eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2006
754

Förderdiagnostisches Arbeiten in Theorie und Praxis

101
2006
Reto Luder
Albin Niedermann
Alois Buholzer
In einer qualitativ-empirischen Studie wurde die förderdiagnostische Praxis in der schulischen Heil- und Sonderpädagogik analysiert. Im vorliegenden Artikel werden die Ergebnisse einer mündlichen Befragung von Lehrpersonen im Berufsfeld der Heilpädagogik zum Thema Förder¬diagnostik ausgewertet. Es wird dargestellt, wie die befragten Personen bei der diagnostischen Erfassung ihrer Schülerinnen und Schüler, der anschließenden Förderplanung, der Förderung und der Evaluation dieser Maßnahmen in der Praxis vorgehen. Die Ergebnisse werden mit einem theoretisch begründeten Modell zum förderdiagnostischen Vorgehen kontrastiert und vor diesem Hintergrund interpretiert.
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293 1 Verlaufsmodell zum förderdiagnostischen Prozess Über Förderdiagnostik gibt es mittlerweile relativ umfangreiche Literatur. Die überwiegende Mehrheit der Publikationen zum Thema beschäftigt sich auf der Grundlage eines theoretischen Zugangs mit Konzepten und Abläufen. Zur Situation in den Anwendungsgebieten der heil- und sonderpädagogischen Praxis ist dagegen nur wenig bekannt. Kontakte mit dieser Praxis zeigen jedoch, dass gerade im Arbeitsfeld der Förderdiagnostik große Schwierigkeiten vorhanden sind, und dass ein hoher Bedarf an Unterstützungsangeboten besteht (Niedermann 2003, 12). An dieser Stelle soll nicht auf die theoretische Begründung oder auf die Konzepte, Menschenbilder, Ziele und Aufgaben der Förderdiagnostik eingegangen werden. Das entsprechende Begriffsverständnis, von dem hier in Bezug auf diese Aspekte ausgegangen wird, konstituiert sich auf der Grundlage der Konzepte von Bundschuh (1985), Sander (1998) sowie Buholzer (2003) und ist beispielsweise bei Niedermann (2003, 15ff) übersichtlich zusammengefasst. Der Fokus liegt auf der methodischen Dimension der konkreten Umsetzung einer förderdiagnostischen Vorgehensweise im Kontext der schulischen Heil- und Sonderpädagogik. Konkret bedeutet dies, dass die Einzeltätigkeiten der Lernstandserfassung, der Bestim- VHN, 75. Jg., S. 293 -304 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Förderdiagnostisches Arbeiten in Theorie und Praxis. Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie Reto Luder Albin Niedermann Alois Buholzer Pädagogische Hochschule Universität Freiburg/ Schweiz Pädagogische Hochschule Zentralschweiz, Zürich Luzern ■ Zusammenfassung: In einer qualitativ-empirischen Studie wurde die förderdiagnostische Praxis in der schulischen Heil- und Sonderpädagogik analysiert. Im vorliegenden Artikel werden die Ergebnisse einer mündlichen Befragung von Lehrpersonen im Berufsfeld der Heilpädagogik zum Thema Förderdiagnostik ausgewertet. Es wird dargestellt, wie die befragten Personen bei der diagnostischen Erfassung ihrer Schülerinnen und Schüler, der anschließenden Förderplanung, der Förderung und der Evaluation dieser Maßnahmen in der Praxis vorgehen. Die Ergebnisse werden mit einem theoretisch begründeten Modell zum förderdiagnostischen Vorgehen kontrastiert und vor diesem Hintergrund interpretiert. Schlüsselbegriffe: Förderdiagnostik, schulische Heil- und Sonderpädagogik ■ Theory and Practice of Assessment-Oriented Teaching in Special Needs Education. Results of a Qualitative Empirical Study Summary: This qualitative empirical study analyses the practice of assessment-oriented instruction of special teachers in integrative school settings and special classes. In their article, the authors evaluate the results of an oral investigation amongst special teachers with regard to their interventions for special educational needs of pupils with learning difficulties. They show how these teachers proceed from the diagnostic assessment of their pupils to the individual educational planning, the application of special measures and their evaluation. The results are compared to a theorybased model of assessment in special needs education and they are interpreted on this background. Keywords: Assessment in special needs education, special needs education at school Fachbeitrag mung der Lernziele, der Auswahl der Lernangebote und Vermittlungsformen sowie der Evaluation der Lernerfolge und Entwicklungsschritte miteinander verbunden und koordiniert werden müssen; daraus resultiert die Adaptation der Förderangebote mit dem Ziel der Verminderung oder Überwindung der Lernprobleme des Kindes. Förderdiagnostik zielt somit darauf hin, den Lernstand abzuklären und zu beschreiben, in Kenntnis und Anwendung eines Modells oder einer Theorie des Erwerbs die Zone der nächsten Entwicklung festzulegen, den darauf sich beziehenden behinderungsspezifischen Förderbedarf zu definieren und geeignete Förderangebote zu bestimmen, deren Resultate zu evaluieren