eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht in der Lebensspanne. Eine statistische Analyse

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2006
Ulrike Schildmann
Behinderung ist eine soziale Kategorie, mit der eine äußerst heterogene Personengruppe erfasst wird. Im vorliegenden Artikel wird die Zusammensetzung dieser Gruppe in Verbindung mit zwei zentralen gesellschaftlichen Strukturkategorien – Geschlecht und Alter – systematisch untersucht. Auf diese Weise lassen sich die Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht für einzelne Lebensabschnitte, aber ebenso über die gesamte Lebensspanne hinweg so darstellen, dass die Heterogenität dieser Bevölkerungsgruppe differenziert erfasst werden kann. Einer theoretischen Abhandlung im ersten Teil folgt eine statistische Untersuchung im zweiten Teil. Die Daten beziehen sich auf die Bundesrepublik Deutschland im beginnenden 21. Jahrhundert.
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13 13 Der vorliegende Artikel unternimmt den Versuch, drei zentrale gesellschaftliche Strukturkategorien - Geschlecht, Alter und Behinderung - in eine vergleichende Beziehung miteinander zu setzen, in der sie in der gesellschaftlichen Praxis permanent wirksam sind, deren theoretische Reflexion jedoch noch in den Anfängen steckt. Zwar wird - insbesondere im Rahmen der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik - seit nunmehr etwa 25 Jahren das Verhältnis zwischen Behinderung und (weiblichem) Geschlecht unter verschiedensten Aspekten und für unterschiedliche Personengruppen (vor allem behinderte Mädchen, behinderte Frauen, Mütter behinderter Kinder, Geschlechterverhältnisse in sonderpädagogisch relevanten Berufen) gezielt untersucht (vgl. zusammenfassend Schildmann/ Bretländer 2000). Jedoch wurden die erforschten Zusammenhänge zwischen Behinderung und Geschlecht bis heute noch nicht systematisch auf die gesellschaftlichen Konstellationen und Anforderungen der aufeinander folgenden Altersabschnitte und damit auf den Komplex der gesamten Lebensspanne bezogen. Unter Lebensspanne wird in diesem Zusammenhang das menschliche Leben vom Anfang bis zum Ende, also von der Geburt bis zum Tod ver- 13 Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht in der Lebensspanne Eine statistische Analyse Ulrike Schildmann Universität Dortmund ■ Zusammenfassung: Behinderung ist eine soziale Kategorie, mit der eine äußerst heterogene Personengruppe erfasst wird. Im vorliegenden Artikel wird die Zusammensetzung dieser Gruppe in Verbindung mit zwei zentralen gesellschaftlichen Strukturkategorien - Geschlecht und Alter - systematisch untersucht. Auf diese Weise lassen sich die Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht für einzelne Lebensabschnitte, aber ebenso über die gesamte Lebensspanne hinweg so darstellen, dass die Heterogenität dieser Bevölkerungsgruppe differenziert erfasst werden kann. Einer theoretischen Abhandlung im ersten Teil folgt eine statistische Untersuchung im zweiten Teil. Die Daten beziehen sich auf die Bundesrepublik Deutschland im beginnenden 21. Jahrhundert. Schlüsselbegriffe: Geschlecht, Behinderung, Alter, Lebensspanne ■ The Ratio between Disability and Gender during the Span of Life - a Statistical Analysis Summary: Disability is a social category that includes an extremely heterogeneous group of people. This article systematically scrutinises the composition of this group with respect to the two essential social structuring categories: age and gender. That allows to describe the ratio between disability and gender for different periods of life as well as for the whole lifespan in a way that facilitates a differentiated assessment of the heterogeneity of this population group. The theoretical disquisition is followed by a statistical analysis of the data of the Federal Republic of Germany at the beginning of the 21st century. Keywords: Gender, disability, age, life span Fachbeitrag VHN, 75. Jg., S. 13 -24 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel standen, untergliedert in die großen, sozial konstruierten Lebensbzw. Altersabschnitte Kindheit und Jugend sowie frühes, mittleres und spätes Erwachsenenalter. In diesem Sinne wird im Folgenden sowohl von der Lebensspanne als auch vom Alter im Sinne der miteinander verbundenen Alters-/ Lebensabschnitte die Rede sein. Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen zwei Fragen: • In welcher Beziehung stehen Geschlecht und Behinderung in den unterschiedlichen Lebensabschnitten zueinander? • Was versteht die moderne Industriegesellschaft - bezogen auf die einzelnen Lebensabschnitte - überhaupt unter Behinderung? Um diesen beiden Forschungsfragen systematisch nachgehen zu können, wird in Kapitel 1 zunächst erläutert, was unter den gesellschaftlichen Strukturkategorien Geschlecht, Alter und Behinderung zu verstehen ist und welche Verbindungen sie miteinander eingehen. In Kapitel 2 werden die drei Strukturkategorien auf statistisch-empirische Weise ins Verhältnis miteinander gesetzt. Als empirische Grundlage dienen aktuelle Daten der deutschen Bevölkerungsstatistik sowie der jüngste „Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe“, der im Dezember 2004 veröffentlicht wurde (vgl. Deutscher Bundestag 2004). 