eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete75/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
5_075_2006_4/5_075_2006_4.pdf101
2006
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Geschlechterinszenierungen in der Sonderschule

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2006
Vera Moser
Mathias Roll
Carola Seidel
Jungen sind in den bundesdeutschen Sonderschulen für Lernbehinderte überreprä¬sentiert. Der Aufsatz erörtert diesbezügliche Ursachen und analysiert mittels eines ethnografischen Zugangs Geschlechterinszenierungen von Jungen und Mädchen im Schulalltag einer Sonderschule für Lernbehinderte.
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305 1 Geschlecht als Risiko? Geschlechterinszenierungen in der Sonderschule - diese Fragestellung steht mindestens seit der Publikation von Annedore Prengel „Was ist besonders an der Situation der Sonderschülerinnen? “ von 1982 im Raum, ohne dass hierzu bereits ausreichendes Forschungsmaterial vorliegt. Bislang gibt es statistische Erkenntnisse über die überproportionale Präsenz von Jungen in Sonderschulen (eklatant im Bereich der Erziehungshilfeschulen und im Bereich der Sonderschulen für Lernbehinderte, vgl. zuletzt Schildmann 2006). Doch weiterhin orientiert sich die Begründungssuche entlang der klassischen Theoreme von Prengel (1982) und Warzecha (1996), in denen ein eher überangepasstes Verhalten der Mädchen in den Regelschulen angenommen wird sowie die Tendenz, Aggressionen gegen sich selbst zu richten, so dass Verhaltensauffälligkeiten eher unauffällig bleiben und den schulischen Alltag nicht dauerhaft stören. Darüber hinaus mahnte Prengel an, dass die Struktur der Lernhilfeschule insbesondere Geschlechterstereotypien fixiere. Diesen Thesen wird in den Arbeiten von Carola Seidel (2005) und Mathias Roll (2004) nachgegangen 1 . Dabei nimmt Mathias Roll die unterschiedlichen Schulleistungen von Mädchen und Jungen in den Blick und stellt aus dieser Sicht Überlegungen zur Überrepräsentanz männlicher Sonderschüler an Schulen für Lernhilfe an. Carola Seidel untersucht anschließend entlang von ethnografisch orientierten Beobachtungen Geschlechterinszenierungen im Alltag einer Lernhilfeschule. Ausgangsüberlegung beider Arbeiten ist, dass die Inszenierung von Geschlecht auch ein Risiko darstellt, insbesondere dann, wenn dieses mit benachteiligten sozialen Milieus gepaart ist. 2 Geschlecht und Schulversagen Im Jahr 2002 besuchten 90.200 Schülerinnen und 140.900 Schüler eine Schule für Lernbehinderte in Deutschland (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2004). Dies entspricht einem Jungenanteil von 61 %. Die Schülerschaft der Schule für Lernbehinderte lässt sich insofern als Schulversager bezeichnen, als sie sich aus Schülern und Schülerinnen VHN, 75. Jg., S. 305 -316 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Geschlechterinszenierungen in der Sonderschule Vera Moser, Mathias Roll, Carola Seidel Justus-Liebig-Universität Gießen ■ Zusammenfassung: Jungen sind in den bundesdeutschen Sonderschulen für Lernbehinderte überrepräsentiert. Der Aufsatz erörtert diesbezügliche Ursachen und analysiert mittels eines ethnografischen Zugangs Geschlechterinszenierungen von Jungen und Mädchen im Schulalltag einer Sonderschule für Lernbehinderte. Schlüsselbegriffe: Geschlecht, Sonderschule ■ Gender-Construction in German Schools for Children with Learning Disabilities Summary: Boys are over-represented in German schools for children with learning disabilities. The article points out some significant reasons for this problem and analyses - within an ethnographic research project - gender-constructions by boys and girls in this type of schools. Keywords: Gender, schools for special education Fachbeitrag zusammensetzt, welche die Regelschule aufgrund unzureichender Schulleistungen verlassen mussten. Bereits vor Schuleintritt deutet sich eine bessere Ausgangsposition der Mädchen für eine erfolgreiche Schullaufbahn an. Sie sind den Jungen auf allen Schulreife-Variablen überlegen, und dem entspricht der höhere Anteil der Mädchen an den vorzeitig Eingeschulten mit über 60 %. In der Gruppe der von der Einschulung zurückgestellten Kinder sind Jungen in ähnlich hohem Maße überrepräsentiert (Tent 1998). Im weiteren Schulverlauf weisen Jungen dann in allen Schulformen einen deutlich höheren Sitzenbleiberanteil auf als ihre Mitschülerinnen, und auch in der Gruppe der Schulabgänger ohne Schulabschluss überwiegen eindeutig männliche Schüler mit einem Anteil von fast zwei Dritteln (vgl. Hildeschmidt 1995). 