und auf dieser Basis die weitere Förderung anzupassen (vgl. auch Kobi 1995, 187; Kretschmann 2004, 123 - 137). Suhrweier und Hetzner (1993, 72ff) haben einen möglichen Verlauf eines solchen förderdiagnostischen Prozesses beschrieben und in einem Flussdiagramm dargestellt. In Abbildung 1 ist dieser Prozessverlauf in abgewandelter Darstellung und unter Verwendung der üblichen Symbole für Flussdiagramme wiedergegeben. Ausgangslage für den förderdiagnostischen Prozess bildet die Feststellung einer Behinderung des Lernens (Schritt 1). Darauf aufbauend wird eine exakte Beschreibung der Diskrepanz zwischen Ist-Zustand und Soll-Zustand geleistet (Schritt 2) und der entsprechende Förderbedarf bestimmt (Schritt 3). Auf der Grundlage verschiedener externaler und internaler Faktoren werden die aktuellen Lernbedingungen und Lernvoraussetzungen analysiert (Schritt 4). Die so gewonnenen Erkenntnisse werden für die Entwicklung eines Förderplans zusammengeführt, auf dessen Basis entstehen die Förderangebote und werden die geeignet erscheinenden Methoden ausgewählt (Schritt 5). Diese werden durchgeführt, jedoch immer mit dem Bewusstsein ihres vorläufigen Erprobungscharakters und der provisorischen Gültigkeit der Hypothesen ihrer Begründung (Schritt 6). Sie unterliegen einer permanenten Kontrolle und Bewertung (Schritt 7). Ergibt diese Kontrolle eine nicht ausreichende Effektivität oder unerwünschte Wirkungen der getroffenen Maßnahmen, wird auf die Schritte 3 und 4 zurückgegriffen. Ist die Diskrepanz zwischen Ist- und Soll-Zustand im gewünschten Ausmaß reduziert worden, können die Maßnahmen abgeschlossen werden. Zusammengefasst besteht damit der Förderdiagnostische Prozess aus vier jeweils aufeinander bezogenen Phasen: 1. Feststellung des Problems 2. Analyse des Problems 3. Plan für die Lösung des Problems 4. Prozess der Förderung und Evaluation Im Verlauf dieses Prozesses können für die Erfassung des Lernstandes sowie für die Kontrolle und Bewertung der Effekte getroffener Fördermaßnahmen verschiedene diagnostische Methoden eingesetzt werden. Zu den wichtigsten dieser Maßnahmen gehören die teilnehmende Beobachtung, Gespräche mit den Kindern oder mit Personen aus ihrem familiären oder pädagogischen Umfeld, die Fehleranalyse, die Analyse von Arbeitsprodukten sowie der gezielte Einsatz von Hilfsmitteln zur Lernstandserfassung oder eigentliche Testverfahren (Niedermann 2003, 24ff). Im Idealfall werden einige dieser Methoden eingesetzt, um kontrolliert Informationen über den Lernstand des Kindes zu erfassen, auf deren Grundlage dann die Fördermaßnahmen ausgewählt werden. Die Evaluation erfolgt wiederum unter Einsatz der genannten Methoden. 2 Beschreibung der Untersuchung 2.1 Fragestellung Die im Folgenden beschriebene Untersuchung soll zeigen, inwieweit das tatsächliche Vorgehen von schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen (SHP) in der Praxis dieser Idealvorstellung entspricht oder sich gegebenenfalls davon unterscheidet. Zu dieser Frage liegen bis- Reto Luder et al. 294 VHN 4/ 2006 Förderdiagnostisches Arbeiten in Theorie und Praxis 295 VHN 4/ 2006 Abb. 1: Flussdiagramm des förderdiagnostischen Prozesses (auf der Grundlage von Suhrweier und Hetzner 1993, 73). 1) Feststellung einer Behinderung des Lernens 2) Beschreibung der Behinderung 3) Feststellung des Förderbedarfs 4) Analyse von Bedingungen und Ursachen (intern/ extern) 5) Entwicklung eines Förderplans 6) Durchführung der Fördermaßnahmen 7) Kontrolle und Bewertung Sollzustand nicht erreicht Abschluss Sollzustand erreicht Feststellung des Problems Analyse des Problems Plan für die Lösung des Problems Prozess her nur sehr wenige fundierte Ergebnisse vor. Es war deshalb das Ziel dieser Studie, anhand einer Analyse praktisch realisierter Prozessverläufe förderdiagnostischer Tätigkeit Formen der Umsetzung im Berufsfeld der schulischen Heilpädagogik zu beschreiben. Inwieweit werden theoretisch beschriebene Konzepte umgesetzt? Dabei interessierten vor allem die folgenden Fragen: • Welche förderdiagnostischen Konzepte verfolgen SHP in der Praxis? • Wie gehen sie bei der Erfassung des Lernstandes vor? • Wie werden Förderziele bestimmt und Fördermaßnahmen geplant? • Wie erfolgt eine Evaluation und Anpassung der Fördermaßnahmen? 2.2 Methodik der Untersuchung Um die Vorgehensweise in der Praxis zu erfassen, wurde eine qualitative Datenerhebung in der Form einer mündlichen Befragung gewählt. Es wurden halbstandardisierte Interviews anhand eines Leitfadens durchgeführt. Die Hauptkategorien dieses Leitfadens wurden vor dem Interview theoriegestützt (deduktiv) festgelegt. Die Subkategorien wurden induktiv aus dem erhobenen Datenmaterial extrahiert. Insgesamt ergab sich ein Kategoriensystem mit 73 Auswertungskategorien. Die Stichprobe setzte sich aus Lehrpersonen im Arbeitsfeld der schulischen Heilpädagogik zusammen (Lehrerinnen und Lehrer an Klein- und Sonderklassen oder in Modellen der integrativen schulischen Förderung). Insgesamt konnten die Interviews von 39 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgewertet werden. Die Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und mit einer speziellen Software zur qualitativen Datenanalyse elektronisch ausgewertet. Bei der Auswertung wurden den 73 Auswertungskategorien 336 codierte Interviewsequenzen zugeordnet. 