1 Strukturkategorien Geschlecht, Alter, Behinderung Geschlecht, Alter und Behinderung sind drei zentrale gesellschaftliche Strukturkategorien, die der Sozialstrukturanalyse als soziale Ordnungsprinzipien und als Indikatoren gesellschaftlicher Ungleichheitslagen dienen. Sie sind durch unterschiedliche Merkmale gekennzeichnet, worauf im Folgenden näher einzugehen ist. Die Kategorie Geschlecht gilt gemeinhin als „Oberbegriff für die Einteilung der Bevölkerung in Frauen und Männer, in weibliche und männliche Individuen. Sie folgt damit der Einsicht, dass in allen uns bekannten Gesellschaften das Geschlecht (wie auch das Alter) eine mit der Geburt festliegende Dimension sozialer Strukturierung, die das gesamte soziale und kulturelle Leben einer Gesellschaft prägt, sowie ein Bezugspunkt der Zuweisung von sozialem Status ist“ (Ostner 1998, 211). Mit der Kategorie Alter hat die Kategorie Geschlecht vor allem eines gemeinsam: die Naturalisierung von Gesellschaft. Der Lebenslauf- und Altersforscher Martin Kohli führt dazu aus: „Die Gliederung nach Lebensaltern ist eine der möglichen Dimensionen der Naturalisierung von Gesellschaft. Naturalisierung heißt, dass von Menschen geschaffene gesellschaftliche Ordnungen sich als etwas Natürliches präsentieren, anders gesagt, dass Selbstverständlichkeit durch den Rekurs auf Biologisches gewonnen wird. Andere Formen der Naturalisierung sind Geschlecht oder Verwandtschaft. Dass jede Naturalisierung sich auf ein biologisches Element stützt, ist offensichtlich und macht ihre Plausibilität aus (wie am deutlichsten das Beispiel Geschlecht zeigt). Aber es ist nur der Grundstoff für die gesellschaftliche Konstruktion. Die Art, wie Gesellschaften Lebensalter praktisch und begrifflich gliedern und bestimmte Lebensläufe vorschreiben und als erstrebenswert definieren, ist außerordentlich vielfältig“ (Kohli 1998, 1). Während also die moderne Gesellschaft von einer sozialen Zweigeschlechtlichkeit ausgeht, teilt sie die gesamte Lebensspanne in (mindestens) drei große Abschnitte ein: Kindheit/ Jugend, Erwachsenenalter, Rentenalter/ Ruhestand. Wie im Falle der Strukturkategorie Geschlecht - mit deren Hauptmerkmal der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung - ist der „strukturelle Grundbestand dafür (.) die gesellschaftliche Ordnung der Arbeit“ (Kohli 1998, 1). Die Orientierung beider sozialer Strukturkategorien ist auf die moderne Form der industriellen Erwerbstätigkeit gerichtet, Ulrike Schildmann 14 VHN 1/ 2006 • im Falle der Kategorie Geschlecht ergänzt durch die (weibliche) familiale Reproduktionsarbeit mit deren struktureller Abhängigkeit von der (männlichen) Erwerbsarbeit, • im Falle der Kategorie Alter ergänzt durch die Altersabschnitte Kindheit/ Jugend, in denen Erziehung und Sozialisation für die Anforderungen der modernen Industriegesellschaft stattfinden, und des modernen Ruhestandes, der nur aus industrieller Erwerbstätigkeit und männlichen Erwerbsstrukturen (vgl. Backes 2004) erklärbar ist. Die Kategorie Behinderung dient dazu, eine bestimmte Art der Abweichung von der männlichen bzw. weiblichen Normalität zu definieren und zu klassifizieren. Dabei spielt die Kategorie Alter eine nicht unwesentliche Rolle; denn das, was unter Behinderung - und nach deutschen Rechtsvorgaben unter Schwerbehinderung - verstanden wird, lehnt sich in direkter Weise an die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen bezüglich der jeweiligen Altersabschnitte an, d. h. für die Altersabschnitte Kindheit/ Jugend, frühes und mittleres Erwachsenenalter sowie spätes Erwachsenenalter/ Rentenalter gelten tendenziell unterschiedliche Kriterien für das, was als Behinderung gilt. Wie hoch der Anteil der als behindert bezeichneten gesellschaftlichen Minderheit an der Gesamtbevölkerung ist und welche Kriterien zur Definition dieser Gruppe herangezogen werden, ist abhängig von jeweiligen sozialpolitischen Erwägungen und Zwecken. Im Vergleich zu den Kategorien Geschlecht und Alter, welche als relativ stabile, historisch gefestigte Strukturkategorien anzusehen sind, wenngleich auch innerhalb ihrer jeweiligen Konstruktionen erhebliche Dynamiken zu verzeichnen sind, ist Behinderung eine flexiblere Strukturkategorie, gekennzeichnet durch kurz- oder mittelfristige politische Handlungsnotwendigkeiten, wie auch die systematische historische Analyse der Behindertenstatistik in Deutschland belegt (vgl. Schildmann 2000). Verdeutlicht werden kann die Verbindung zwischen Geschlecht, Alter und Behinderung vor allem auf dem gesellschaftlichen Feld der Leistung: In der modernen Leistungsgesellschaft werden wesentliche materielle und soziale Chancen, gegenseitige Anerkennung und Bewertung sowie soziale Positionen der Individuen nach Leistung vergeben. In ihrer allgemeinsten Form wird Leistung als der Quotient aus einer verrichteten Arbeit und der dazu benötigten Zeit definiert. Damit rückt die Kategorie Arbeit ins Zentrum aller Wertmaßstäbe der modernen Gesellschaft. An der erwarteten und vollbrachten Arbeitsleistung sowie an der unterschiedlichen Bewertung voneinander verschiedener Leistungsarten (darunter vor allem produktive gegenüber reproduktiver Arbeit) orientiert sich auch die gesellschaftliche Wertschätzung der jeweiligen Leistungsträger: Die moderne Industriegesellschaft basiert auf einer geschlechterspezifischen Arbeitsteilung, welche im historischen Prozess der Industrialisierung Männern und Frauen unterschiedliche Arbeitsbereiche