eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Machbarkeitsversprechungen und (sonder-)pädagogische Professionalität

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2006
Helmut Reiser
Machbarkeitsversprechungen und (sonder-)pädagogische Professionalität
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336 Bei der Durchsicht pädagogischer Fachbücher und Zeitschriften, beim Überfliegen von Elternratgebern und populären Verlautbarungen von Fachleuten aller Art für Entwicklung und Erziehung, bei Fernsehsendungen zu Erziehungsproblemen könnte ich zu dem Ergebnis kommen, dass das „Technologiedefizit“ der Pädagogik nun endlich überwunden sei. Unterricht gelingt spielend mit „neuen“ Unterrichtsmethoden, die gebrauchsfertig einsetzbar sind mit beigefügten Kopierfolien, Konflikte im Kollegium werden rasch bearbeitet und beseitigt durch Konflikttrainings und Coaching, oppositionelles Verhalten von Kindern kann in wenigen Trainingseinheiten spürbar verbessert werden, alle Kinder können schneller, besser und vor allem früher lernen, wenn die Ergebnisse der Hirnforschung umgesetzt werden, Eltern können lernen, konsequenter zu erziehen, wenn man es ihnen nur zeigt und vormacht. Und so weiter. Jeder von uns kann täglich dergleichen Beispiele finden, die auf ganz unterschiedlichem Niveau der Seriosität angesiedelt sind, aber eines gemeinsam haben: Sie versprechen: „Erfolgreiche Erziehung ist machbar, wenn man sie nur richtig anpackt“; richtig im Sinne des jeweiligen Rezepts. Machbarkeitsversprechungen liegen im Trend. In gewisser Hinsicht halte ich dies sogar für einen Fortschritt gegenüber einem selbstquälerischen Pessimismus, der in pädagogischen Kreisen festsitzt und sie oft festsitzen lässt. Warum es nicht versuchen mit „neuen“ Methoden, wenn sie Zuversicht geben und Chancen auf Neuanfänge? Die Botschaft, dass in der Pädagogik sehr viel mehr machbar ist, als es auf den ersten Blick scheint, begrüße ich sehr. Sehr problematisch an dem Trend der Machbarkeitsversprechungen finde ich es jedoch, wenn er verbunden ist mit einer Vermeidung von Selbstreflexion, einer Leugnung paradoxaler Grundkonflikte und mit einer Reduktion auf Messbarkeit pädagogischer Prozesse - kurz mit einer programmatischen Oberflächlichkeit, die in kurzer Zeit zu erneuten und umso heftigeren Frustrationen führen wird. Ilien (2005) spricht von einem „ingenieuralen“ Selbstverständnis eines Teils der Pädagogen. Durch die richtige Verhaltens- und Lehrtechnologie - so das Credo des ingenieuralen Selbstverständnisses - könnte die paradoxale Grundstruktur des Bildungsprozesses übersprungen werden. Die Grundparadoxe (oder bei anderen Erziehungswissenschaftlern in anderen Terminologien „Antinomien“) entstehen daraus, dass der Lehrer Zwang auf die Person ausüben muss, um die Freiheit der Person in der Zukunft möglich zu machen; so bereits von Kant durch die berühmte Frage ausgedrückt: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? “ (siehe Ilien 2005, Machbarkeitsversprechungen und (sonder-)pädagogische Professionalität Helmut Reiser Trend VHN, 75. Jg., S. 336 -339 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Für jedes Heft wird ein Repräsentant oder eine Repräsentantin eines heilpädagogischen Fachgebiets dazu eingeladen, einen persönlich gefärbten Kurzbeitrag zu voraussichtlichen Trends der kommenden Jahre in Forschung, Theorie und Praxis zu verfassen. 109ff). Die staatliche Organisation des Bildungswesens mit dem Doppelauftrag der Bildung und Selektion zieht weitere Paradoxe mit sich. Die Berufsausübung des Lehrers ist in hohem Grade von Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet, die einfache Lösungen verunmöglichen und die eine stetige Analyse der gegebenen Situationen, verbunden mit einem hohen Maß von Selbstreflexion, nötig machen, um weder abzustumpfen noch mürbe zu werden. Die gegenwärtige Bildungspolitik in Deutschland versucht, den PISA-Schock durch verstärkte Leistungsmessungen und einen forcierten Optimismus zu bewältigen. Die Kultusminister der Länder und die Lehrerverbände haben in Gemeinsamkeit eine Kompetenzliste des Lehrers verfasst, die dem Lehrer eine große Anzahl überragender Einzelkompetenzen zuschreibt, und die Länder der Bundesrepublik haben sich verpflichtet, diese Liste umzusetzen, das heißt, diese Kompetenzen durch die Lehrerausbildung herzustellen. Sie sollen zum Beispiel durch die