa-Kettner, Bargefrede u. a. 1996). Behinderte Eltern sind häufiger als nicht behinderte Frauen und Männer von staatlichen Eingriffen in ihre Elternrechte bedroht und betroffen. Ein Drittel der jährlich rund 6.000 Sorgerechtsentzüge betreffen Eltern mit einer psychiatrischen Diagnose (Lazarus 2003). Solche Eingriffe können im Einzelfall zum Schutz des Kindeswohls erforderlich und geboten sein. Vielfach könnten sie aber vermieden werden, wenn die Eltern im Vorfeld frühzeitiger und umfassender unterstützt würden. Das BVerfG hat bereits 1982 festgestellt, dass allein die eingeschränkte Fähigkeit, den Haushalt selbstständig zu versorgen, andere familiäre Obliegenheiten ohne fremde Hilfe wahrzunehmen und vorausschauend zu planen, es nicht rechtfertigen kann, einer behinderten Mutter ihr Kind zu entziehen. Vielmehr habe der Staat ihr zunächst alle geeignet erscheinenden Hilfen zu erbringen, die sie in Stand setzt, das Kind selbst aufzuziehen (BVerfG in NJW 1982, 1379 [1380f]). Im Jahr 2002 wertete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Wegnahme der Kinder eines lernbehinderten Ehepaares als schwere Missachtung des Familienlebens und verurteilte die Bundesrepublik wegen Verstoß gegen Art. 8 EMRK (EGMR v. 26. 2. 2002 - Kutzner ./ . Bundesrepublik Deutschland in ECHR, Reports of Judgements and Decisions 2002). Auch der EGMR betont, dass lernbehinderten Eltern alle erdenklichen staatlichen Hilfen zu gewähren sind, bevor die Trennung der Kinder von den Eltern erfolgen darf. Leistungen zur Unterstützung behinderter Eltern werden bislang aber nicht in ausreichendem Umfang angeboten und gewährt. Durch ihre einseitige Orientierung an männlichen Lebenslagen hat die Gesetzgebung, aber auch die Rehabilitationsforschung und -praxis den Nachteilen behinderter Menschen in den typisch „weiblichen“ Aufgabenfeldern der Hausarbeit und Kindererziehung kaum Aufmerksamkeit geschenkt (Schildmann 2006). 2.2 Sexuelle Gewalt im Kontext von Geschlecht und Behinderung Sexuelle Gewalt wird in erster Linie von Männern verübt und ist mehrheitlich gegen Kinder und Frauen gerichtet (PKS 2003). Untersuchungen belegen, dass die Einrichtungsstrukturen in der Behindertenhilfe Gewalt und Grenzverletzungen gegen die Nutzerinnen und Nutzer in vielfacher Hinsicht begünstigen können (Zemp 2002; Thomas/ Wawrok/ Klein u. a. 2002). Spezifische Risikofaktoren bilden u. a. das Fehlen einer geschützten Privat- und In- Julia Zinsmeister 188 VHN 3/ 2006 timsphäre, mangelnde Sexualaufklärung, der erschwerte Zugang zu externen Beratungs- und Rechtsschutzmöglichkeiten sowie die Abhängigkeit vom Betreuungspersonal und die damit verbundene Gefahr des Machtmissbrauchs (Zemp 2002; Thomas/ Wawrok/ Klein u. a. 2002). Die Opfer werden bislang selten ermutigt, Strafanzeige zu erstatten. Nur in wenigen Fällen werden von den Einrichtungen geeignete Präventionsmaßnahmen ergriffen. Die Untätigkeit der Einrichtungen schützt die Täter vor Aufdeckung und macht behinderte Frauen, aber auch Männer damit zu vergleichsweise „sicheren“ Opfern (Degener 1996; Zinsmeister 2003). 3 Mehrdimensionales Modell: die „Achsen der Differenz“ Ein additives Verständnis im Sinne einer „doppelten Diskriminierung“ reduziert die denkbaren Kumulationen auf die bloße Addition von Nachteilen und vermag damit die beschriebenen Eingriffe in die Reproduktionsfreiheit und Selbstbestimmung behinderter Frauen nicht zu erklären. Es zeigt sich, dass verschiedene Diskriminierungen sich nicht eindimensional, d. h. getrennt voneinander analysieren lassen (Schultz 1990; Rommelspacher 1995). Aufgrund der „Achsen der Differenz“ (Knapp 2001), ihren Überschneidungen und Durchkreuzungen werden das Geschlecht, die sexuelle Identität, Behinderung, Ethnie oder das Alter niemals „allein wirksam, sondern (…) in spezifischen Kontexten gleichzeitig mit und durch andere Differenzen konstruiert, artikuliert und sozial realisiert…“ (Schein/ Strasser 1997). Daher ist dem Begriff der mehrdimensionalen Diskriminierung der Vorzug zu geben. Er lässt offen, in welcher Art Diskriminierungen kumulieren oder einander relativieren können. In der Behinderten- und Rehabilitationsforschung haben insbesondere Niehaus (Niehaus 1989, 1995) und Schildmann (Schildmann 2000, 2004, 2006) zahlreiche Kumulationen zwischen Behinderung und Geschlecht herausgearbeitet. Ihre Arbeiten belegen, dass die Analyse sozialer Ungleichheit stets auch aus der Perspektive derjenigen erfolgen muss, die sich an den Schnittstellen zwischen verschiedenen Kategorien bewegen. Nur so kann verhindert werden, dass andere als die als zentral angesehenen gesellschaftlichen Dominanzverhältnisse ausgeblendet werden (Crenshaw 1993). Für die