Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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„Theater darf viel …“
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2006
Martin Th. Hahn
Peter Radtke
Lieber Peter, nach der viel Aufsehen erregenden Aufführung des Medea-Stückes „M“ unter George Tabori an den Münchner Kammerspielen 1985, in der du als Kind (mit schwerer körperlicher Behinderung) neben Ursula Höpfner eine Hauptrolle hattest, äußerte sich ein Kollege (Professor für Behindertenpädagogik“ an einer westdeutschen Universität) sinngemäß mir gegenüber:
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54 54 Gammertingen, 1. Juli 2005 Lieber Peter, nach der viel Aufsehen erregenden Aufführung des Medea-Stückes „M“ unter George Tabori an den Münchner Kammerspielen 1985, in der du als Kind (mit schwerer körperlicher Behinderung) neben Ursula Höpfner eine Hauptrolle hattest, äußerte sich ein Kollege (Professor für „Behindertenpädagogik“ an einer westdeutschen Universität) sinngemäß mir gegenüber: Das ginge zu weit, wie hier „Behinderung“ zur Schau gestellt werde, er habe es kaum ertragen können. Und Gerhard Stadelmaier schrieb in der Stuttgarter Zeitung vom 5. Januar 1985 darüber: „Theater darf viel. Das darf es nicht.“ In der Süddeutschen Zeitung vom 12./ 13. Januar 1985 setzt du dich mit den Reaktionen auf das Stück auseinander und kommst zu dem Schluss: „Theater darf Grenzen verletzen.“ „Bist Du Dir bewusst, was Du tust, wenn Du einen ‚Krüppel‘ auf die Bühne stellst; man wird es Dir nicht verzeihen? “ - so fragtest du Tabori, als er dir die Rolle antrug. Dein mit dem Preis des Dramatikerwettbewerbs „Behinderte Menschen unter uns“ ausgezeichnetes Stück „Nachricht vom Grottenolm“ habe ich auf Video mehrmals gesehen und auch in Lehrveranstaltungen gezeigt, in München, Regensburg, Wien und Berlin habe ich dich auf der Bühne erlebt, deine Bühnenkarriere real und in den Medien verfolgt. Die beobachtbare Zunahme der Darstellung von Menschen mit Behinderungen in den Medien, die wachsende Zahl von Theatergruppen von Menschen mit Behinderung und die immer selbstverständlicher werdende Präsenz von „Behinderung“ in der Öffentlichkeit unserer Gesellschaft lassen vermuten, dass sich die Betroffenheit, die von der Wahrnehmung von Behinderung ausgeht, in den vergangenen zwei Jahrzehnten verringert hat. Dagegen sprechen allerdings Vorgänge wie zum Beispiel im vergangenen Jahr ein Fernsehgottesdienst aus dem Evangelischen Johannesstift Berlin-Spandau, an dem Menschen mit schwerer Behinderung teilnahmen. Man habe Behinderung zur Schau gestellt, lautete ein Vorwurf. Ähnliche Äußerungen wurden mir gegenüber ge- 54 „Theater darf viel …“ Martin Th. Hahn Gammertingen Peter Radtke München Dialog Für diese Rubrik ist in jedem Heft ein Briefwechsel vorgesehen. In der Regel wird er zwischen einer Person aus der Wissenschaft und einer Person aus der Praxis geführt und bezieht sich auf Brennpunkte in Theorie, Praxis und Politik. Die Zusendung von kurzen Leserbriefen, die auf den Dialog Bezug nehmen, ist erwünscht. VHN, 75. Jg., S. 54 -59 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel macht, wenn wir an der Humboldt-Universität zu Berlin zur Eröffnung von Symposien und Fachtagungen Musiziergruppen von Menschen mit geistiger Behinderung eingeladen hatten. Für mich stellen sich Fragen, für deren Beantwortung du als Betroffener, als Schauspieler und Autor, als Geschäftsführer und Leitender Redakteur der „Arbeitsgemeinschaft Behinderte und Medien“, als mehrjähriger Vorsitzender von „Eucrea“ und als Mitglied des nationalen „Ethikrates“ am ehesten Antworten hast: Gibt es eine Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten, die über Behinderung hinwegsehen lässt und den Menschen mit den von ihm vertretenen Positionen in Theater und Film, in