neuen Bachelor- und Master-Studiengänge produziert werden, in denen jedoch, entgegen der ursprünglichen mit dieser Innovation verbundenen Hoffnungen, die Chancen von Reflexivität und individueller professioneller Entwicklung dank ausufernder administrieller Kontrollsysteme mehr bedroht als gefördert werden. Die Machbarkeitsversprechungen geraten hier zu berauschenden Worthülsen. Am Beispiel der Lehrerbildung in Deutschland wird mir am deutlichsten, wie sich Machbarkeitsversprechungen stützen auf modisches Schönreden so genannter Innovationen und das Messen von Oberflächenphänomenen. Die Qualität einer Dienstleistung, die selbst schwer erfassbar ist, wird gemessen an Randerscheinungen, die messbar sind. So werden ja auch die Qualitätskontrollen von Arztpraxen aufgrund der Schwierigkeit, die ärztliche Leistung selbst zu bewerten, am Maßstab der Bedienungsfreundlichkeit am Tresen zertifiziert. Bei der Akkreditierung der Lehrerstudiengänge wird der quantitative Nachweis eines Angebots so genannter „Schlüsselqualifikationen“ als Bürgschaft für eine professionelle Entwicklung der Studierenden gewertet. Die individuelle professionelle Entwicklung ist jedoch ein verschlungener, manchmal schmerzhafter und nicht planbarer Prozess. Für sie gilt, was auch für die Entwicklung der Schüler gilt, dass wir Irritationen setzen können, die Entwicklungen anregen, aber die Endergebnisse nicht exakt vorausplanen können. Solche Prozesse immer wieder miterleben zu dürfen - was ich nur durch direkte Rückmeldungen erfahren konnte -, war für mich das Faszinierende an meinem Beruf als Hochschullehrer. So geht es auch unseren Absolventen mit ihren Schülern. Die Analyse der eigenen Berufssituation stellt den Lehrer nicht nur in die Beziehungsproblematik zu seinen Schülern, mit denen er nur arbeiten kann, wenn sie ihm ein Mindestmaß an Anerkennung entgegenbringen können, sondern auch in die biografische Problematik des prekären Teils seiner Klientel mit Zukunftsangst, Konkurrenzdruck, narzisstischen Kränkungen und in die politische Problematik einer zerfallenden gesellschaftlichen Sicherheit. Wie kann der Lehrer in diesem Feld bestehen? Kleine Schritte, was dennoch getan werden kann und erreichbar ist, können ermutigen, Versprechungen der Machbarkeit von Pädagogik ohne Eingeständnis von Grenzen können auf die Dauer nur schaden. Ende März erschütterte der Fall der Hauptschule in Berlin mit dem schönen Namen Rütli-Schule die Republik. Das Lehrerkollegium hatte eine Erklärung an den Schulsenator abgegeben, in dem es praktisch die Kapitulation vor der Gewalt an der Schule erklärte, die durch Auseinandersetzungen zwischen arabischen und türkischen Schülergruppen mit geprägt war. Als Sofortmaßnahme ließ der Senat Polizisten vor der Schule postieren. Die ausbrechende hektische Diskussion offenbarte den Abgrund von Ratlosigkeit auf allen Ebenen dieses Problems: auf der Beziehungsebene, der sozialen Ebene, der kulturellen Ebene, der politischen Ebene. Wenn es noch eines Belegs bedurft hätte, wie voraussetzungsreich das pädagogische Geschäft Machbarkeitsversprechungen und (sonder-)pädagogische Professionalität 337 VHN 4/ 2006 ist und wie begrenzt seine Machbarkeit, hier war es nachzulesen. Und wenige Tage nach dem Mediensturm meldeten sich weitere Hauptschulen mit der Erklärung, ihnen ginge es genauso. Warum haben wir bislang derartig Spektakuläres nicht gehört aus den Schulen für Erziehungshilfe, die eine Klientel mit derselben Problematik unterrichten? Man kann spekulieren: Weil diese Schulform mit ihrem geringen Anteil von Schülern kein öffentliches Interesse wecke? Oder weil diese Schulen nicht denselben Anforderungen an Anpassungsleistungen unterworfen seien, da die Schüler ohnehin abgeschrieben seien? Oder weil diese Schulen bessere Einwirkungsmöglichkeiten hätten? Oder weil die Sonderschullehrer sich realistischer auf diese Situation, die ihnen ja nicht unerwartet sei, einstellen würden? Jedenfalls können Sonderpädagogen vom Scheitern der Erziehung nicht überrascht sein. Schwierige Bedingungen oder sogar das Scheitern sind die Ausgangslage der Sonderpädagogik. Das professionelle Selbstverständnis der Sonderpädagogik wird durch die Realität von gebrochenen Bildungsverläufen geprägt und auch durch die Gewissheit, dass die Zuwendung zum Kind einen Selbstzweck darstellt. Dieser Selbstzweck ist nicht bedroht durch die Möglichkeit