deutsche Frauenpolitik bildete - wenn auch unbewusst - die nicht behinderte Frau, für die Behindertenpolitik der behinderte Mann den Maßstab, anhand dessen beurteilt wurde, welchen typischen Problemlagen der jeweiligen Gruppe entgegengesteuert werden soll (Schildmann 2006). Unterschiede zwischen nicht behinderten und behinderten Frauen wurden in der Frauenpolitik folglich als behinderungsbedingte Problematik angesehen. Die Behindertenpolitik wiederum betrachtete die Familienplanung und Elternschaft behinderter Menschen und die gegen sie gerichtete sexuelle Gewalt nicht als behindertenspezifische Angelegenheit, sondern als „Frauenthemen“ und damit als Aufgabe der Frauen- und Familienpolitik. Erst aus der Perspektive behinderter Frauen erschließen sich die Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Behinderung. Die Behinderung bildet im Verhältnis zum Geschlecht ebenso wenig einen „Nebenwiderspruch“ wie das Geschlecht im Verhältnis zur Behinderung. Für das Behindertenrecht wie für die Behindertenpädagogik bedeutet dies: Wer Unterschiede und Ungleichheiten zwischen behinderten Menschen in den Blick nehmen und ihren individuellen Lebenslagen und Bedürfnissen Rechnung tragen will, muss den prioritären Charakter der Kategorie Behinderung in Frage stellen. 4 Implementierung in der Praxis Aus der Erkenntnis, wonach eindimensionale Konzeptionen von Geschlecht und Behinderung die Wirksamkeit politischer Gleichstellungspolitiken beeinträchtigen, resultiert die Notwendigkeit, jene Politiken enger zu verzahnen. So fanden schließlich die „besonderen“ Be- Warum behinderte Männer besondere Bedürfnisse haben 189 VHN 3/ 2006 dürfnisse behinderter Frauen Eingang in das SGB IX. Die Formulierung des § 1 S. 2 SGB IX ist redaktionell freilich missglückt. Die Bezeichnung als „besondere“ Bedürfnisse suggeriert, behinderte Männer hätten keine oder allenfalls reguläre Bedürfnisse. So wird nicht nur der Blick auf die Geschlechtsspezifik der Bedarfe und Lebenslagen behinderter Männer verstellt, sondern es werden gleichsam die Bedürfnisse der Männer zum Maßstab erhoben, an dem sich ablesen lässt, welche Bedürfnisse von Frauen nicht mehr als normal, sondern als besonders anzusehen sind. Die Formulierung des § 1 S. 2 SGB IX reproduziert damit eben jenes geschlechtshierarchische Denken, das mit Hilfe der Norm überwunden werden soll: die Gleichsetzung vom Menschen mit dem Mann, die es erforderlich macht, Frauen gesondert zu erwähnen, um sie mitdenken zu können, sowie die Marginalisierung der Rehabilitationsbedürfnisse von Frauen zur geschlechtsspezifischen Besonderheit. Um dieses Paradigma durchbrechen zu können, muss in der Rehabilitation behinderter Menschen künftig verstärkt denjenigen Lebensbereichen, Bedarfs- und Problemlagen behinderter Menschen Rechnung getragen werden, die in unserem Kulturkreis weiblich codiert sind: Partnerschaft, Sexualität, Familienplanung, Elternschaft, sexuelle und häusliche Gewalt. Die Handlungsbedarfe sind groß. Viele Einrichtungen der Behindertenhilfe haben bereits begonnen, Leitlinien zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung behinderter Menschen zu entwerfen. Betreutes Wohnen soll und darf nicht länger mit dem faktischen Verzicht auf Privat- und Intimsphäre und gelebte Sexualität verbunden sein. Der Selbstbestimmung behinderter Menschen ist auch in Bezug auf die freie Wahl ihrer Lebensform - sei es das Leben und Wohnen alleine oder in Partnerschaft, mit oder ohne Kinder - Geltung zu verschaffen (Bieritz-Harder 2003). Geeignete Unterstützungsangebote müssen ausgebaut werden. Hierzu zählen wohnortnahe, in Teilzeit nutzbare und familienfreundliche Angebote (§§ 9 Abs. 1 S. 3, 19 Abs. 2 und 33 Abs. 2 SGB IX) und die Elternassistenz (Zinsmeister 2006 a). Die Förderung der Geschlechtergerechtigkeit ist nicht nur ihr gesetzlicher Auftrag, sondern auch eine Chance für die Rehabilitation: Sie eröffnet einen ganzheitlicheren Zugang zu den Lebenswelten behinderter Frauen und Männer und deren besonderen und doch ganz normalen Bedürfnissen. Literatur Bieritz-Harder, Renate (2003): „Besondere Bedürfnisse“ behinderter Frauen im Sinne des § 1 S. 2 SGB IX. Expertise, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.). Bonn Bundeskriminalamt (Hrsg.) (2003): Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 2002. Wiesbaden (zit.: PKS) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (1999): Untersuchung zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland. 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Julia Zinsmeister Kilianstraße 73 D-90425 Nürnberg E-Mail: julia-zinsmeister@gmx.de Warum behinderte Männer besondere Bedürfnisse haben 191 VHN 3/ 2006