zugewiesen hat: Männern die Erwerbsarbeit, Frauen die familiale Reproduktionsarbeit (Hausarbeit) und (ggf.) zusätzlich (zumeist reproduktionsbezogene) Erwerbsarbeit. Während die (männliche) Erwerbstätigkeit nach jeweiligem Marktwert entlohnt wurde/ wird, wurde Vergleichbares für die familiale Reproduktionsarbeit nie eingeführt; der Aufwand für die Hausarbeit wurde stattdessen indirekt im Lohn des männlichen „Ernährers“ verankert und die Leistung der Frau auf dieser Basis gegenüber der (männlichen) Erwerbsarbeit abgewertet. Wenn auch die „Ernährernorm“ des Mannes heute brüchig geworden ist (vgl. Ostner 1998, 219) und Frauen unterschiedliche Formen des „Spagats“ zwischen familialer Reproduktionsarbeit und Erwerbsarbeit (insbesondere in Form von Teilzeitarbeit) praktizieren, sind finanzielles Ungleichgewicht und unterschiedliche Bewertungen geschlechterspezifischer Arbeit bis heute erhalten geblieben. Mit dieser Konstruktion von Arbeit eng verbunden ist die Altersgliederung moderner Gesellschaften einschließlich ihrer Dynamik; denn Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht 15 VHN 1/ 2006 • mit welchem Lebensalter die institutionalisierte Erziehung und Bildung der nachwachsenden Generationen beginnt, wie viele Jahre sie andauern soll, d. h. in welchem Alter die Jugendlichen durchschnittlich bzw. spätestens ins Erwerbsleben eintreten sollen, • und wann am Ende, nach durchlaufener Erwerbsphase, die Zeit des so genannten „Ruhestandes“, der sich einzig und allein an männlichen Erwerbsmustern und -traditionen definieren lässt (vgl. Kohli 1998, 3ff; Backes 2004), beginnt, hängt von den zentralen Konstellationen der (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft ab. Unter diesen spielt neben Erwerbs- und Arbeitslosenquoten auch die individuelle Arbeitsfähigkeit eine erhebliche Rolle und damit die Kategorie Behinderung; denn der Maßstab für die Klassifizierung eines Individuums als behindert ist - selbst bei Kindern und alten Menschen - dessen nicht erbrachte, an einem fiktiven gesellschaftlichen Durchschnitt gemessene Leistungsfähigkeit. Behinderung als eine mögliche Form der Abweichung von der Normalität wird gemessen an einer Leistungsminderung aufgrund gesundheitlicher Schädigungen und/ oder intellektueller Einschränkungen, ggf. in Verbindung mit sozialer Auffälligkeit. Die formalen Kriterien für die Festlegung einer Behinderung, im Sinne des Gesetzes „Schwerbehinderung“ genannt, orientierten sich historisch (bis 1974) an den Problemen kriegsbeschädigter Männer sowie (bis heute) an der durchschnittlichen Arbeitsfähigkeit männlicher Erwerbstätiger (vgl. Schildmann 2000). Im Begriff der Minderung der Erwerbsfähigkeit, der bis 1985 die Definition von Schwerbeschädigung (ab 1974 Schwerbehinderung) bestimmte, wurde der Zusammenhang mit der industriellen, auf Erwerbsarbeit bezogenen Leistungsminderung deutlich. Reproduktionsbezogene Familienarbeit spielte dagegen nie eine wesentliche Rolle. Die ausgehandelten Nachteilsausgleiche für Behinderte waren und sind weitgehend orientiert an den Strukturen männlicher Erwerbsarbeit und der Sozialversicherung und vernachlässigen weibliche Problemlagen bzw. erklären diese zur „Besonderheit“ im Vergleich zum „Allgemeinen“. Was dies im Einzelnen heißt und für die betreffenden Geschlechts- und Altersgruppen bedeutet, soll im folgenden Kapitel anhand statistischer Daten dargestellt werden. 2 Behinderung vor dem Hintergrund von Geschlecht und Alter: statistische Analyse Im jüngsten „Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe“ beginnt die statistische Darstellung über „Behinderte Menschen in Deutschland“ (Deutscher Bundestag 2004, 18) mit folgendem Überblick: „In Deutschland leben 6,639 Millionen schwerbehinderte Menschen (Stand Dezember 2003), die einen Anteil von etwas über 8 Prozent an der Wohnbevölkerung bilden. Von den 6,639 Millionen schwerbehinderten Menschen waren 3,485 Millionen männlich und 3,154 Millionen weiblich. Behinderte Menschen in Deutschland bilden keine in sich geschlossene Gruppe. Zu ihnen gehören • 839.057 in Betrieben und Dienststellen beschäftigte schwerbehinderte Menschen (Stand Oktober 2002), • 173.949 arbeitslose schwerbehinderte Menschen (Stand November 2004), • 226.703 in Werkstätten für behinderte Menschen geförderte oder beschäftigte behinderte Menschen (Stand 2002), • etwa 5,6 Millionen noch nicht oder nicht mehr im Arbeitsleben stehende schwerbehinderte Menschen“ (Deutscher Bundestag 2004, 18). Es ist vor allem „die gesellschaftliche Ordnung der Arbeit“ (Kohli 1998, 1), die hier beispielhaft zum Ausdruck kommt: In die Gruppe der oben genannten, in Betrieben, Dienststellen Ulrike Schildmann 16 VHN 1/ 2006 Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht 17 VHN 1/ 2006 oder in Werkstätten für behinderte Menschen beschäftigten und der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen fallen zwar nur unter 20 Prozent der Gesamtpopulation der Schwerbehinderten, aber diese Gruppe erhält mehr Aufmerksamkeit als die „restlichen“ über 80 Prozent der Schwerbehinderten, die in einer einzigen Rubrik der „noch nicht oder nicht mehr im Arbeitsleben“ (s. o.) stehenden Schwerbehinderten zusammengefasst werden. Diese statistische Schieflage wird zwar in einer, der zitierten Textstelle direkt folgenden, differenzierten Tabelle zu „Alter und Geschlecht schwerbehinderter