Malerei und Literatur immer mehr in den Vordergrund unseres Bewusstseins gerückt hat? Gibt es eine Entwicklung hin zur Wahrnehmung von immer mehr Gemeinsamkeiten unter gleichzeitig zunehmender Vernachlässigung der ebenfalls wahrnehmbaren Unterschiede, die im „Behinderungsgrad“ liegen? Wo sind Grenzen? Wieviel „Behinderung“ schockiert und verdeckt das „Gemeinsame“ im Gegenüber? - Ich frage als „sogenannter Nichtbehinderter“. Wie sieht dies aber von deiner Seite aus: Anpassung an Normalität? Identität im „Anderssein“ oder in „Gemeinsamkeiten“? Oder in beidem? - Darf ich dazu den „Tagesspiegel“ vom 17. Januar 1994 zitieren (nach dem Gastspiel der Wiener Inszenierung von Kafkas „Bericht für eine Akademie“ im Affenhaus des Berliner Zoos): „Der in Folge der Glasknochenkrankheit verkrüppelte Körper des promovierten Philologen, Schauspielers und Dramatikers wird zum leibhaftigen Symbol dafür, dass das Anderssein unüberwindlich ist. Dass jeder Versuch, sich wider die eigene Persönlichkeit den Gesetzen der sogenannten Normalität unterordnen zu wollen, zum Scheitern verurteilt ist.“ Viele Fragen. - Gibt es die eine oder andere Antwort darauf von dir? Herzliche Grüße nach München Martin München, 21. August 2005 Lieber Martin, in deinem Brief, der mir nahe geht, schneidest du ein ganzes Bündel von Fragen an, die ich nicht ohne Schwierigkeiten beantworten kann. Darunter befinden sich auch solche, mit denen ich mich auseinander setzen muss, seitdem ich auf der Bühne stehe, oder besser gesagt sitze. Ich meine nicht den Vorwurf, ich würde als behinderter Darsteller von skrupellosen Regisseuren ausgenutzt. Diese Behauptung könnte ebenso auf jeden x-beliebigen professionellen Schauspieler zutreffen, ob er behindert ist oder nicht. Es ist nun einmal das Los eines Menschen, der sich einem Regisseur ausliefert, dass er zu einem Instrument in den Händen eines mehr oder minder begabten Choreografen wird. Warum glaubt man, jemand, der eine Behinderung hat, vor sich selbst in Schutz nehmen zu müssen? Das Problem dürften eher die Zuschauer sein, und hier vor allem die Kritiker, die offensichtlich einen behinderten Darsteller auf der Bühne nicht ertragen können. Können sie dann vielleicht einen behinderten Menschen im Alltag ebenso wenig ertragen? Wenn ich sage, dass mich dein Brief berührt hat, so deshalb, weil er Punkte anspricht, die auch mich - vor allem in Krisenzeiten, die es bei jeder Erarbeitung eines Stückes gibt - bewegen. Es sind Fragen wie: „Was will ich auf der Bühne? Will ich wirklich ein ‚normaler‘ Schauspieler sein? Was unterscheidet mich im Grunde von den Objekten der Freak-Shows der vergangenen Jahrhunderte? “ Natürlich glaube ich, durch die künstlerische Bewältigung einer Rolle mehr zu sein als nur ein bloßer Gegenstand der Neugier. Aber bin ich sicher, dass dies das Publikum in gleicher Weise so sieht? Auf die Kritiker kann ich dabei gerne verzichten. Sie sind für meine Motivation nicht relevant. Wohl aber sind es die Leute, die ins Theater gehen, um die Interpretation eines Stückes zu sehen und plötzlich mit mir, mit einem authentischen Krüppel auf der Bühne konfrontiert werden. „Theater darf viel …“ 55 VHN 1/ 2006 Hier ist Theater kein „Als-Ob-Spiel“ mehr; hier wird die ungeschminkte Realität sichtbar. Man ist erinnert an den „Bajazzo“: „Schaut her, ich bin’s.“ Werden die Zuschauer nach einem ersten Schock, den ich ihnen gerne zubillige, die neue Qualität erkennen, die gerade mittels der Verkörperung durch einen behinderten Darsteller entsteht? Glücklicherweise habe ich immer wieder Reaktionen erfahren dürfen von Menschen, die mir z. B. sagten: „Jetzt erst habe ich wirklich begriffen, was Kafka mit seinem ‚Bericht für eine Akademie‘ gemeint hat.