eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Aktuelle Forschungsprojekte (1/06)

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2006
Von der Diagnose zur Entscheidung – Eine Analyse von Entscheidungen für das Austragen der Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose Down-Syndrom
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60 60 Von der Diagnose zur Entscheidung - Eine Analyse von Entscheidungen für das Austragen der Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose Down-Syndrom Marion Baldus Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. Ausgangslage Pränataldiagnostik (PND) hat sich als Routineuntersuchung in der Schwangerenvorsorge etabliert. Mit invasiven und nicht-invasiven Methoden zielt sie auf die Feststellung fötaler Defekte. Im Mittelpunkt des ausdifferenzierten Screenings steht dabei nach wie vor die Suche nach dem Down-Syndrom. Als Schlusspunkt einer mehrstufigen Diagnostik konfrontiert dieser Befund die zukünftigen Eltern mit der Alternative: Fortsetzung oder Abbruch der Schwangerschaft. Eine pränatale Therapie ist nicht möglich. Die Diagnostik, die hier erfolgt, schließt ein kuratives Handeln aus. Das Wissen um das Vorliegen einer Trisomie 21 kann zwar auch genutzt werden, um sich pränatal auf die Geburt eines Kindes mit Down- Syndrom vorzubereiten. In aller Regel führt es aber zu einer aktiven Beendigung der Schwangerschaft. Das Down-Syndrom stellt eine „gesellschaftlich akzeptierte Demarkationslinie“ (Maier 2000, 139) dar, die den Abbruch der Schwangerschaft als nahe liegend und vernünftig erscheinen lässt. Die durchgängig hohe Abbruchquote beinhaltet die Gefahr, nicht nur eine statistische Faktizität darzustellen, sondern den Charakter einer normativen Vorgabe anzunehmen, die den Blick auf die Handlungsalternative - das Austragen der Schwangerschaft - verstellt. Aus gesellschaftlicher Sicht besteht ein Interesse daran, die Inzidenz der Lebendgeburten von Kindern mit Down-Syndrom möglichst niedrig zu halten. Der selektive Charakter der Pränataldiagnostik vollzieht sich dabei über die als autonom bezeichneten Einzelentscheidungen, die in der Summe einen eugenischen Effekt haben. Die „soziale Funktion“ (Blumberg in Saxton 2000, 147) der selektiven Pränataldiagnostik wird auf diese Weise ohne staatlichen Zwang auf der Basis scheinbar freier Entscheidungen vollzogen. In einem Wechselverhältnis zwischen kollektiven Prozessen und privaten Entscheidungssituationen stellt sich die Selektion als eine logische Konsequenz der traditionsreichen Segregation und Exklusion behinderter Menschen dar (vgl. Clapton 2003, 541). Mit der „Ausbreitung der Logik des Marktes“ (Deppe-Wolfinger 2004, 253) nicht nur im Bereich der Pädagogik, sondern auch im Bereich der Reproduktion wird der unausgesprochene Selektionskonsens indirekt unterstützt. Kosten-Nutzen-Analysen kalkulieren mit der Wirtschaftlichkeit von Selektion und dienen als Argumentationsgrundlage für die Einführung immer früherer Screenings. Menschen mit Behinderungen tauchen in diesem Kontext ausschließlich als „Ballastexistenzen“ auf, die der Gesellschaft wirtschaftlich nichts nützen, sondern nur Kosten verursachen. Viel Geld verdient wird hingegen mit der Entwicklung, Vermarktung und Anwendung diagnostischer Tests; eine starke Lobby treibt den Ausbau dieses Marktes ständig voran und erschließt neue Zielgruppen. 60 Aktuelle Forschungsprojekte In dieser Rubrik stellt die VHN laufende Forschungsprojekte zu heilpädagogischen Fragestellungen in Kurzform vor. Für das Einholen weiterer Informationen durch interessierte Leserinnen und Leser geben die Autoren eine E-Mail-Adresse an. Wir bitten unsere Leserschaft um die Zusendung solcher Kurzberichte über laufende Forschungsprojekte. VHN, 75. Jg., S. 60 -63 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Untersuchungsgegenstand und Methode Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund erforscht die Studie die Subjektperspektive von insgesamt zehn Frauen, die sich nach der Diagnose Down-Syndrom entgegen dem gesellschaftlichen Mainstream für das Austragen der Schwangerschaft entschieden haben. Mit Hilfe retrospektiver narrativer