Menschen am 31. Dezember 2003“ (Deutscher Bundestag 2004, 19) relativiert, sie durchzieht jedoch den gesamten Bericht und sollte deshalb nicht unkritisch überlesen werden. Die soeben erwähnte Tabelle, die im Bericht selbst keine weitere Interpretation erfährt, verdient sozialwissenschaftliche Beachtung und wird deshalb als Grundlage für die folgende Untersuchung des Verhältnisses zwischen Behinderung und Geschlecht in der Lebensspanne herangezogen. Ältere und alte Menschen stellen die größte Gruppe der Schwerbehinderten: Bei Betrachtung der Tabelle fällt als erstes auf, dass (mit umgerechnet 51,6 Prozent) die Hälfte aller schwerbehinderten Menschen in Deutschland der Gruppe der über 65-Jährigen angehört. Unter den weiblichen Schwerbehinderten sind dies sogar 55,5 Prozent, unter den männlichen Schwerbehinderten 48,1 Prozent. Schwerbehinderung könnte damit faktisch vor allem als ein Phänomen des höheren und hohen Alters bezeichnet werden, was im Zusammenhang mit zunehmenden (vor allem chronifizierten) Erkrankungen und deren sozialen Folgen im Alter nachvollziehbar ist, was allerdings zu einer notwendigen Differenzierung zwischen Behinderung und Schwerbehinderung veranlasst. Ob nämlich ein alter Mensch wegen seiner Krankheiten und Altersschwäche im allgemeinen Sprachverständnis als behindert bezeichnet wird, ist eine ganz andere Frage als die Frage danach, ob sich derselbe Mensch eine Schwerbehinderung testieren lässt, welche - im Alter von … männlich weiblich Insgesamt bis unter… Jahren unter 4 8.622 6.654 15.276 4 - 6 8.615 6.270 14.885 6 - 15 54.778 39.046 93.824 15 - 18 23.491 16.980 40.471 18 - 25 61.790 44.419 106.209 25 - 35 117.902 92.504 210.406 35 - 45 257.888 218.604 476.492 45 - 55 408.548 361.968 770.516 55 - 60 318.437 249.888 568.325 60 - 62 187.735 132.249 319.984 62 - 65 362.644 234.308 596.952 65 und mehr 1.674.891 1.750.661 3.425.552 Insgesamt 3.485.341 3.153.551 6.638.892 (Deutscher Bundestag 2004, 19; Quelle: Statistisches Bundesamt) Tab. 1: Alter und Geschlecht schwerbehinderter Menschen am 31. Dezember 2003 Rahmen des Schwerbehindertenrechtes - als Grundlage für die Inanspruchnahme bestimmter sozialer und finanzieller Nachteilsausgleiche notwendig ist. Die große Personengruppe der über 65-jährigen Schwerbehinderten nimmt überwiegend Nachteilsausgleiche im Rahmen der Teilhabe am sozialen Leben, z. B. ihre Mobilität betreffend, in Anspruch, welche auf der Grundlage des Schwerbehindertenrechtes gewährt werden. Dass gerade und ausschließlich in dieser zusammengefassten großen Altersgruppe der Frauenanteil über 50 Prozent beträgt, liegt einerseits an der höheren Lebenserwartung von Frauen, andererseits aber auch an durchschnittlich geringeren finanziellen Mitteln (Renten und Vermögen), die älteren und alten Frauen im Vergleich zu ihren männlichen Vergleichsgruppen zur Verfügung stehen. Dass darüber hinaus diese große Personengruppe (bisher) offensichtlich keine besondere sozialpolitische Aufmerksamkeit erfährt, mag daran liegen, so meine These, dass ihre Belange nicht (mehr) ins Zentrum des Schwerbehindertenrechtes fallen, in dem die Stellung von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Leistungseinschränkungen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt (Beschäftigungspflicht, besonderer Kündigungsschutz u. Ä.) geregelt wird; denn das Schwerbehindertenrecht ist seit seiner Einführung - orientiert an den Kriegsbeschädigten der beiden Weltkriege sowie an den Problemen gesundheitlich beeinträchtigter Männer im Erwerbsarbeitsprozess - grundsätzlich auf die Integration leistungsbeeinträchtigter Menschen in den Arbeitsprozess ausgerichtet. Schon unter den schwerbehinderten Kleinkindern ist das Geschlechterverhältnis unausgewogen: Bei Betrachtung der Tabelle fällt zweitens auf, dass das Geschlechterverhältnis in allen ausgewiesenen Altersgruppen unausgewogen ist und der Mädchen-/ Frauenanteil - abgesehen von zwei statistischen Ausreißern: in der Gruppe der 45 - 55-Jährigen mit 47,0 Prozent und in der Gruppe der 62 - 65-Jährigen mit nur 39,1 Prozent - durchgängig zwischen 41 und 44 Prozent liegt. Dies trifft auch bereits für die jüngste Gruppe der unter 4-Jährigen zu, worauf an dieser Stelle etwas ausführlicher eingegangen werden soll: Bei den insgesamt ca. 15.000 unter 4-jährigen, als schwerbehindert definierten Kindern beträgt der Mädchenanteil 43,6 Prozent, der Jungenanteil dementsprechend 56,4 Prozent. Erklären lässt sich dieses quantitative Ungleichgewicht zum Teil auf der Grundlage der Neugeborenenstatistik: Unter den Lebendgeborenen befanden sich im Jahr 2000 insgesamt 393.323 Jungen und 373.676 Mädchen, im Jahr 2003 insgesamt 362.709 Jungen und 344.012 Mädchen (vgl. Statistisches Bundesamt 2005 a, - VI B -), womit der Mädchenanteil bei 48,7 bzw. 47,9 Prozent lag. Den Lebendgeborenen standen im Jahr 2003 insgesamt 2.699 Totgeborene gegenüber (Mädchenanteil 45,9 Prozent; vgl. Statistisches Bundesamt 2003, Fachserie 1, Reihe 1.1). Auch die Frühgeborenenstatistik (hier am Beispiel des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen) weist etwas höhere Sterbequoten männlicher als weiblicher Frühgeborener in den einzelnen Schwangerschaftsabschnitten aus (vgl. Geschäftsstelle Qualitätssicherung Nordrhein-Westfalen 2004, 2). Die genannten Verhältniszahlen stützen die Einschätzung, dass neugeborene Jungen im