“ Solche Äußerungen helfen dann über manche depressiven Stimmungen hinweg. Ob ich mit meiner Vorreiter-Rolle mehr Verständnis für Menschen mit einer Behinderung im Alltag bewirken konnte, weiß ich nicht - glaube ich beinahe nicht. Auch wenn wir heute mehr behinderte Darsteller im Fernsehen und auf der Leinwand sehen, fürchte ich, dass ich noch lange auf der Bühne eine Ausnahme bleiben werde. Daran wird wohl auch die Tatsache nichts ändern, dass es mittlerweile in Ulm eine professionelle Ausbildung für körperbehinderte Studenten im Fach „Darstellende Kunst“ gibt. Dennoch bin ich überzeugt, dass es wichtig und richtig war, dass ich diesen ersten Schritt gewagt habe. Dabei denke ich weniger an die Emanzipation der Menschen mit Behinderungen. Vielmehr geht es um die Bereicherung der Literatur und des Theaters. In diesem Sinne, lieber Martin, einen lieben Gruß nach Gammertingen Dein Peter Gammertingen, 21. August 2005 Lieber Peter, für Deinen Brief danke ich. Meine Fragen haben dich berührt, schreibst du, und ich hoffe, dass sie dich nicht verletzten. Konnte ich doch bisher mit dir rational-offen über alle Probleme reden, die Fragen des Behindertseins und deine Arbeit, deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und ihre Wirkungen betrafen. Du hast als Autor in deinen biografisch orientierten Veröffentlichungen (Beispiele: „Ein halbes Leben aus Glas“, „M wie Tabori“), in von dir verfassten Theaterstücken (Beispiele: „Nachrichten vom Grottenolm“, „Auch ein Othello“, „Hermann und Benedikt“), in deinen Rollen als Schauspieler (Beispiele: in Taboris Medea „M“, in Kafkas „Bericht für eine Akademie“, in „Hiob“), in Diskussionsrunden des Fernsehens (Beispiel: Club 2 des ORF zum Thema Euthanasie mit Peter Singer), in der Auseinandersetzung mit deinen Kritikern, als Geschäftsführer und Leitender Redakteur der AG Behinderte und Medien und als Mitglied des von der Bundesregierung berufenen Ethikrates gezeigt, dass es möglich ist, eigenes emotionales Betroffensein hintanzustellen, ohne es zu leugnen. Gleichzeitig vermittelst du in deinem gesamten Wirken rational Sachverhalte, die tiefe Einblicke in das individuelle Behindertsein und seine sozialen Verschränkungen ermöglichen und damit zu Empathie und solidarischem Denken und Handeln führen. Dies darf auch als emotionalisierende Wirkung angesehen werden, die von dir ausgeht. Du berührst mit deiner Arbeit auch andere! - Auch wenn es dir vordergründig um die Bereicherung von Literatur und Theater geht: Aus meiner Sicht bist du ein erfolgreicher Vorkämpfer für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Zusammenleben in unserem Kulturkreis. Weil du deine Rolle in unserer Gesellschaft und deine spezielle Rolle als „privilegierter Vorkämpfer“ für die Emanzipation von Menschen mit Behinderung immer wieder selbst reflektierst (z. B. auch in deinem Stück „Hermann und Benedikt“), erlaube ich mir, Fragen zu stellen, die du authentisch beantworten kannst, wobei ich zunächst gerne bei deinem „Arbeitsfeld Theater“ bleiben möchte. Der Umfang unseres möglichen Dialog-Briefwechsels könnte der Beantwortung Grenzen setzen. Martin Th. Hahn, Peter Radtke 56 VHN 1/ 2006 Darf ich dich um eine Erläuterung bitten, weshalb für dich die Bereicherung von Literatur und Theater vor der emanzipatorischen Wirkung deiner Arbeit steht? Schlägt hier der promovierte Neuphilologe durch? Lässt sich dies bei dir so einfach trennen? Ist nicht dein gesamtes Engagement in diesem Bereich - ob Stücke explizit etwas mit Behindertsein zu tun haben oder nicht - durch deine unübersehbare schwere körperliche Behinderung eine Dokumentation der möglichen Teilhabe am kulturellen Leben, die Vorbildfunktion für andere Menschen mit Behinderung hatte resp. hat? Wird diese Annahme nicht durch die zunehmende Präsenz von Menschen mit Behinderung auf der Bühne, in Film und Fernsehen bestätigt? - Als Geschäftsführer der AG „Behinderte und Medien“, die Fernsehsendungen