des Scheiterns infolge von Zurückweisung, Krankheit oder gar Tod. Der Selbstzweck der Zuwendung ist nicht abhängig von der Effizienz, sondern begründet in der Akzeptanz der Grenzen und in der professionellen Neugierde, die Grenzen des Machbaren zu erweitern, also letztlich im Paradox professioneller Pädagogik. Diese professionelle Haltung ist nicht selbstverständlich, aber sie ist vermittelbar. Neben den vielfältigen Hilfen, die auch in Berlin in Brennpunktschulen erprobt sind und die im Falle der skandalisierten Hauptschule offensichtlich nicht zum Zuge kamen, ist für Lehrer in schwierigen Erziehungssituationen eine Beratung hilfreich, die eine sowohl selbstsichere wie selbstkritische Haltung ermöglicht, die Versagensängste und Schuldvorwürfe zurücknimmt, Kooperationen einleitet und den Kopf frei macht für situationsangepasste kreative Lösungen. In vielen Modellen in Deutschland wächst diese Aufgabe derzeit - auch wegen der geringen Ausstattung der schulpsychologischen Dienste - den Sonderpädagogen zu (Reiser/ Willmann/ Urban 2006). Der Aufbau sonderpädagogischer Dienste im Lern- und Erziehungshilfebereich liegt im Trend. Wichtig ist, dass die daran beteiligten Sonderpädagogen sich weiter entwickeln zu Fachleuten für eine Beratung, die sowohl reflexiv wie ressourcenorientiert arbeitet. Es wäre fatal, wenn sich die Sonderpädagogik dem Trend der Machbarkeitsversprechungen anschließen würde. Sonderpädagogisches Handeln in der Kooperation mit Lehrern gestaltet sich als eine Hilfe zur Selbsthilfe durch Fokussierung des Beratungsprozesses auf eine Lösungssuche, die die Widersprüchlichkeit der Aufgabenstellung nicht unterschlägt (Dlugosch 2005). Lösungsorientierung darf nicht missverstanden werden als wohlfeile Ausklammerung der paradoxalen Grundstruktur pädagogischen Handelns. Sonderpädagogische Beratung muss sich hüten, durch ihre bloße Existenz dem Druck nach Verleugnung der unlösbaren Problemlagen zu folgen und neue Machbarkeitsversprechungen in die Welt zu setzen. Die sonderpädagogische Beratung muss den schmalen Grat finden zwischen der Würdigung der Problemlagen und der unbefangenen experimentellen Lösungssuche. Jedwede Beratung professioneller Pädagogen in schwierigen Erziehungssituationen dient der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung einer selbstbewussten professionellen Haltung, die in Metaphern beschrieben werden kann, die der widersprüchlichen Ausgangslage geschuldet sind: nicht alle Probleme auf die eigene Kappe nehmen, aber die Verantwortung für die eigene Beteiligung nicht abschieben; die immanenten Widersprüchlichkeiten analysieren, aber sich von ihnen nicht hypnotisieren lassen; die Grenzen der Einflussnahme akzeptieren, aber immer wieder versuchen, sie zu erweitern; die Sinnhaftigkeit individuellen Verhaltens in Rechnung stellen, aber Fehlverhalten als solches kennzeichnen; Lösungen Helmut Reiser 338 VHN 4/ 2006 suchen und Ressourcen aufspüren, aber keine Versprechungen abgeben. Die öffentliche Diskussion pendelt zwischen angstgezeichnetem Pessimismus und verleugnendem Optimismus. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion schleichen sich Polarisierungen zwischen lösungsorientierten und reflexiven Ansätzen ein, die die Widersprüche zu eliminieren versuchen. Die Profilierung des eigenen Ansatzes sollte jedoch nicht zu Vereinseitigungen führen. Sonderpädagogische Unterstützungssysteme sind für die öffentlichen Schulen erforderlich. Sie werden nur eine Zukunft haben, wenn es ihnen gelingt, eine reflexive professionelle Haltung mit lösungsorientierten Sichtweisen zu verbinden. Literatur Dlugosch, A. (2005): Professionelle Entwicklung in sonderpädagogischen Kontexten. In: Horster. D.; Hoynigen-Süess, U; Liesen, Ch. (Hrsg.): Sonderpädagogische Professionalität. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 27 - 51 Ilien, A.(2005): Lehrerprofession. Grundprobleme pädagogischen Handelns. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Reiser, H.; Willmann, M.; Urban, M. (2006): Erziehungsprobleme in der Schule - Sonderpädagogische Unterstützungssysteme im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer (erscheint im Herbst 2006) Prof. Dr. Helmut Reiser Universität Hannover Institut für Sonderpädagogik Philosophische Fakultät Bismarckstraße 2 D-30173 Hannover Machbarkeitsversprechungen und (sonder-)pädagogische Professionalität 339 VHN 4/ 2006