3 Ergebnisse: Förderdiagnostik in der Praxis In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse der Datenauswertung entlang den Hauptkategorien der Auswertung dargestellt. Diese lieferten gleichzeitig die inhaltlichen Fixpunkte für die chronologische Struktur der Interviews (Hauptkategorien des Leitfadens). Die induktiv gefundenen Kategorien werden jeweils umschrieben und - wo dies sinnvoll erscheint - mit entsprechenden aussagekräftigen Interviewzitaten belegt. 3.1 Feststellung des Problems Die befragten SHP verfolgen generell drei verschiedene Strategien, um den Lernstand ihrer Schülerinnen und Schüler zu erfassen. Eine kleine Minderheit verzichtet zu Beginn einer Förderung ganz bewusst auf Informationen zum Lernstand. Die meisten der Befragten holen einerseits bereits vorhandene Informationen über das betreffende Kind ein und führen andererseits selber diagnostische Schritte durch. 3.1.1 Bewusster Verzicht auf Informationen Einige wenige SHP verzichten zu Beginn ihrer Arbeit bewusst auf Informationen über ihre Schülerinnen und Schüler und deren Lernstand. Eine Begründung dafür ist, unvoreingenommen an das Kind herantreten zu können, wie die folgenden Zitate veranschaulichen: „Am Anfang, wenn die Schüler neu zu mir kommen, will ich jeweils keine Informationen. Ich will zuerst mit eigenen Augen schauen und mir ein Bild aus meiner Optik machen.“ (mits1/ 12) „Manchmal lese ich es, aber erst am Ende des ersten Quartals, so dass ich schon einen Gesamteindruck des Kindes habe, ohne dass ich schon voreingenommen bin von seiner Vergangenheit.“ (mits2/ 12) Reto Luder et al. 296 VHN 4/ 2006 „Wenn ein Schüler frisch zu mir kommt gehe ich nicht so vor, dass ich wissen möchte, was er schon gemacht hat, sondern ich möchte ihn kennen lernen, wie er als Typ ist/ wie er sich verhält, wie er sich einpasst in die Klasse.“ (peso2/ 3). Ein anderer Grund für den Verzicht auf Informationen über den Lernstand der Kinder ist die Überzeugung, dass diese im Vergleich zu einem positiven Unterrichtsklima und einer persönlichen Beziehung nicht besonders relevant sind und dass sich deshalb der Aufwand für deren Erhebung nicht lohnt. Die Zeit wird lieber für anderes eingesetzt: „Darum habe ich mich gar nicht so fest darauf konzentriert, soviel Zeit und Kraft zu investieren, um Diagnosen zu stellen. Weißt [weißt du, Anm. d. Autors] über Leistungen und Lernstand, sondern vielmehr darauf Wert gelegt, dass die Kinder sich wohl fühlen beim Lernen, dass sie ein gutes Lernerlebnis haben.“ (edma3/ 27) Schließlich wurde in wenigen Fällen geantwortet, dass auf das Einholen von Informationen verzichtet werde, weil dies gar nicht nötig sei. Aus den Interviews wird nicht klar, inwieweit dieser Informationsverzicht bewusst verläuft. Es wird angenommen, dass sich die Problematik des Kindes in gewissen Fällen dem SHP implizit und intuitiv erschließt: „Und man merkt natürlich sofort, wenn es so Zappel-Philippe sind oder Kinder, die ihre Aufmerksamkeit überhaupt nicht richten können.“ (cosc2/ 6) „Ich frage mich generell, ob all diese Tests etwas nützen, denn während der Arbeit mit den Kindern und während des Unterrichts beobachtet und erfasst man ständig den Lernstand der Kinder.“ (mazg1/ 16) 3.1.2 Informationen einholen Die Mehrheit der befragten SHP gab jedoch an, aktiv Informationen zum Lernstand und zum Kontext ihrer Schülerinnen und Schüler einzuholen. Dabei gehen die meisten so vor, dass sie bei den Lehrpersonen, die zuvor mit dem Kind gearbeitet haben, nachfragen und Abklärungsberichte oder Schülerakten von bereits konsultierten Stellen einsehen: „Ich bringe die bisherige schulische und außerschulische Laufbahn des Kindes in Erfahrung, indem ich mit vorangegangenen Lehrpersonen Übergabegespräche führe, und hole weitere Informationen über das Kind aus Abklärungsberichten des schulpsychologischen Dienstes ein.“ (mazg2/ 17) Abklärungsberichten von schulpsychologischen Diensten wird dabei recht unterschiedliches Gewicht beigemessen. Einige SHP stufen deren Bedeutung für die eigene Arbeit als eher gering ein, für andere sind sie eine wichtige Informationsquelle: „Die meisten Kinder waren bei einer schulpsychologischen Abklärung vorher. Unsere Schulpsychologin gibt am Schluss des Berichtes immer Anleitungen, in welchen Bereichen das Kind gefördert werden muss oder wo es Schwächen hat, zum Beispiel eher im auditiven Bereich oder im visuellen usw.