Durchschnitt über eine schwächere gesundheitliche Konstitution verfügen als Mädchen. Die Daten sind aber nicht hinreichend aussagekräftig, um den doch erheblich höheren Anteil von Jungen an den unter 4-jährigen schwerbehinderten Kindern zu erklären. Zwar ist davon auszugehen, dass von den Eltern der Kinder dieser Altersgruppe eine Schwerbehinderung noch wesentlich im direkten Zusammenhang mit medizinischen Diagnosen und Behandlungen geltend gemacht wird, so meine These, aber welche konkreten Konstellationen für die Beantragung einer Schwerbehinderung im Kleinkindalter ausschlaggebend sind, wäre eine differenziertere wissenschaftliche Untersuchung wert. Auszugehen ist davon, dass die Eltern ab- Ulrike Schildmann 18 VHN 1/ 2006 wägen zwischen einer frühen Etikettierung ihres Kindes als behindert (im Sinne von „außerhalb der Normalität stehend“) und dem Erhalt steuerlicher und sonstiger Nachteilsausgleiche für erhöhte (finanzielle) Aufwendungen durch medizinische Behandlungen u. Ä. auf der Grundlage des Schwerbehindertenrechtes. Ob in der nächstfolgenden Altersgruppe der 4 - 6-Jährigen ebenfalls noch die überwiegend medizinischen Aspekte für die Geschlechterdisparität unter den (Schwer-)Behinderten ausschlaggebend sind oder bereits die sozialen und bildungspolitischen, ist nicht eindeutig auszumachen. Unter den ebenfalls insgesamt ca. 15.000 Schwerbehinderten im Alter von 4 - 6 Jahren beträgt der Mädchenanteil 42,1 Prozent. Aus sozial- und bildungspolitischer Sicht enthält die Schwerbehindertenstatistik für diese Altergruppe - wie danach zugespitzt für die Altersgruppe der Schulkinder - folgende Problemlagen: a. „Schwerbehinderung“ und „Behinderung“ erweisen sich als zwei statistisch unterschiedliche Kategorien: Den (Ende 2003 ausgewiesenen) ca. 15.000 schwerbehinderten Kindern im Alter von 4 - 6 Jahren stehen in „Tageseinrichtungen für Kinder“ (Daten für Ende 2002) 40.047 Kindergartenplätze (ganztags und halbtags) für behinderte Kinder gegenüber (vgl. Deutscher Bundestag 2004, 61). Das bedeutet, dass im Vergleich zu den zur Verfügung gestellten Kindergartenplätzen für behinderte Kinder die 4 - 6-jährigen Kinder mit einer anerkannten Schwerbehinderung nur einen Anteil von ca. 37,2 Prozent darstellen. Unklar bleibt, auf welcher sozialen und diagnostischen Basis die Kindergartenplätze für behinderte Kinder bereitgehalten werden. b. Nicht ermittelt werden kann weiterhin, welches geschlechterspezifische Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen im Kindergarten gilt; denn in den Kindergarten-Statistiken werden lediglich „verfügbare Plätze“ ausgewiesen, nicht aber deren Besetzung mit konkreten (männlichen oder weiblichen) Personen. Eine Überarbeitung dieser statistischen Grundlage wäre nicht nur im Sinne des Gender Mainstreaming sinnvoll, zu dem sich die deutsche Bundesregierung im Amsterdamer Vertrag von 1999 sowie in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung von 2000 verpflichtet hat, sondern auch im Sinne der kontinuierlichen Beobachtung und Erfassung des Geschlechterverhältnisses unter den (schwer-)behinderten Menschen, welches in der dem Kindergartenalter direkt folgenden Lebensphase des Schulalters höchste Aufmerksamkeit verdient. In der Gruppe der Schulkinder fallen Schwerbehinderung und sonderpädagogischer Förderbedarf weit auseinander: Im Jahr 2002 hatten 495.244 Schülerinnen/ Schüler, d. h. ca. 5 Prozent der deutschen Schülerschaft, einen amtlich festgestellten „sonderpädagogischen Förderbedarf“. Davon fielen unter den Förderschwerpunkt Lernen 53,0 %, Geistige Entwicklung 14,2 %, Sprache 9,1 %, Emotionale und soziale Entwicklung 8,3 %, Körperliche und motorische Entwicklung 5,0 %, Hören 2,9 %, Kranke 2,0 %, Sehen 1,3 % (vgl. Deutscher Bundestag 2004, 63; Quelle: Kultusministerkonferenz „Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1993 bis 2002“). Während bundesweit mit 86,7 Prozent dieser Schüler und Schülerinnen die überwiegende Mehrheit Sonderschulen besuchten, wurden nur 13,3 Prozent integrativ, d. h. im gemeinsamen Unterricht mit nicht behinderten Kindern und Jugendlichen beschult (vgl. Deutscher Bundestag 2004, 64). Unter allen 6 - 15-jährigen Kindern/ Jugendlichen aber hatten lediglich knapp 94.000 Kinder eine anerkannte Schwerbehinderung (vgl. Deutscher Bundestag 2004, 19; Daten von 2003). Es zeigt sich erneut, dass Schwerbehinderung im juristischen Sinne und Behinderung, hier ausgedrückt in „sonder- Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht 19 VHN 1/ 2006 pädagogischem Förderbedarf“, absolut nicht deckungsgleich sind. Würden selbst die 15 - 18jährigen Schwerbehinderten hinzuaddiert, bliebe die Differenz zwischen knapp 500.000 und reichlich 130.000 Personen immer noch erheblich. Während der Jungenanteil unter den Schwerbehinderten im Alter von 6 - 15 Jahren bei 58 Prozent und im Alter von 15 - 18 Jahren bei 58,2 Prozent lag, ergibt die Berechnung der Geschlechterverhältnisse in den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten ein auffällig höheres Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern 1 : Im Durchschnitt der gesamten Sonderschülerschaft stellten im Schuljahr 2003/ 04 die Jungen mit 63,1 Prozent gegenüber den Mädchen mit 36,9 die große Mehrheit. Der Jungenanteil betrug in den Förderschwerpunkten Emotionale und Soziale Entwicklung sogar 86,4 Prozent, Sprache 70,7 