Interviews wurde ihr subjektives Erleben während des Entscheidungsprozesses erhoben. Einflussfaktoren aus ihrer familiären und beruflichen Sozialisation, die Bedeutung ihrer reproduktiven Biografie, der Stellenwert ihrer ethisch-moralischen Wertorientierung sowie die Verfügbarmachung personaler und sozialer Ressourcen wurden in einer zweischrittigen Datenanalyse herausgearbeitet: Nach der Rekonstruktion zweier maximal kontrastierender Fallbeispiele wurden themenzentrierte Auswertungen im Sinne der grounded theory (Glaser/ Strauss 1967) durchgeführt. Bisherige Ergebnisse Das erste grundsätzliche Ergebnis der Datenanalyse weist den Entscheidungsfindungsprozess als eine hochkomplexe „Identitätsarbeit“ (Petzold 1991 a, 386ff) aus, bei der es darum geht, vor dem Hintergrund der persönlichen Biografie mit der anstehenden Entscheidung die Kohärenz der eigenen Identität nicht zu gefährden. Mit dem Rückbezug auf die biografisch gewachsene Lebenseinstellung, welche generelle Überzeugungen zum Wert des Lebens und zum Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen umfasst, versuchen die Frauen, Linien der Kontinuität zu ziehen und in Übereinstimmung mit ihren inneren Überzeugungen zu handeln. Im Entscheidungsprozess nimmt die Reflexion prägender Lebenserfahrungen einen entsprechend hohen Stellenwert ein. Der Erwerb sozialer Kompetenz im Umgang mit Menschen mit Behinderungen stellt dabei für die Mehrheit der Frauen einen zentralen Faktor dar: Durch das Aufwachsen mit einem behinderten Familienmitglied oder durch berufsbiografische Erfahrungen verfügen sie über spezifisches Erfahrungswissen, das sie im Entscheidungskontext mobilisieren. Als weitere Antezedenzmerkmale konnten herausgearbeitet werden: • eine vorbehaltlose Annahme der Schwangerschaft; • eine hohe emotionale Bedeutung dieser Schwangerschaft; • eine prinzipielle Ablehnung der Selektion durch PND; • eine anbieterinduzierte Anwendung der PND: Ein Großteil der Frauen ist erst durch die Macht der Routine in die PND-Spirale hineingeraten; • bei einem Großteil der Frauen eine frühzeitige Auseinandersetzung mit den Implikationen der PND und mit der Absenz kurativer Maßnahmen als systemimmanenter Teil der Problematik. Trotz dieser Antezedenzmerkmale stellt sich für jedes einzelne Paar die Diagnosemitteilung als eine krisenhafte Ausnahmesituation dar. Zentrale Irritationen in dieser Krise gehen dabei von leiblichen Entfremdungsprozessen und der vorübergehenden Bedrohung des Bindungsvorgangs zum Ungeborenen aus. Bei einigen Frauen steht die Entscheidung zwischenzeitlich auf der Spitze. Doch im Endeffekt gelangen alle Frauen zu demselben Kristallisationspunkt ihres Reflexionsprozesses: ihr zukünftiges Lebensglück mit der Durchführung eines Spätabbruchs stärker zu riskieren als mit der Entscheidung für das Kind. Eine wesentliche Leistung der Entscheidungsträgerinnen stellt ihre Fähigkeit dar, den gesellschaftlich und medizinisch definierten „Defizitkontext“ um das erwartete Kind in einen „Ressourcenkontext“ zu transformieren. Bei einer insgesamt positiven Selbstwirksamkeitserwartung gelingt es ihnen, personale und soziale Ressourcen um das kritische Lebensereignis herum so zu mobilisieren, dass Hoffnung auf eine gelingende Zukunft möglich wird. Eine zentrale Funktion bei dieser Transformation nimmt Aktuelle Forschungsprojekte 61 VHN 1/ 2006 dabei der Rückgriff auf eigenerlebte Erfahrungen (s. o.) sowie konkrete Begegnungen mit Familien mit einem Down-Syndrom-Kind ein. Der Druck, der dabei vom familiären Umfeld (besonders der Elterngeneration) und vom gesellschaftlichen Klima auf die Frauen ausgeht, ist teilweise massiv. Eine aktive Unterstützung und Begleitung der Entscheidung für das Kind stellt die Ausnahme dar. Verkrustete Haltungen werden allerdings nach der Geburt des Kindes oftmals revidiert. Als ein insgesamt positiver Nebeneffekt der PND kann die Vorverlagerung der Bewältigung des kritischen Lebensereignisses interpretiert werden. Die emotionale Annahme des Kindes mit dem Zeitpunkt der Geburt wird von den Frauen selbst im Rückblick als vorteilhaft erlebt. Aus Sicht der Sonderpädagogik stellen die Fallgeschichten der Frauen ein Plädoyer für