“ (yveg2/ 4) Die Zusammenarbeit mit Fachinstanzen beschränkt sich aber bei den befragten Personen nicht nur auf den Beginn der Arbeit mit einem Kind und auf den schulpsychologischen Dienst. Auch zu späteren Zeitpunkten werden von den befragten Personen andere Fachstellen konsultiert, in der Regel, um Informationen zu eng umschriebenen Fachfragen zu erhalten: „Oder, was auch dazugehören kann, ist der Kontakt mit anderen Fachstellen, das kann der Kinderarzt sein, KJPD [Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst, Anm. d. Autors], Beratungsstelle, je nachdem, wo, in welche Richtung auch die Bedürfnisse gehen oder wer noch involviert ist, oder wo ich das Gefühl habe, dass man noch etwas Förderdiagnostisches Arbeiten in Theorie und Praxis 297 VHN 4/ 2006 genauer abklären müsste, sei das beim/ via Kinderarzt, Augenarzt, oder was auch immer in der Richtung.“ (alba1/ 12) In einigen Institutionen gibt es feste Abläufe für die Übernahme eines Kindes und die damit verbundene Erhebung von Informationen über den Lernstand und den Kontext. Ein solcher Ablauf wird im folgenden Zitat illustriert: „Wenn wir im (…) einen neuen Schüler/ eine neue Schülerin bekommen, haben wir jeweils ein Übergabegespräch. Schon vor dem Gespräch hat uns die abgebende Lehrperson einen Schülerbericht abgegeben. Diesen lese ich jeweils vor dem Gespräch durch und mache mir Notizen. So kann ich nachher gezielte Fragen über Stärken und Schwächen stellen, und die Lehrpersonen sprechen über angestrebte Ziele, entsprechende Maßnahmen zum Erreichen dieser und welche Ziele bisher erreicht wurden.“ (luri2/ 3) Als eine weitere wichtige Informationsquelle für die SHP wurden die Eltern genannt. Bemerkenswert ist, dass die Eltern fast in allen Fällen nicht vorgängig, sondern erst nach erfolgtem Erstkontakt mit dem Kind in die Arbeit mit einbezogen werden. Der Zeitpunkt des Kontakts mit den Eltern variiert dabei sehr stark. Die Spanne reicht von einem Tag bis zu einem halben Jahr, wie die folgenden Zitate zeigen: „Nach der ersten Stunde mit dem Kind, wo es darum geht, was das Kind gut kann, das Beziehungsfeld ausloten, rufe ich zu Hause an. Da höre ich auch von der Mutter oder dem Vater noch etwas, und dann habe ich das Thema etwas eingegrenzt.“ (saje2/ 15) „Nach einem halben Jahr findet das Elterngespräch statt. Das ist auch immer sehr interessant, da erfährt man, wie sich das Kind zu Hause verhält oder wie die Eltern von ihrem Kind sprechen, ja, da spürt man viel heraus, das auch sehr wichtig ist in Bezug auf das Lernverhalten und das, was man in der Schule sieht.“ (mits2/ 12) Die von den Eltern erhaltenen Informationen werden dabei von einigen SHP eher kritisch betrachtet. Die Eltern werden als einseitige Partei wahrgenommen und ihre Informationen als begrenzt gültig eingeschätzt: „Und dann habe ich auch die Eltern, die mir natürlich schon manches erzählt haben, die sind zwar vielfach vielleicht ein bisschen einseitig oder ein bisschen rudimentär, die Informationen von den Eltern. Aber trotzdem sind sie auch aufschlussreich und spannend.“ (cofr2/ 12) 3.1.3 Eigene Diagnostik Die befragten SHP führen eine vielfältige Reihe eigener diagnostischer Tätigkeiten durch, mit deren Hilfe sie den Lernstand ihrer Schülerinnen und Schüler einschätzen. Die genannten diagnostischen Tätigkeiten lassen sich in die folgenden Gruppen unterteilen: • Beobachtung • Tests • Eigene Testverfahren • Gespräche mit Schülerinnen und Schülern • Analyse von Schülerarbeiten • Individuelles Arbeiten mit dem Kind im Unterricht • Lernkontrollen im Unterricht Beobachtung Sehr viele der befragten SHP messen der Beobachtung eine zentrale diagnostische Bedeutung zu. Dabei werden unterschiedliche Formen von Beobachtung praktiziert. Sie reichen von einer unstrukturierten Beobachtung der Kinder während des Unterrichts oder während der Förderung über strukturiertere Beobachtungsformen bis hin zum Einsatz von speziellen Beobachtungsinstrumenten und Beobachtungshilfsmitteln. Die folgenden Zitate veranschaulichen je diese unterschiedlichen Strukturierungsgrade der Beobachtung: Reto Luder et al. 298 VHN 4/ 2006 Unstrukturierte Beobachtung: „Ja, und dann kommt dann der erste Schultag und dann beginnt das Beobachten. Ich führe ein Beobachtungsheft, und dort schreibe ich kunterbunt alles durcheinander ein und ordne es dann immer wieder für mich. In diesem Beobachtungsheft sind dann meine Informationen.“ (yveg1/ 12) „Der zweite Schritt ist die Beobachtung in der Klasse anhand von Aufgabenstellungen und zu verschiedenen Themen, zu Math oder Sprache oder zu Sachthemen. Oder auch Beobachtungen zum Verhalten oder vom Können in verschiedenen Fächern, im Turnen, Singen, Gestalten, in der Klassenstunde und so weiter. Das sind alles Beobachtungen, die ich mache und die ich zum Teil aufschreibe und zum Teil auch nicht aufschreibe. Das gibt mir mit der Zeit ein Gesamtbild des Schülers.