Prozent, Körperliche und motorische Entwicklung 61,5 Prozent, Lernen 60,6 Prozent, Geistige Entwicklung 60,2 Prozent, Klassen für Kranke 59,7 Prozent, Sehen 58,7 Prozent, Hören 58,6 Prozent; in den beiden Rubriken „Förderschwerpunkt übergreifend“ bzw. „keinem Schwerpunkt zugeordnet“ betrug der Jungenanteil insgesamt 63,9 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 2003/ 04, Fachserie 11, Reihe 1). Ein sonderpädagogischer Förderbedarf wird also bei weitaus mehr Jungen als Mädchen (ca. zwei Drittel : ein Drittel) diagnostisch festgestellt und institutionell fixiert. Wenn diese starke Geschlechterdisparität in der Sonder- (schul)pädagogik kaum wissenschaftliche Beachtung findet, dann liegt das, so meine These, zum einen daran, dass der sonderpädagogische Fokus auf den individuellen Leistungseinschränkungen liegt, statt den sozialstrukturellen Faktoren mehr Aufmerksamkeit zu widmen, und zum anderen daran, dass die vorherrschende „Gleichbehandlung der Geschlechter“ im Rahmen der koedukativen Pädagogik mit ihrer Orientierung am vermeintlich Allgemeinen durch die Jungenmehrheit an Sonderschulen nur bestätigt wird, statt zu einer geschlechtersensiblen Differenzierung zu führen. Schwerbehinderte Frauen und Männer im erwerbsfähigen Alter haben überwiegend keinen Bezug zum Erwerbsarbeitsprozess: Auf der Basis der zugrunde gelegten Statistik (vgl. Tabelle) soll schließlich die große Gruppe der schwerbehinderten Menschen im Erwerbsalter (18 - 65 Jahre) näher betrachtet werden, an deren Problemlagen sich das Schwerbehindertenrecht historisch entwickelt hat. Sie ist heute erstaunlicherweise nicht nur kleiner als der gesamte Rest der „noch nicht oder nicht mehr im Arbeitsleben stehenden schwerbehinderten Menschen“ (Deutscher Bundestag 2004, 18), sondern mit insgesamt 3.048.884 Personen sogar kleiner als die Teilgruppe der über 65-jährigen Schwerbehinderten. Hier haben sich offensichtlich im Verlauf der Geschichte des Schwerbehindertenrechtes so große Veränderungen in der Zusammensetzung der Schwerbehinderten ergeben, dass die definitorische Hauptgruppe der Menschen im erwerbsfähigen Alter heute nicht mehr in der Mehrzahl gegenüber den „flankierenden Gruppen“ ist. Der Frauenanteil an der Gesamtgruppe der Schwerbehinderten im erwerbsfähigen Alter beträgt 43,8 Prozent. Die Erwerbsquote behinderter Frauen liegt bei nur 21,3 Prozent und ist deutlich niedriger als jene behinderter Männer, die 30 Prozent beträgt (zum Vergleich: nicht behinderte Frauen 52,9 Prozent, nicht behinderte Männer 70,9 Prozent; vgl. Deutscher Bundestag 2005, 121). Darin kommt zum einen die geschlechterspezifische Arbeitsteilung zum Ausdruck, auf deren Basis Frauen familiale Reproduktionsarbeit und Erwerbsarbeit in Einklang miteinander bringen müssen, während Männer ihre beruflichen Entscheidungen (faktisch auch heute noch) weitgehend unabhängig von den Anforderungen familialer Reproduktionsarbeit treffen; zum anderen spiegeln sich darin auch die an traditionell männliche Arbeitsstrukturen angelehnten Strukturen des Sozialversicherungssystems einschließlich des beruflichen Rehabilitationssystems wider. Ulrike Schildmann 20 VHN 1/ 2006 3 Ergebnisse der Untersuchung Über die gesamte Lebensspanne gesehen, sind die Verhältnisse zwischen Geschlecht und Behinderung in den einzelnen Altersabschnitten als unterschiedlich zu bezeichnen, weshalb sich eine differenzierte Betrachtung lohnt. In keiner der beschriebenen Altersgruppen ist das quantitative Geschlechterverhältnis, das in der vorliegenden Analyse auf der Basis der Schwerbehindertenstatistik sowie der (Sonder-)Schulstatistik ermittelt wurde, ausgewogen: In der Gruppe der schwerbehinderten Kleinkinder (von zusammengefasst 0 - 6 Jahren) überwiegen die Jungen mit etwa 57 Prozent, was zum Teil - jedoch nicht gänzlich - mit einer vergleichsweise schwächeren gesundheitlichen Konstitution des männlichen Geschlechts am Lebensanfang begründet werden kann. Selbst wenn sich die formale Feststellung einer Schwerbehinderung weitgehend an medizinischen Anhaltspunkten orientiert (vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziales 2004), sind daneben auch andere, sozialisationsbezogene Zusammenhänge anzunehmen sowie die Abwägung zwischen früher Etikettierung des Kindes als „behindert“ und möglichen Nachteilsausgleichen auf der Basis des Schwerbehindertengesetzes durch die Eltern. Die Erforschung des Verhältnisses zwischen den genannten Faktoren, gerade in den ersten Lebensjahren, wäre aufschlussreich für das Verständnis der gesellschaftlichen Konstruktion von Behinderung. In der Altersgruppe der Schulkinder beträgt der Jungenanteil unter den Schwerbehinderten etwa 58 Prozent (6 - 15-Jährige und 15 - 18- Jährige) und ist damit in etwa vergleichbar mit der Gruppe der Kleinkinder. Unter den Schülern mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“, die in Sonderschulen unterrichtet werden, liegt jedoch der Jungenanteil bei durchschnittlich etwa 63 Prozent. Das bedeutet, dass die Schülerschaft an Sonderschulen zu fast zwei Dritteln aus Jungen besteht, wobei die Spitzenwerte bei den Förderschwerpunkten „Emotionale und soziale Entwicklung“ mit 86,4 Prozent Jungenanteil und „Sprache“ mit 70,7 Prozent Jungenanteil liegen. An dieser Altersgruppe wird vor allem zweierlei deutlich: Die Kategorien „Schwerbehinderung“ und „sonderpädagogischer Förderbedarf“ haben nichts oder nur wenig miteinander zu tun: Es gibt Kinder, bei denen eine Schwerbehinderung festgestellt wurde, für die aber niemals während ihrer gesamten Schulzeit ein sonderpädagogischer Förderbedarf ausgesprochen oder auch nur beantragt wurde. Außerdem differieren die absoluten Zahlen der Schwerbehinderten und der Schüler/ innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf so stark, dass auch formal nur bei etwa einem Drittel der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf überhaupt eine Schwerbehinderung vorliegen könnte. Anzunehmen ist auch für diese Altersgruppe, dass mit einer Schwerbehinderung andere, vor allem medizinische und (sozialbzw. steuer-)rechtliche Belange abgedeckt werden, während die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Rahmen des Bildungswesens auf besondere individuelle (Schul-)Leistungs- und Verhaltensprobleme abzielt. Die lange Zeit übliche Bezeichnung der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf als Lernbehinderte, geistig Behinderte, Körperbehinderte etc., die eine gewisse Verbindung zwischen den Kategorien „Behinderung“ und „Schwerbehinderung“ andeutet(e), wird erst in jüngster Zeit möglichst vermieden. Dass unter den Kindern und Jugendlichen dieser Altersgruppe der Mädchenanteil auffällig niedriger ist als der Jungenanteil, scheint daran zu liegen, dass Mädchen auf allen Schulstufen nachweislich bessere Schulleistungen vorweisen und neben den Leistungsanforderungen offensichtlich auch den Verhaltensanforderungen (mit Disziplinierungscharakter) der Schule - soweit nach außen sichtbar - unkomplizierter folgen als Jungen, was wiederum nicht ohne den gesamten Komplex der geschlechterspezifischen Erziehung und Sozialisation denkbar wäre. In den Altersgruppen des jungen und mittleren Erwachsenenalters, die im Sinne des Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht 21 VHN 1/ 2006 Schwerbehindertenrechtes die Frauen und Männer im erwerbsfähigen Alter umfassen, liegt das Geschlechterverhältnis im Durchschnitt zwischen 56 und 59 Prozent Männern gegenüber 41 und 44 Prozent Frauen, abgesehen von zwei Altersgruppen: Bei den 45 - 55-Jährigen erhöht sich der Frauenanteil auf 47 Prozent, was im sozialen Sinne als (Langzeit-)Folge der Arbeitsbelastung aus kombinierter familialer Reproduktionsarbeit und Erwerbstätigkeit interpretiert werden könnte, bei zeitlicher Überschneidung mit den einsetzenden Wechseljahren und deren gesundheitlichen Komplikationen. Bei den 62 - 65-Jährigen beträgt der Männeranteil fast 61 Prozent, weil in dieser Altersgruppe insbesondere die absolute Zahl der wegen gesundheitlicher Probleme vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Männer auffällig hoch ist, während viele Frauen - vor allem aufgrund des langjährig geltenden Renteneintrittsalters weiblicher Beschäftigter mit 60 Jahren - in diesem Alter bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Für die Altersgruppen des jungen und mittleren Erwachsenenalters sind aber an dieser Stelle auch die sehr niedrigen Erwerbsquoten behinderter Männer (mit 30 Prozent) und vor allem behinderter Frauen (mit 21 Prozent) festzuhalten, wobei letztere wiederum aus der Doppelbelastung von Frauen durch familiale Reproduktionsarbeit plus Erwerbsarbeit erklärt werden kann. Für beide, Männer und Frauen, aber gilt, dass das Schwerbehindertenrecht in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage seine Beschäftigungsziele absolut nicht mehr erreicht. In der großen Gruppe der - zusammengefasst als jenseits des Erwerbsalters befindlichen - schwerbehinderten alten Menschen schließlich ist das quantitative Verhältnis zwischen Männern und Frauen - mit einem (erstmals) leicht überwiegenden Frauenanteil von einem Prozentpunkt - fast ausgeglichen, was sich aus der durchschnittlich höheren Alterserwartung von Frauen, aber auch aus deren größerer Bedürftigkeit an (finanziellen) Nachteilsausgleichen nach dem Schwerbehindertenrecht erklären lässt. Wegen der großen Zahl von knapp 3,5 Millionen Menschen, die einen Anteil von über 50 Prozent an allen schwerbehinderten Menschen in Deutschland ausmachen, sollte dieser Gruppe, selbst wenn sie rechtlich gesehen nicht im Zentrum des Schwerbehindertenrechts steht, eine ihrem quantitativen Anteil gemäße Aufmerksamkeit zuteil werden. Sie als Gruppe der nicht mehr im Erwerbsleben Stehenden in eine randständige Position zu verweisen, entspräche weder ihrem absoluten Anteil an der Gesamtgruppe der schwerbehinderten Menschen noch den (neuen) sozialpolitischen Anforderungen einer älter werdenden Gesamtgesellschaft. Anknüpfend an die in der Einleitung gestellten Forschungsfragen kann schließlich zweierlei festgehalten werden: a. Gezeigt hat sich vor allem, dass in fast allen Altersgruppen der quantitative Anteil der männlichen Schwerbehinderten größer ist als der Anteil der weiblichen Schwerbehinderten, womit jedoch über die geschlechterspezifische Qualität von Schwerbehinderung noch nicht viel ausgesagt ist. Zu vermuten ist aber, dass der Männerüberhang an Schwerbehinderten in den meisten Altersgruppen - ganz im Sinne der gesellschaftlichen Arbeitstraditionen einschließlich des Sozialversicherungs- und des Schwerbehindertenrechtes - dazu führt, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit an erster Stelle auf die männlichen Gesellschaftsmitglieder fällt und deren