3 Geschlechterunterschiede in der Schulleistung Dönhoff und Itzfeldt haben in einer Untersuchung die Schulleistungen von Jungen und Mädchen an der Schule für Lernbehinderte miteinander verglichen. Dabei zeigte sich, dass die Durchschnittswerte der Jungen in allen drei überprüften Bereichen (Lesen, Rechtschreiben, Rechnen) besser waren als die ihrer Mitschülerinnen (Dönhoff/ Itzfeldt 1976). Diese eindeutigen Unterschiede weisen darauf hin, dass die Schulleistung nicht das einzige Kriterium für eine Sonderschulzuweisung zu sein scheint. Welche Befunde bezüglich der Geschlechterunterschiede in den Schulleistungen haben die beiden groß angelegten Schulleistungsvergleichsuntersuchungen PISA (Programme for International Student Assessment), durchgeführt im 9. Schuljahr (Stanat/ Kunter 2003), und IGLU (Internationale Grundschul-Lese- Untersuchung), durchgeführt im 4. Schuljahr (Bos u. a. 2003), ergeben, und was lässt sich daraus ableiten für das Überwiegen männlicher Sonderschüler? In der PISA-Studie zeigen sich sehr ausgeprägte Geschlechterunterschiede im Lesen, wobei der durchschnittliche Testwert der Mädchen in allen Teilnehmerstaaten signifikant höher ist als der Wert der Jungen. Auch bei IGLU weisen die Mädchen bessere Durchschnittswerte auf als die Jungen, allerdings sind sie gegen Ende der Grundschulzeit deutlich schwächer ausgeprägt. In der IGLU-Studie wurde ebenfalls großer Wert auf eine Analyse der Rechtschreibleistung gelegt. Auch diesbezüglich unterschieden sich Jungen und Mädchen signifikant bezüglich ihrer Durchschnittswerte. So waren die Jungen in den Kompetenzstufen der Leistungsschwächeren über- und in den Kompetenzstufen der Leistungsstärkeren unterrepräsentiert. Da sowohl Leseals auch Rechtschreibleistung sehr entscheidend für die Weichenstellung zwischen Schulerfolg und Schulversagen sind, könnte das durchschnittlich schlechtere Abschneiden der Jungen in diesem Bereich im Allgemeinen und der größere Anteil in der Kompetenzstufe der Leistungsschwächeren im Besonderen für die Überrepräsentierung der Jungen an der Schule für Lernbehinderte von Bedeutung sein. In den Analysen zur PISA-Studie werden zwei mögliche Erklärungsansätze für das schlechtere Abschneiden der Jungen im verbalen Bereich genannt: Zum einen sind „Mädchen den Jungen bereits in der frühen Kindheit im Hinblick auf verbale Kompetenzen tendenziell leicht überlegen“ (Stanat/ Kunter 2003, 213), und diese Vorteile im sprachlichen Bereich manifestieren sich im Verlauf der Grundschulzeit im Lesen und in der Rechtschreibleistung. Als zweiter Ansatz wird darauf verwiesen, dass die Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern im Lesen abhängig sind vom gewählten Textprofil. Nach Brügelmann lässt sich eine Abhängigkeit herstellen zwischen der Rechtschreibleistung von Jungen und Mädchen und einem jeweils geschlechtsspezifisch geprägten Wortschatz. Demzufolge sei die Rechtschreibleistung der Jungen auch deswegen erheblich schlechter Vera Moser et al. 306 VHN 4/ 2006 als die der Mädchen, weil in der Grundschule ein Wortschatz Anwendung finde, der eher dem Wortschatz der Mädchen entspreche als dem der Jungen. Er formuliert dies wie folgt: „Jungen lesen und schreiben anders (und anderes) als Mädchen, und dies bedeutet häufig, dass sie schlechtere Leistungen erbringen“ (Brügelmann 1994, 36). Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass sich die Jungen bezüglich ihrer Leistungen in Mathematik in beiden Studien den Mädchen überlegen zeigten, dieser Vorsprung jedoch deutlich schwächer ausgeprägt war als der Vorsprung der Mädchen im verbalen Bereich. Die Vorteile der Jungen in Mathematik scheinen die Nachteile im Lesen und Rechtschreiben nicht ansatzweise kompensieren zu können. 4 Schulleistungsrelevante Bedingungsfaktoren Die Schulleistung wird durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren beeinflusst. Hier sollen kurz die Bedingungsfaktoren Intelligenz sowie der Komplex Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten Erwähnung finden, da sie mögliche Erklärungsansätze für den größeren Jungenanteil an der Schule für Lernbehinderte bieten. Nach wie vor gilt Intelligenz als eine der wichtigsten Determinanten der Schulleistung. Testverfahren zur Messung der sogenannten „allgemeinen Intelligenz“ sind so konstruiert, dass männliche und weibliche Probanden sehr ähnliche Mittelwerte aufweisen. Ein erheblicher geschlechtsspezifischer Unterschied zeigt sich jedoch in der Varianz der Ergebnisse. Beim männlichen Geschlecht gibt es erheblich mehr Personen mit extrem hohen bzw. extrem niedrigen Intelligenzwerten. Diese Varianzunterschiede spielen eine Rolle dafür, dass Jungen sowohl in der Gruppe der Hochbegabten als auch in der Gruppe der Lernbehinderten überrepräsentiert sind (vgl. Breitenbach 2006). In den verschiedenen Teilbereichen der allgemeinen Intelligenz zeigen sich außerdem Geschlechterunterschiede, die denen in der Schulleistung sehr ähnlich sind. Demnach sind Mädchen im verbalen Bereich und Jungen eher im abstrakten und räumlichen Denken im Vorteil. In der Untersuchung von Dönhoff und Itzfeldt (1976) zeigten die Mädchen im Durchschnitt signifikant niedrigere Intelligenzwerte als die Jungen (ebd.). Dabei handelt es sich nach Schröder um eine „oft belegte Tatsache, dass die lernbehinderten Jungen - ebenso über Jahrzehnte konstant wie die Überrepräsentierung - im Durchschnitt höhere Intelligenzwerte aufweisen“ (Schröder 2000, 104). Demzufolge können Mädchen mit einem niedrigen Intelligenzniveau offensichtlich eher einer Überweisung an die Sonderschule entgehen als gleich (schwach) intelligente Jungen. Ein zweiter wichtiger Komplex, der für die Schulleistung von Bedeutung ist, ist der Bereich Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten. Vom ersten Schultag an fällt es Jungen schwerer, den Verhaltensanforderungen der Schule gerecht zu werden. Sie drängen sich häufiger in den Vordergrund, stören häufiger den Unterricht und bekommen folglich auch schlechtere Noten in Betragen, Fleiß und Beteiligung am Unterricht. Dabei profitieren sie noch vom unterrichtsfördernden und sozial kompetenteren Verhalten der Mädchen (vgl. Tiedemann 1980). Das auffälligere Verhalten der Jungen in der Schule führt dazu, dass ihre Schulleistungen schlechter beurteilt werden als die der Mädchen, und die Kombination aus schwacher Schulleistung und auffälligem Verhalten hat häufiger eine Überweisung in die Sonderschule zur Folge. Nicht alleine die Schulleistung ist also ausschlaggebend, sondern Lehrer berücksichtigen bei Umschulungsentscheidungen durchaus auch die Verhaltensweisen des jeweiligen Schülers. Schröder spricht diesbezüglich von dem Gesichtspunkt der „Erträglichkeit“ für Lehrkraft und Unterricht, die häufig zugunsten der Mädchen ausfällt (Schröder 2000, 104). Geschlechterinszenierungen in der Sonderschule 307 VHN 4/ 2006 5 Biologisch bedingte Einflüsse Grundsätzlich lassen sich alle beobachtbaren Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen auf zwei Ursachen zurückführen: Entweder sind sie biologisch bedingt, also von Natur aus so gegeben, oder sie sind auf psychosoziale Ursachen zurückzuführen, was aus pädagogischer Sicht von besonderer Bedeutung ist, da in diesem Fall eine Einwirkung von außen möglich wäre. In nahezu allen Bereichen wirken jedoch biologische Faktoren und Umwelteinflüsse gemeinsam. Fest steht, dass die unterschiedliche genetische Ausstattung von Jungen und Mädchen und die von stärkeren Unterbrechungen und Veränderungen gekennzeichnete männliche Embryonalentwicklung dafür verantwortlich