“ (saje1/ 13) Strukturierte Beobachtung: „Zuerst mache ich allgemeine Beobachtungen, z. B. Arbeits- und Sozialverhalten. Dann gezielte Beobachtungen bezüglich der einzelnen Schulfächer.“ (luri2/ 5) „Während des Schulunterrichts beobachte ich das Kind von Anfang an und versuche festzustellen, wo es steht. Anhand der drei Bereiche der Selbst-, Sozial- und Fachkompetenz halte ich einen Ist-Stand des Kindes fest.“ (mazg2/ 18) Einsatz von Beobachtungshilfsmitteln und -instrumenten: „Gemeinsam mit Kolleginnen habe ich einen Beobachtungsbogen zum Schriftspracherwerb erarbeitet. Der Bogen ist sehr ausführlich und erlaubt deshalb ein gezieltes Hinschauen. Da ich die Inhalte und Zusammenhänge gut kenne, hilft mir der Bogen extrem, Ziele festzulegen. Mittlerweile gebrauchen schon mehrere Lehrpersonen dieses Erfassungsinstrument.“ (luri2/ 6) „Kinder beobachten und fördern von Viktor Ledl. Dort hat es sehr viele so Anregungen zu gezielten Beobachtungen. Das sind Beobachtungsbogen, Fragebogen, die ich mir aus dem Buch herauskopiert habe und vergrößert habe und ich regelmäßig eigentlich ausfülle.“ (cofr2/ 14) Tests und eigene Testverfahren Das Verständnis des Begriffs „Test“ der befragten SHP zeigte sich in den Interviews als sehr heterogen. Als Test wurden so unterschiedliche Dinge wie diagnostische Einschätzskalen, Beobachtungsbögen, standardisierte Testverfahren und sogar Kommentare zu Lehrmitteln bezeichnet. Tests im engeren Sinne, verstanden als normierte psychodiagnostische Verfahren oder standardisierte Schulleistungstests, wurden nicht oder sehr selten genannt. Häufig wurden dagegen von den SHP selber erarbeitete diagnostische Hilfsmittel (meistens ebenfalls als Tests bezeichnet) beschrieben. Diese werden oft auf der Grundlage von Lehrmitteln oder Aufgabensammlungen zu bestimmten Themenbereichen konstruiert: „…und stelle Aufgaben zusammen, oder (-) es ist nicht in dem Sinn ein Test, aber einfach auf verschiedenste Aufgaben, um näher einkreisen zu können, wo das Problem liegt oder wo ist der Punkt, wo man gezielt mit ihm arbeiten muss.“ (alba1/ 5) Eine recht verbreitete Praxis scheint es auch zu sein, einzelne Items oder Teile aus bestehenden Tests oder anderen diagnostischen Hilfsmitteln herauszunehmen und neu zusammenzustellen: „Ich habe eigene Unterlagen, die ich mir erarbeitet habe. Diese sind ein Puzzle von verschiedenen Tests.“ (limu2/ 5) Gespräche mit Schülerinnen und Schülern Oft erwähnt wurde der explizite Versuch, auch die Sichtweise und die Selbstwahrnehmung der Schülerin oder des Schülers in die diagnostische Erfassung mit einzubeziehen. Vor allem auf der Mittel- und Oberstufe werden von den befragten SHP im Rahmen der Lernstandserfassung häufig Interviews oder diagnostische Gespräche mit den Kindern geführt: Förderdiagnostisches Arbeiten in Theorie und Praxis 299 VHN 4/ 2006 „Mit dem Schüler direkt führe ich auch ein Gespräch, für mich ist das noch wirklich jeweils wichtig, wie sieht das der Schüler, also was sind seine Fähigkeiten, also dass er seine Fähigkeiten selber beschreiben kann; was kann er gut, was kann er nicht so gut, was macht ihm Mühe, was macht ihm Freude und wo sieht er seine Hauptprobleme (-) und wie schätzt er die ein.“ (alba1/ 4) Direkte Arbeit mit dem Kind, Einbezug von Arbeiten und Lernkontrollen Einer der größten Bereiche diagnostischer Tätigkeit wird jedoch von den befragten SHP in den Unterricht oder in die Förderung mit einbezogen und nicht explizit von dieser abgetrennt. Häufig verschmelzen damit Diagnostik und Förderung in der gleichen Tätigkeit. Sehr häufig wurde angegeben, durch die Arbeit mit einem einzelnen Kind im Unterricht oder in der Förderung, durch die Korrektur von Schülerarbeiten oder durch die Resultate aus Lernkontrollen zu diagnostischen Informationen zu kommen. Es blieb in den Interviews häufig unklar, ob diese diagnostischen Informationen durch die beschriebenen Unterrichts- und Fördertätigkeiten bewusst gesucht werden oder gewissermaßen als „Nebenprodukt“ des Unterrichts resp. der Förderung anfallen und mehr oder weniger systematisch genutzt werden. „… dann lasse ich ihn auch z. B. eine Aufgabe einmal (-) rechnen, wo er sagt, die kann ich gut, oder ich lasse ihn eine Aufgabe, die ich vorgebe, wo ich genauer (…) kann zuschauen, wie geht er vor beim Lösen der Aufgabe.“ (alba1/ 5) „In regelmäßigen Abständen macht man immer wieder Lernkontrollen, um den Lernstand zu erfassen. Bei diesen Lernkontrollen, oder oft auch schon vorher, sieht man, ob ein Kind Lernschwierigkeiten hat.“ (stam2/ 15) 3.2 Plan für die Lösung des Problems Verschiedene SHP gaben an, ihre Förderziele und Fördermaßnahmen nicht explizit zu planen. Diese ergeben sich für sie mehr oder weniger spontan aus den diagnostischen Informationen oder werden sogar überhaupt nicht schriftlich festgehalten: „Ich führe ein Heft, in welchem ich alle Namen aufgeschrieben habe und mir spontan Notizen mache. Dort notiere ich mir auch Förderziele, die ich auch in die Praxis einbeziehe, wenn es möglich ist.