eine inklusive Gesellschaft dar. Literaturübersicht und Literaturexpertise (2001) sowie weitere Informationen können nachgefragt werden bei: marion.baldus@gmx.de Effektivität von Diagnose- und Förderklassen Stephan Ellinger, Universität Würzburg Katja Koch, Universität Rostock Stand der Forschung Die Diagnose- und Förderklasse hat seit der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom März 1985 und den zugehörigen Richtlinien vom Januar 1986 im Anschluss an die Modellversuche „KEsT und „InteKiL“ sowohl hinsichtlich der Feststellung des speziellen Förderbedarfs als auch insbesondere zur Förderung der Rückschulung in die Regelschule „spätestens nach dem dritten Schulbesuchsjahr“ (KMB I 6, 1985, 55) ihren festen Platz im Bayerischen Fördersystem. Eckpfeiler des Konzeptes sind a) individuelle Förderung durch umfangreiche Diagnostik, b) Steigerung schulischer Leistungsfähigkeit durch besondere Förderung im taktil-kinästhetisch-vestibulären Wahrnehmungsbereich, d. h. Aktivierung des Lernens durch Körperwahrnehmung, c) Streckung des Lernstoffes der ersten beiden Regelschulklassen auf drei Jahre und d) Klassenmesszahlen von acht bis zehn Schüler/ innen und bis zu 10 zusätzliche Lehrerstunden in einer Klasse. Mittlerweile finden sich Diagnose- und Förderklassen auch in anderen Bundesländern (Niedersachsen, Brandenburg, Thüringen). Allerdings ist eine zunehmende Zahl von Modellversuchen zur „flexiblen Schuleingangsphase“ zu beobachten, die im gleichen Zeitraum (Schulbesuchsjahr 1 - 3), nicht aber mit der gleichen Konzeption antreten (Berlin 2004) und z. T. überzeugende Ergebnisse zeitigen (Berthold/ Carle 2005). Die wenigen empirischen Untersuchungen zu den Effekten der Diagnose- und Förderklassen haben sowohl aus quantitativer als auch aus qualitativer Sicht eher nachdenklich stimmende Ergebnisse erbracht. Breitenbach/ Lehner (1999) ermittelten in Würzburg Stadt für die Jahrgänge 1986/ 87 bis 1994/ 95 knapp 24 %, Bartsch/ Tischer (2005) an einer ausgewählten Schule zwischen 20 und 40 % Rückschulungsquote an die Regelschule. Brandl (1995) konnte in einer kleinen qualitativen Studie die Lehrer rückgeführter Schülerinnen und Schüler nach deren Sozial-, Lern- und Arbeitsverhalten und dem Leistungsstand in den rückführungsrelevanten Fächern Lesen, Schreiben, Rechnen und Heimat- und Sachkunde befragen und beschreibt einen erheblichen Förderbedarf der betreffenden Schülerinnen und Schüler. Fragestellung Wie lässt sich die Effektivität der Diagnose- und Förderklassen quantitativ anhand der Rückschulungsquoten der Jahrgänge seit 1995/ 96 und qualitativ durch Befragung der aufnehmenden Regelschullehrer/ innen rückgeführter Diagnose- und Förderklassenschüler/ innen darstellen? Ergeben sich Hinweise auf konzeptionelle Schwachstellen, die im Rahmen aktueller Modellversuche behoben werden? Aktuelle Forschungsprojekte 62 VHN 1/ 2006 Aktuelle Forschungsprojekte 63 VHN 1/ 2006 Forschungsdesign Die Untersuchung ist in zwei Phasen unterteilt, die jeweils durch aktive Mitarbeit von Studierenden eines Seminars „Diagnose- und Förderklassen“ an der Universität Würzburg unterstützt werden. Laufzeit der Untersuchung: Mai 2005 bis Mai 2006. Phase I (quantitativ): Zunächst werden an den Würzburger Förderschulen die Akten der Diagnose- und Förderklassen Jahrgänge 1994/ 95 bis 2004/ 05 hinsichtlich der Übertritte an Regelschulen oder andere Sonderschulen ausgewertet. Hieraus ergibt sich die aktuelle Rückschulungsquote an Regelschulen. Phase II (qualitativ): Die festgestellten aufnehmenden Regelschulen werden aufgesucht. Die Lehrkräfte der aktuell rückgeschulten ehemaligen DiaFö-Schüler/ innen (Schuljahr 2004/ 05) werden hinsichtlich deren Sozial-, Lern- und Arbeitsverhalten und ihrem Leistungsstand in den rückführungsrelevanten Fächern Lesen, Schreiben, Rechnen und Heimat- und Sachkunde befragt. Konzeption für eine flexible Schulanfangsphase In der Ergebnisdiskussion sollen ermittelte Daten vor dem Hintergrund aktueller Modellversuche zu Alternativkonzepten aus anderen Bundesländern erörtert werden. Für Rückfragen und Anregungen stehen zur Verfügung: stephan.ellinger@mail.uni-wuerz burg.de; katja.koch@uni-rostock.de