gestaltet, hast du einen Überblick. Gibt es Kriterien für künstlerisch gutes Theater - in dem Menschen mit Behinderung spielen -, das sich unterscheidet von beabsichtigter Therapie resp. von bloßem Aktionismus mit modischem Akzent? - Die Bundesvereinigung Lebenshilfe hat dir im „Bayerischen Hof“ zu München ihren Medienpreis „Bobby“ verliehen, in Anwesenheit von „Bobby“, dem Star aus der Serie mit Senta Berger. Wie stehst du zu Theaterensembles, deren Schauspieler/ innen eine geistige Behinderung haben: zum Beispiel „Blaumeier“ in Bremen, „Thikwa“ und „Ramba Zamba“ in Berlin? Und nun noch zum Schauspieler und Verfasser von Theaterstücken: Da gibt es Stücke und Rollen für Menschen mit Behinderung (Nachrichten vom Grottenolm, das Kind in Medea, Auch ein Othello, Hermann und Benedikt, Hiob), in denen die gewollte Sinnvermittlung von Stück und Rolle stringent mit der wahrnehmbaren Behinderung auf der Bühne verbunden ist. Die zu vermittelnden Inhalte haben mit der Tatsache zu tun, dass der Rolleninhaber eine Behinderung hat. Schicksale, Anliegen, Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung werden dargestellt. - Wie unterscheiden sich aber die Reaktionen des Publikums und der Kritiker, wenn du als Schauspieler mit sehr schwerer Behinderung die Rolle eines so genannten „Nichtbehinderten“ spielst wie z. B. in der Tabori-Inszenierung von Becketts „Glückliche Tage“ oder in Salvatores „Stalin“ (beide: Münchner Kammerspiele)? Wird die von Autor, Regisseur und Schauspieler beabsichtigte Sinnvermittlung durch die Wahrnehmung der Behinderung gestört? Werden die Zuschauer - unter ihnen die Kritiker - irritiert durch die Behinderung? Konntest du Gewöhnungseffekte beobachten? Kann Behinderung heutzutage auf der Bühne überhaupt noch schockierend ablenken, wo doch Regisseure ihr Publikum mit Schocks aller Art vielleicht längst abgestumpft haben? Vielleicht findest du die Zeit, auf die eine oder andere Frage zu antworten? Sei herzlich gegrüßt! Dein Martin München, 30. August 2005 Lieber Martin, das Theater mit behinderten Menschen und durch sie lässt sich unter drei Aspekten betrachten: den therapeutischen Nutzen für den agierenden Künstler, die Effektivität in Bezug auf eine Bewusstseinsänderung beim Zuschauer, die Bereicherung der Literatur und der Theaterlandschaft durch alternative Interpretationsmöglichkeiten. Diese Abfolge ist nicht willkürlich gewählt. Sie spiegelt, zumindest was mich betrifft, einen Bewusstseinsprozess wider, der aber nicht so verstanden werden darf, als wären die Phasen in sich abgeschlossen und würden sich nicht gegenseitig beeinflussen. Immer wieder stellt man mir die Frage - und ich stelle sie mir auch selbst - „Warum geht P. R. auf die Bühne? “ Ist es Eitelkeit, Geltungsdrang, Exhibitionismus? Nach langer Überlegung bin ich zum vorläufigen Schluss gekommen, dass die Suche nach einer Ganzheit am Beginn „Theater darf viel …“ 57 VHN 1/ 2006 meiner Theaterarbeit stand. Leute, die mich nicht kennen, sehen in mir nur die äußere Erscheinung, krass formuliert: den Krüppel. Umgekehrt bin ich für jene, die mir nahe stehen, in erster Linie der kluge Kopf, der im Grunde als „Nicht-Behinderter“ gelten kann. In beiden Fällen fehlt das komplementäre Element, durch das ich erst der bin, der ich bin. Das Theater bietet nun die Möglichkeit, diese Einheit wieder sichtbar werden zu lassen. Das mag Therapie sein, wenn du so willst, aber wie bei so vielen Dingen auch ist solche Therapie nicht auf Menschen mit einer Behinderung begrenzt. Theater hat immer einen therapeutischen Wert, ob er nun bewusst angestrebt wird oder sich unbewusst, doch nicht weniger wirksam, in jeder künstlerischen Tätigkeit entfaltet. Was ist es anderes als Therapie, wenn mir meine nicht behinderten Kollegen sagen: „Es verlockt mich, in fremde Charaktere zu schlüpfen? “ Warum wollen sie das? Suchen nicht auch sie das völlig Andere, dasjenige, was ihnen zum Selbstbild abgeht? Schon bald erkannte ich, dass die Bühne ein effektives Mittel zur Bewusstseinsbildung sein kann. 1981 brachte die Abteilung „Behindertenprogramm“ der Münchner Volkshochschule das erste Stück mit authentischen Betroffenen auf einer subventionierten Bühne heraus, „Licht am Ende des Tunnels“. Der Erfolg war unerwartet. Theater ist der Ort des Schauens. Während man im täglichen Leben den Blick von behinderten Menschen eher abwendet, geht man ins Theater, um eine Aktion, aber auch um die Darsteller zu sehen. Wenn einer dieser Darsteller nun behindert ist, wird man unweigerlich gezwungen, sich auch mit seiner Behinderung auseinander zu setzen. Im ersten Augenblick mag dies Neugier oder Schockerlebnis sein. Doch mit fortschreitender Handlung, mit der Gewöhnung an den Anblick, wird dieser Anfangsimpuls im günstigsten Fall zu einer echten Verarbeitung führen. Wie viel davon nach dem Theaterbesuch übrig bleibt, hängt sicher vom jeweiligen Besucher ab. Auch die Frage der Übertragbarkeit auf das Alltagsleben wird von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Dass die Bühne zumindest die Chance besitzt, Einstellungen zu beeinflussen und gegebenenfalls ins Positive zu wenden, dürfte unbestritten sein. Dies aber bedingt eine sorgsame Auswahl der möglichen Rollen, die ein behinderter Darsteller akzeptieren kann. Es ist darauf zu achten, dass sich nicht etwa Klischees verfestigen und Vorurteile eine literarische Bestätigung erhalten. Ich hatte schon einige Jahre Bühnenerfahrung hinter mir, als ich erkannte, dass eine Betrachtung des Theaters ausschließlich unter dem Aspekt der Bewusstseinsänderung die Literatur in unangemessener Weise verkürzt. Literatur hat einen Wert in sich und ist mehr als nur Vehikel für gesellschaftspolitische Forderungen. Das heißt aber nicht, dass die Tatsache, dass ich ein behinderter Darsteller bin, keinen Einfluss auf die Sichtweise des Zuschauers hätte. Was würde es z. B. bedeuten, wenn Major Tellheim in Lessings „Minna von Barnhelm“ von einem „echten“ Verkrüppelten gespielt würde? Das Lustspiel erhielte sofort eine sehr bedrückende Realität. Die Bedenken des Kriegsinvaliden, sich dem schönen Mädchen zu nähern, wären keinesfalls mehr die Marotte eines uneinsichtigen Hagestolzes. Oder was geschähe, wenn Molières „Eingebildeter Kranker“ gar nicht so eingebildet wäre, wie dies ja tatsächlich im Fall des todkranken Dramatikers war? Die Komödie mutierte zu einer Tragikomödie. Noch spannender wird die Sichtweise, wenn man eine so genannte Nicht-Behinderten-Rolle mit einem Menschen mit Behinderung besetzt. Ich denke z. B. an mein Auftreten als Stalin oder als Hauptmann in Büchners „Woyzeck“. Man muss nicht jedes Stück gegen den Strich inszenieren. Aber mitunter öffnet die Darstellung durch einen behinderten Schauspieler Wege der Interpretation eines Textes, die sich üblicherweise nicht ohne weiteres anbieten. Gerade auf der Suche nach Aktualisierung könnte hier die Besetzung mit behinderten Akteuren zu einer wirklichen Bereicherung werden. Martin Th. Hahn, Peter Radtke 58 VHN 1/ 2006 Leider konnte ich die Probleme nur kurz anreißen, doch ich hoffe, ich habe dir mit meinen wenigen Ausführungen deutlich gemacht, welch ungeheuren Chancen ich in der Integration behinderter Menschen in den Theaterbetrieb sehe. Mit einem lieben Gruß in deine schwäbische Heimat dein Peter Dr. Martin Th. Hahn Universitätsprofessor i. R. Humboldt-Universität zu Berlin Hochbergstrasse 1 D-72501 Gammertingen E-Mail: Martin-Th.Hahn@t-online.de Peter Radtke Geschäftsführer und Leitender Redakteur der „Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien“ Bonner Platz 1/ V D-80803 München E-Mail: radtke@abm-medien.de „Theater darf viel …“ 59 VHN 1/ 2006