“ (mawe2/ 6) „Ich weiß nicht, ich habe eigentlich nie groß so schriftliche Ziele festgehalten und dokumentiert. Ich könnte dir schriftlich gar nicht soviel zeigen oder vorweisen über die Kinder, bis auf die Lernberichte, die ich ihnen Ende des Schuljahres geschrieben habe. Das ist für mich immer einfach im alltäglichen Tun geschehen.“ (edma3/ 19) Einige SHP haben ein eigenes Vorgehen für die Maßnahmenplanung etabliert, das sie regelmäßig durchführen. Meist werden dabei, wie im folgenden Zitat veranschaulicht, in regelmäßigen Zeitabständen zuvor gesetzte Förder- oder Unterrichtsziele überprüft. Diese Zielüberprüfung fließt häufig in die Definition neuer oder weiterführender Zielsetzungen ein. „Ja, auf Grund der individuellen/ also vom individuellen Stand eines Kindes und vom Kleinklassenlehrplan definiere ich nachher einfach die einzelnen Ziele, die Quartalsziele. Ich mache es in der Regel quartalsweise, dass ich hinschaue, was will ich denn jetzt, dass er macht im Math, wo soll er vorwärts kommen. Und zum Beispiel schreibe ich auf: Einmaleins auswendig kennen.“ (cofr2/ 16) Mehrere SHP tauschen Beobachtungen mit anderen Lehrpersonen (meist der Klassenlehrperson) aus und nehmen gemeinsam mit der Klassenlehrperson eine Maßnahmenplanung vor. Es ist anzunehmen, dass dabei nicht nur die heil- Reto Luder et al. 300 VHN 4/ 2006 pädagogischen Maßnahmen, sondern generell der Lernfortschritt und das Lernverhalten des Kindes und damit auch der Klassenunterricht Gegenstand der Gespräche sind. „Das ist immer in Absprache mit der Lehrperson. Ich bringe meine Beobachtungen, die Lehrperson bringt die Beobachtungen von ihrer Seite und so finden wir uns dann und legen die Ziele gemeinsam fest.“ (naba1/ 26) Nur wenige der befragten SHP gaben an, die Eltern und/ oder das Kind in die Planung mit einzubeziehen: „… aber das, was ich gesehen habe in der Lernstandserfassung, das muss ich/ und meine Vorstellung, was könnten die Ziele sein und mit welchen Maßnahmen, die (-) tausche ich aus mit der Klassenlehrkraft oder den Fachlehrkräften, die beteiligt sind, ich tausche sie aus mit den Eltern und dem Schüler.“ (alba1/ 15) Wie bei der Lernstandserfassung gibt es laut den Antworten in den Interviews auch bei der Maßnahmenplanung in einigen Institutionen festgelegte Abläufe und strukturierte Vorgehensweisen. Dabei werden die beiden Schritte meist im gleichen Verlaufsplan zusammengefasst und aufeinander bezogen. Dies scheint jedoch relativ selten der Fall zu sein. „Die gemeinsam aufgestellten Ziele halten wir in einem Computerdokument fest, welches für alle Therapeutinnen zugänglich ist. Die Ziele der eigenen Bereiche können so jederzeit abgeändert und angepasst werden. Wir haben dadurch einen Überblick über den aktuellen Stand der Zielsetzungen eines jeden Kindes. Bei den regelmäßigen Teamsitzungen werden die neuen Zielinhalte ausgetauscht, und nach etwa einem halben Jahr gibt es eine Standortbestimmung. Hat ein Kind ein Ziel erreicht, wird das entsprechende Ziel mit dem aktuellen Datum versehen.“ (mazg1/ 23 - 24) 3.3 Prozess der Förderungund Evaluation 3.3.1 Durchführung der Fördermaßnahmen Die Antworten auf die Frage, wie die konkreten Fördermaßnahmen ausgewählt werden, zeigen unterschiedliche Herangehensweisen der einzelnen SHP auf. Sehr häufig wurden von den befragten Personen individualisierende Arbeitsaufträge, meist in Verbindung mit einem Klassenunterricht in Wochenplanform, zur Umsetzung der festgelegten Förderziele beschrieben. Das folgende Zitat veranschaulicht ein typisches Vorgehen: „Und wir arbeiten jetzt mit Wochenplan, und da kann ich auch sehr gut individualisieren und gebe halt dann einem Kind, bei dem ich merke, das kann immer noch nicht verdoppeln, weil ich das halt eben herausgefunden habe bei einem Testchen oder bei einer Beobachtung, bekommt es halt einfach zusätzlichen Stoff gerade eben in diesem Bereich, in dem es jetzt eben Mühe hat.“ (cofr2/ 18) Damit verbunden wurde in vielen Fällen eine Zieldifferenzierung beschrieben, die fast ausschließlich in einer Reduktion der Zielsetzungen und/ oder der Stoffinhalte für die schulleistungsschwachen Kinder besteht: „Und aus dem Stoffplan nehmen wir etwas heraus und reduzieren die Ziele für dieses Kind. Einfach individuelle Lernziele.“ (edma2/ 16) Einige SHP beschrieben ein stark methodenzentriertes Vorgehen. Das heißt, sie stimmen ihre Fördermaßnahmen nicht oder nur geringfügig auf das jeweilige Kind und die jeweiligen Förderziele ab, sondern arbeiten in den meisten Fällen nach Methoden, die sie als bewährt erachten: „Ich mache viel Wahrnehmungstraining. Und am Anfang viel Feinmotorik.