Problemstellungen verallgemeinert werden, und dass daraus folgende sozialpolitische Handlungsstrategien nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen entwickelt und angewendet werden. Es ist aber hoffentlich nur eine Frage der Zeit, bis Frauen und Mädchen eine ihren eigenen (geschlechterspezifischen) Problemlagen adäquate Beachtung im Sozial- und Schwerbehindertenrecht finden, wofür es erste Anzeichen gibt, auch im „Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe“. Ulrike Schildmann 22 VHN 1/ 2006 b. Gezeigt hat sich aber auch, dass die moderne Industriegesellschaft, selbst im nationalen Rahmen, Unterschiedliches unter Behinderung versteht, weshalb auf genaueste definitorische Abgrenzungen zu achten ist. Dieser Hinweis gilt insbesondere auch für alle Versuche und Anstrengungen internationaler Vergleiche über Behinderung, zum Beispiel im europäischen Rahmen. Nicht gleichzusetzen sind, wie für Deutschland gezeigt werden konnte, vor allem Behinderung im allgemeinen (Sprach-)Verständnis und Schwerbehinderung im juristischen Sinne, obwohl auch die deutsche Bundesregierung in ihrem Bericht über die Lage behinderter Menschen, der die Hauptbezugsquelle des vorliegenden Artikels bildete, beide Begriffe miteinander vermischt. Nicht gleichzusetzen ist aber vor allem auch Schwerbehinderung mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“, dem Begriff, der über das gesamte Schulalter hinweg behinderte und lernbeeinträchtigte Kinder identifizieren soll. Die Kategorie Behinderung bildet, wie gezeigt werden konnte, nicht nur verschiedenste geschlechterspezifische und altersgruppenspezifische Problemstellungen ab, sondern transportiert auch unterschiedliche gesamtgesellschaftlich relevante Inhalte und Bedeutungen. Anmerkung 1 In den letzten Jahren scheinen sich neben veränderten Definitionen auch einige Verschiebungen des Geschlechterverhältnisses ergeben zu haben. Im Schuljahr 1996/ 97 betrugen die Jungenanteile vergleichsweise an Sonderschulen für Verhaltensgestörte 85,5 %, Sprechbehinderte 72,2 %, Lernbehinderte 62,2 %, Körperbehinderte 60,3 %, Geistigbehinderte 59,6 %, Mehrfachbehinderte 57,8 %, Gehörlose 58,4 %, Schwerhörige 57,1 %, Sehbehinderte 57,8 %, Blinde 55,9, Kranke 58,3 % (vgl. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode: Lebenssituation behinderter Mädchen und Frauen. Drucksache 13/ 9508 vom 18. 12. 1997, 5). Literatur Backes, Gertrud M. (2004): Alter (n): Ein kaum entdecktes Arbeitsfeld der Frauen- und Geschlechterforschung. In: Becker, Ruth; Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden, 395 - 401 Bundesministerium für Gesundheit und Soziales (2004): Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX). Berlin (www.bmgs.bund.de) Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode (1997): Lebenssituation behinderter Mädchen und Frauen. Drucksache 13/ 9508 vom 18. Dezember Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode (2004): Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe. Drucksache 15/ 4575 vom 16. Dezember Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode (2005): Lebenslagen in Deutschland. Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht. Drucksache 15/ 5015 vom 3. März Geschäftsstelle Qualitätssicherung Nordrhein-Westfalen (GSQS NRW) (2005): Neonatal-Erhebung Nordrhein-Westfalen 2004. Version 2.1. Gesamtstatistik Nordrhein-Westfalen alle Kliniken. Düsseldorf/ Münster Kohli, Martin (1998): Alter und Altern der Gesellschaft. In: Schäfers, Bernhard; Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Opladen, 1 - 11 Ostner, Ilona (1998): Frauen. In: Schäfers, Bernhard; Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Opladen, 210 - 221 Schildmann, Ulrike (2000): Zur Entwicklung der allgemeinen Behindertenstatistik unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete VHN 69, 254 - 256 Schildmann, Ulrike (2000 a): 100 Jahre allgemeine Behindertenstatistik. Darstellung und Diskussion unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterdimension. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 51, 354 - 360 Schildmann, Ulrike (2004): Geschlecht und Behinderung. In: Becker, Ruth; Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden, 535 - 539 Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht 23 VHN 1/ 2006 Schildmann, Ulrike; Bretländer, Bettina (Hrsg.) (2000): Frauenforschung in der Behindertenpädagogik. Systematik - Vergleich - Geschichte - Bibliographie. Münster Statistisches Bundesamt (2003): Statistisches Jahrbuch 2003. Wiesbaden Statistisches Bundesamt (2003/ 04): Schüler/ innen 2003/ 04. 3.10 Klassen, Schüler/ innen und Ausländer/ innen in Sonderschulen nach Klassentypen, sonderpädagogischen Förderschwerpunkten und Ländern 2003/ 04, Fachserie 11, Reihe 1. Wiesbaden Statistisches Bundesamt (2005): Strukturdaten und Integrationsindikatoren für die ausländische Bevölkerung 2003 (a). Wiesbaden Statistisches Bundesamt (2005 a): Zusammenfassende Übersichten. Eheschließungen, Geborene und Gestorbene. - VI B -. Wiesbaden Prof. Dr. Ulrike Schildmann Frauenforschung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung Fakultät Rehabilitationswissenschaften Universität Dortmund Emil-Figge-Straße 50 D-44221 Dortmund Tel.: ++49 (0) 231-755 55 80 Fax: ++49 (0) 231-755 52 00 E-Mail: ulrike.schildmann@uni-dortmund.de Ulrike Schildmann 24 VHN 1/ 2006