Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte 4/2006
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Lebensqualität in Wohneinrichtungen für Erwachsene mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen in Luxemburg – Eine Bestandsaufnahme
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347 VHN 4/ 2006 Lebensqualität in Wohneinrichtungen für Erwachsene mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen in Luxemburg - Eine Bestandsaufnahme Anne Junk-Ihry Universität Freiburg/ Schweiz Ausgangslage und Fragestellung Der Wohnort, das Zuhause spielt eine zentrale Rolle im Leben jedes Menschen. Neben der Bedeutung der Wohnstätte als Ort, welcher Schutz gewährt und körperliche Versorgung ermöglicht, bietet der Wohnort auch Wärme und Geborgenheit sowie einen Rahmen für die Entwicklung von Identität (Krieger 2002, 162; Thesing 1990, 11). Ferner stellt das Zuhause eine Umgebung für privilegierte, meist selbst ausgewählte Beziehungen dar. Diese sehr kurz skizzierte Bedeutung des Wohnens für Menschen allgemein gilt ebenso für Menschen mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen (Speck 1982, 8). Seit mehreren Jahrzehnten beschäftigt sich die Geistigbehindertenpädagogik mit der Frage, wie die Gestaltung von Wohnangeboten für Menschen mit einer Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung aussieht beziehungsweise aussehen sollte. Diese Personengruppe kann aufgrund der kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigung in verschiedenen ihrer Aktivitäten, welche für ein selbstständiges Wohnen notwendig sind, eingeschränkt sein. Um die so notwendig werdende Unterstützung beim Wohnen zu gewähren, sind Wohngruppen eine Angebotsform, in welcher oft mehrere Bewohner mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen von Mitarbeitern in ihrem Wohnalltag begleitet werden. In diesem Zusammenhang wurde seit den 1980er Jahren im angloamerikanischen Raum, ab den 1990er Jahren auch in deutschsprachigen Ländern die Frage der Qualität der Angebotsgestaltung für Menschen mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen und die Gewährung der Lebensqualität Betroffener diskutiert. Der aktuelle Forschungsstand in Bezug auf Lebensqualität im Wohnbereich erlaubt einen Konsens bezüglich der Definition und der einzelnen Bereiche, die Lebensqualität ausmachen: Lebensqualität wird als ein Konstrukt verstanden, welches sowohl die objektiven Lebensbedingungen wie auch die subjektive Sichtweise Betroffener beachtet (Schalock u. a. 2002, Seifert u. a. 2001; Felce/ Perry 1997). Somit stellt sich nicht nur die Frage, ob die äußere Gestaltung von Wohngruppen gewissen Kriterien entspricht, sondern auch, ob die Bewohner die Wohngruppe als Zuhause wahrnehmen. Lebensqualität als Konstrukt setzt sich aus verschiedenen Bereichen zusammen. Diese Arbeit orientiert sich am internationalen Konsens (Schalock u. a. 2002), welcher acht Bereiche beschreibt: • materielles Wohlbefinden, • physisches Wohlbefinden, • interpersonale Beziehungen, • persönliche Entwicklung und aktivitätsbezogenes Wohlbefinden, • emotionales Wohlbefinden, • Selbstbestimmung, • soziale Inklusion, • Rechte. Die Untersuchung geht der Zielsetzung nach, beschreibend darzustellen, wie die Wohnangebote für Menschen mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen in Luxemburg gestaltet werden. Zur Strukturierung dieser Beschreibung dient das dargestellte Konstrukt von Lebensqualität. Folgende drei Fragestellungen ergeben sich aus dieser Zielsetzung: • Welche Wohnangebote gibt es für Erwachsene mit einer geistigen Behinderung in Luxemburg, und welche Komponenten des Konstruktes „Lebensqualität“ werden von den Trägerschaften bei der Gestaltung von Wohnangeboten berücksichtigt? Aktuelle Forschungsprojekte In dieser Rubrik stellt die VHN laufende Forschungsprojekte zu heilpädagogischen Fragestellungen in Kurzform vor. Für das Einholen weiterer Informationen durch interessierte Leserinnen und Leser geben die Autoren eine E-Mail-Adresse an. Wir bitten unsere Leserschaft um die Zusendung solcher Kurzberichte über laufende Forschungsprojekte. • Welche Komponenten von Lebensqualität werden im Alltag verwirklicht und wie? • Welches sind subjektive Sichtweisen betroffener Bewohnerinnen und Bewohner zu ihrer Wohnsituation? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde ein mehrdimensionales Forschungsdesign gewählt. Methodisches Vorgehen Aufgrund offizieller Adressenverzeichnisse konnten neun Trägerschaften in Luxemburg ausgemacht werden, welche Wohnmöglichkeiten für Menschen mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen anbieten. Das methodische Vorgehen unterteilt sich in Anlehnung an die Fragestellungen in drei Schritte: Um einen allgemeinen Überblick über die Wohnangebote unter Beachtung der verschiedenen Bereiche von Lebensqualität gewinnen zu können, wurde eine Fragebogenerhebung bei den neun Trägerschaften durchgeführt. Dieser Fragebogen erfasste sowohl strukturelle Angaben zur Wohneinrichtung wie auch für die gesamte Trägerschaft gültige Konzepte zur Gestaltung der Alltagsbegleitung. In einem zweiten Schritt wurde im Gespräch mit der Einrichtungsleitung aus jeder der neun Trägerschaften eine Wohngruppe ausgewählt, welche eingehender in die Untersuchung eingebunden wurde. Bei einem ersten Informationstreffen mit den Bewohnern und dem Team wurde das Vorhaben vorgestellt und die Bereitschaft zur Teilnahme am Projekt abgeklärt. In jeder der so ermittelten neun Wohngruppen fanden drei Besuche der Untersucherin statt; sie war jeweils etwa zwei Stunden in der Wohngruppe anwesend und beteiligte sich an den Mahlzeiten. Diese Besuche bildeten den Rahmen für die teilnehmende Beobachtung: Anhand eines Beobachtungsleitfadens wurde festgehalten, welche Komponenten von Lebensqualität sich beobachten ließen. Diese Daten wurden unterstützt durch Audioaufnahmen und Fotos während den Mahlzeiten. Als Drittes interessierte die subjektive Sichtweise der Bewohnerinnen und Bewohner bezüglich ihres Lebens in der Wohngruppe. Hierzu wurde ein Leitfadeninterview von etwa 30 Fragen mit den Bewohnern durchgeführt, die sich dazu bereit erklärten. Das Interview wurde durch Piktogramme sowie durch die bei den Mahlzeiten aufgenommenen Fotos unterstützt. Die Interviews wurden mit Hilfe eines digitalen Audiogerätes registriert, der Einsatz der Piktogramme sowie auch non-verbale Reaktionen wurden handschriftlich protokolliert. Insgesamt wurden 42 Bewohnerinnen und Bewohner befragt. Die so erhaltenen Daten wurden mit einem Verfahren, welches sich an die qualitative Inhaltsanalyse anlehnt, ausgewertet. Erste Ergebnisse und Ausblick Der Einblick in die ersten Ergebnisse des Forschungsprojektes ist unterteilt in inhaltliche Ergebnisse zu den einzelnen Fragestellungen und Erfahrung mit dem direkten Einbezug von Menschen mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen in die Forschung. Anhand der Fragebogenuntersuchung konnten Daten gewonnen werden zu den verschiedenen Wohnformen und der Lage der Wohngruppen, zu den Bewohnern und Mitarbeitern (Ausbildung, Fluktuation, Unterstützungsangebote), zum Menschenbild und zur Haltung der Einrichtung sowie zur Gestaltung von Alltagssituationen. Beispiele von erfragten Themen zur Alltagsgestaltung sind: Gesundheitsfürsorge, Tages- und Freizeitbeschäftigung, Weiterbildungs- und Therapieangebote, persönliche Lebensbegleitung, soziale Inklusion, Rechte und Pflichten in der Wohngruppe. Aufgrund der Beobachtungen und der Interviewaussagen konnte für jeden der acht Lebensqualitätsbereiche beschrieben werden, wie der Alltag in den Wohngruppen gestaltet wird und wie die Bewohner diesen sehen. Die Resultate dieser Arbeit bestehen also hauptsächlich in einer beschreibenden Darstellung. Was die Erfahrungen mit dem direkten Einbezug von Menschen mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen in die Forschung betrifft, so zeigten sich bei dieser Untersuchung die beteiligten Bewohner als kompetente Interviewpartner, die, je nach sprachlichen Möglichkeiten, mehr oder weniger ausführlich Auskunft zu ihrer Wohnsituation, aber auch zu ihren Erwartungen und Enttäuschungen, ihren Wünschen und Träumen geben konnten. Der Einsatz der Piktogramme stellte für manche Bewohner eine Verstehenshilfe dar, der Gebrauch als Ausdrucksmittel war nur insofern erfolgreich, als die Bewohner ähnliche Möglichkeiten von alternativer Kommunikation bereits vor der Befragung kannten. Als weiterer Schritt steht eine ausführliche Darstellung der ausgewerteten Daten an. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei anne.ihry@unifr.ch Aktuelle Forschungsprojekte 348 VHN 4/ 2006