“ (limu1/ 13 - 14) Förderdiagnostisches Arbeiten in Theorie und Praxis 301 VHN 4/ 2006 Weitaus die meisten allerdings beschrieben ein hochgradig situationsspezifisches Vorgehen; das bedeutet, dass sie in jedem Fall und in jeder Situation jeweils unter Einbezug aktueller Bedingungen und spezifischer Eigenschaften neu über die einzusetzenden Fördermaßnahmen entscheiden: „Und jetzt lasse ich zu Beginn einfach verschiedene Möglichkeiten offen, dass ich dann so nach einer Woche dies oder jenes auswählen kann. In welcher Form: tja, ich bereite täglich vor. Ich kann nicht einfach einen Monat im Voraus vorbereiten und dann nur noch Schule geben und basta. Oft muss ich auch von Tag zu Tag für ein einzelnes Kind etwas vorbereiten.“ (mits1/ 17) 3.3.2 Kontrolle und Bewertung Verschiedene SHP gaben an, keine explizite Evaluation ihrer Fördermaßnahmen resp. ihres Unterrichts durchzuführen. Die Evaluation verläuft unstrukturiert und nicht systematisch, anhand sich zufällig ergebender Beobachtungen und diagnostischer Hinweise während der Förderung oder während des Unterrichts: „Meiner Meinung nach geht die Überprüfung der Wirksamkeit der Fördermaßnahmen sehr fließend in den Unterricht mit ein. Ich stelle in dem Sinne nicht Evaluationen über die Wirksamkeit der Maßnahmen an.“ (mazg2/ 32) In vielen Fällen scheint die Evaluation über Gespräche zwischen den SHP, der Klassenlehrkraft und manchmal auch der Eltern und des Kindes durchgeführt zu werden. Häufig finden diese Gespräche in regelmäßigen Zeitabständen und institutionalisierten Zeitgefäßen (Standortgesprächen) statt: „Dass nachher aber auch immer wieder mit der Auseinandersetzung und im Dialog mit der Lehrkraft oder mit den Eltern geschaut werden muss, wie ist jetzt die Entwicklung dieses Kindes. Und ganz sicher so ein Punkt, wo man Standortbestimmung hat, das ist an diesem/ an einem weiter abgemachten Gespräch, an dem die Lehrkraft und die Eltern dabei sind.“ (cofr1/ 22) Daneben praktizieren die meisten der befragten SHP eine kontinuierliche Lernzielüberprüfung im Unterricht. Dazu werden einzelne Lernaufgaben der Schülerinnen und Schüler diagnostisch ausgewertet. Auch die Beobachtung als Methode spielt bei der Evaluation der Fördermaßnahmen für viele SHP eine zentrale Rolle. „Das mache ich so, dass ich irgend eine Aufgabe stelle, die lösbar sein sollte, und anhand von dem denke ich, merke ich, ob das nun wirklich etwas gebracht hat, ob das nun richtig gewesen ist.“ (edma1/ 24) Nur selten wurden Tests als ein Mittel zur Evaluation von Fördermaßnahmen genannt. Es finden sich aber vereinzelt Konzepte mit eigentlichen Prä-/ Posttest-Designs, wie das folgende Zitat zeigt: „Mit individuellen Lernkontrollen, manchmal auch mit Tests, also mit gleichen Tests. Der Vergleich früher - heute. Einen Test, den ich vor einem Monat gegeben habe und wo ich den gleichen Test jetzt wieder gebe und vergleiche.“ (cofr2/ 20) 4 Diskussion Förderdiagnostische Konzepte in der Praxis Die Erkundung der praktisch realisierten Vorgehensweise bei der Förderdiagnostik im sonderpädagogischen Arbeitsfeld zeigt ein sehr heterogenes Bild. Die Unterschiede zwischen den Vorgehensweisen einzelner befragter Heilpädagoginnen und Heilpädagogen sind sehr groß. Am einen Ende des Spektrums steht ein hoch professionelles Vorgehen, bei dem die einzelnen Schritte der Problemdefinition, Lernstandserfassung, Maßnahmenplanung und Eva- Reto Luder et al. 302 VHN 4/ 2006 luation in einem Gesamtkonzept koordiniert und dokumentiert werden. Das förderdiagnostische Konzept spiegelt im Wesentlichen das oben beschriebene Verlaufsmodell, ist institutionell verankert und umfasst eine feste Zusammenarbeit mit allen beteiligten Personen in definierten Zeitgefäßen. Ein solches Vorgehen ist allerdings sehr selten, in der vorliegenden Untersuchung wurden nur zwei Personen interviewt, die nach einem solchen System arbeiteten. Am anderen Ende des Spektrums steht ein unserer Ansicht nach unprofessionelles und willkürliches Vorgehen, bei dem die verschiedenen förderdiagnostischen Tätigkeiten nicht explizit definiert sind oder vollständig fehlen. Diagnostische Informationen werden nicht erhoben (oder sogar explizit nicht berücksichtigt), sondern ergeben sich mehr oder weniger zufällig aus der Arbeit mit dem Kind. Diese Arbeit wird wenig reflektiert geplant und orientiert sich zum Großteil an den methodischen Präferenzen der Heilpädagogin oder des Heilpädagogen, unter nur geringer Berücksichtigung des Kindes oder der Situation. Eine Evaluation der Effekte der Maßnahmen findet nicht statt, ebenso wenig eine geplante Zusammenarbeit mit Eltern oder Fachpersonen. Die überwiegende Mehrheit der interviewten Personen arbeitete gemäß den Berichten in den Interviews in einer Weise, die zwischen diesen beiden beschriebenen Extrempositionen liegt. Einzelne Elemente des skizzierten Verlaufsmodells wurden realisiert, andere waren implizit im Vorgehen enthalten, und wieder andere fehlten. Generell scheint bei den Befragten ein geringes Bewusstsein über den förderdiagnostischen Prozess vorhanden zu sein, der Fokus der meisten interviewten Personen lag viel stärker auf den einzelnen Tätigkeiten in der Arbeit mit dem Kind im jeweils einzelnen Fall. Während die Lernstandserfassung in den Antworten der Befragten noch ein relativ hohes Gewicht hatte und von vielen als wesentlich bezeichnet und systematisch geplant wurde, hatten die Maßnahmenplanung und vor allem die Evaluation nur einen sehr geringen Stellenwert. Methoden der Lernstandserfassung Die von den befragten SHP genannten Methoden bei der Lernstandserfassung entsprachen den Erwartungen. Es kann festgestellt werden, dass vorhandene Materialien, Tests und auch förderdiagnostische Hilfsmittel von den befragten SHP nur relativ selten eingesetzt werden. Viele der befragten Personen äußerten sich kritisch zur Praxistauglichkeit der vorhandenen diagnostischen Hilfsmittel und zur Relevanz der mit ihnen erhobenen Daten. Planung von Förderzielen und Maßnahmen Die meisten der befragten Personen beschrieben bei der Maßnahmenplanung ein hochgradig situationsspezifisches Vorgehen und berücksichtigten in jedem Fall andere Informationen oder Vorgehensweisen. Dies kann mit der Hypothese interpretiert werden, dass sich die befragten Personen jeweils sehr stark von der Situation beeinflussen lassen und dass ihnen abrufbare und theoriegeleitete Konzepte zur förderdiagnostischen Arbeit nicht zur Verfügung stehen resp. nicht handlungsrelevant umgesetzt werden können. Evaluation und Anpassung des Vorgehens Gemäß den Beschreibungen der befragten Personen erfolgte die Evaluation der getroffenen Maßnahmen meistens implizit während der Förderung des Kindes. Eine explizite und geplante Evaluation der getroffenen Maßnahmen scheint in der Praxis praktisch nie stattzufinden. Gerade eine solche wäre jedoch für den förderdiagnostischen Prozess von zentraler Bedeutung. Das führt zur Hypothese und Befürchtung, dass viele Heilpädagoginnen und Heilpädagogen sich noch immer stark an einem linearen Verlauf von Lernstandserfassung und Förderung und damit an einem herkömmlichen diagnostischen Verständnis (im Sinne von Statusdiagnostik) orientieren. Förderdiagnostisches Arbeiten in Theorie und Praxis 303 VHN 4/ 2006 Reto Luder et al. 304 VHN 4/ 2006 Die Betrachtung dieser Ergebnisse führt zur Vermutung, dass im Bereich Förderdiagnostik ein hoher Bedarf an Informationen und Weiterbildung für Heilpädagoginnen und Heilpädagogen besteht. „Best-practice“-Modelle sind in der Praxis vorhanden, in der befragten Stichprobe aber bisher nur in Einzelfällen realisiert. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Reflexionsgrad bezüglich des jeweiligen förderdiagnostischen Prozesses im Allgemeinen relativ gering und kein zentraler Aspekt der alltäglichen Tätigkeit ist. Die Aussagen führen ferner zur Annahme, dass ein hoher Bedarf an praxistauglichen förderdiagnostischen Hilfsmitteln, vor allem auch zur systematischen Evaluation der Effekte getroffener Fördermaßnahmen, besteht. Ein nächster wichtiger Schritt wäre die Überprüfung der aufgrund dieser explorativen Studie getroffenen Annahmen und Hypothesen. Für die weitere sonderpädagogische Forschung wäre anschließend neben der Entwicklung praxisnaher förderdiagnostischer Hilfen auch die Frage dringend zu klären, wie förderdiagnostische Prozessmodelle in der Praxis ideal implementiert werden können und welche Auswirkungen solche Modelle auf die Lernentwicklung der Kinder haben. Literatur Buholzer, A. (2003): Förderdiagnostisches Sehen, Denken und Handeln. Aarau: Sauerländer Bundschuh, K. (1985): Dimensionen der Förderdiagnostik bei Kindern mit Lern-, Verhaltens- und Entwicklungsproblemen. München: Reinhardt Kobi, E. E. (1995): Förderdiagnostik. In: Beiträge zur Lehrerbildung 2, 183 - 189 Kretschmann, R. (2004): Diagnostikausbildung - für alle Lehrerinnen und Lehrer? In: Mutzeck, W.; Jogschies, P. (Hrsg.): Neue Entwicklungen in der Förderdiagnostik. Weinheim: Beltz Niedermann, A. (2003): Förderdiagnostische Hilfsmittel zum Mathematik- und Schriftspracherwerb. Eine kommentierte Übersicht. Luzern: SZH Sander, A. (1998): Kind-Umfeld-Analyse: Diagnostik bei Schülern und Schülerinnen mit besonderem Förderbedarf. In: Mutzeck, W. (Hrsg.): Förderdiagnostik bei Lern- und Verhaltensstörungen. Weinheim: Beltz Suhrweier, H.; Hetzner, R. (1993): Förderdiagnostik für Kinder mit Behinderungen. Neuwied: Luchterhand Prof. Dr. Reto Luder Pädagogische Hochschule Zürich phzh Rämistraße 59 CH-8090 Zürich Tel.: ++41 (0) 43 305 60 82 E-Mail: reto.luder@phzh.ch Prof. Dr. Albin Niedermann Universität Freiburg/ Schweiz Heilpädagogisches Institut Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg Tel.: ++41 (0) 26 300 77 25 E-Mail: albin.niedermann@unifr.ch Dr. Alois Buholzer Pädagogische Hochschule Zentralschweiz PHZ Sentimatt 1 CH-6003 Luzern Tel.: ++41 (0) 41 228 53 89 E-Mail: alois.buholzer@phz.ch