sind, dass mehr Jungen als Mädchen mit einer Behinderung geboren werden und folglich Jungen an allen Sonderschulformen in der Mehrheit sind. Vor allem die problematischere Embryonalentwicklung führt auch dazu, dass die biologische Entwicklung bei den Jungen langsamer verläuft als bei den Mädchen. Das langsamere Reifungstempo der Jungen setzt sich bis zum Schulalter fort, wodurch sich erklären lässt, warum die Mädchen bei der Einschulung in allen schulleistungsrelevanten Variablen überlegen sind. Insofern lässt sich in dem verlangsamten Entwicklungstempo der Jungen ein Faktor erkennen, der daran beteiligt ist, dass sie mit schlechteren Voraussetzungen zur Schule kommen und aufgrund dessen in der Regelschule häufiger versagen und an eine Sonderschule überwiesen werden (vgl. Oerter 1995). Auch die Leistungsdifferenzen im räumlichen Vorstellungsvermögen und im verbalen Bereich werden in biologischen Ansätzen durch Unterschiede in der Spezialisierung des Gehirns („Lateralisierung“) zu erklären versucht (Stanat/ Kunter 2003). Für den Bereich der Geschlechterunterschiede im Verhalten gibt es ebenfalls biologische Ansätze, die z. B. die Wirkung von Hormonen, vor allem von Testosteron, mit dem häufiger aggressiven Verhalten der Jungen in Verbindung zu setzen versuchen. Diese Ansätze sind jedoch äußerst umstritten (vgl. Dittmann 1992). 6 Geschlechtsspezifische Sozialisation als Einflussfaktor Der biologischen Bedingtheit von Geschlechterunterschieden stehen soziale Faktoren als Gegenpol gegenüber. Unter „Sozialisation“ wird „die Gesamtheit aller Prozesse verstanden, in deren Verlauf der Mensch ,sozial‘ und damit Teil der Gesellschaft wird“ (Rohrmann/ Thoma 1998, 103). Bei diesem Prozess wirken von Geburt an zahlreiche äußere Einflüsse auf jeden Menschen ein. Zum einen sind dies bewusste Bemühungen von Eltern und pädagogischen Einrichtungen (Kindergärten, Schulen), die Kinder zu erziehen, aber auch andere Kinder (Peer-Group), die Medien oder die Gesellschaft als Ganzes wirken auf das Sozial-Werden ein. Und schließlich gestaltet das Individuum selbst aktiv diesen Prozess im Dialog mit seiner Umwelt. An welchen Stellen lassen sich Auswirkungen bzw. ein negativer Einfluss auf die schulische Entwicklung der Jungen aus der geschlechtsspezifischen Sozialisation durch die verschiedenen Sozialisationsinstanzen ableiten? Zahlreiche Erklärungsansätze (u. a. Möller 1997; Röhner 1991) versuchen vor allem in der frühen Kindheit Umstände auszumachen, die dafür verantwortlich sind, dass Jungen häufiger zu Verhaltensauffälligkeiten neigen als Mädchen. So wird zum Beispiel die Annahme, dass Jungen sich beim Geschlechtsrollenerwerb von ihrer primären Kontaktperson - der Mutter - abgrenzen müssen, um sich mit dem eigenen Geschlecht identifizieren zu können, häufig als Nachteil und Risikofaktor für das seelische Gleichgewicht und die weitere Entwicklung der Jungen betrachtet und als eine mögliche Ursache für verstärkt aggressives Verhalten bewertet. Der Geschlechtsrollenerwerb wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die Suche nach männlichen Vorbildern nur selten von Erfolg Vera Moser et al. 308 VHN 4/ 2006 gekrönt ist, da Männer sowohl beim Erziehungsprozess in der Familie als auch in Kindergarten und Grundschule nur sehr selten anzutreffen sind. Um dennoch die eigene Geschlechtsrolle aufbauen zu können, neigen Jungen zu zwei Strategien: Die erste besteht darin, dass sie das Verhalten der sie umgebenden Frauen beobachten und als weibliche und folglich nicht-männliche Verhaltensweisen speichern. Der Junge versucht sich dann männlich zu verhalten, indem er sich nicht verhält wie Frauen, er bestimmt sein Geschlecht als „Nicht-Nicht-Mann“ in Form einer doppelten Negation (vgl. Rohrmann/ Thoma 1998). Als zweite Strategie neigen Jungen dazu (aus Mangel an „greifbaren“ Männern), männlichen Vorbildern aus den Medien nachzueifern, die in der Regel sehr stark geschlechtsstereotypes Verhalten repräsentieren. Eine weitere Erschwernis der männlichen Sozialisation stellt der Überlegenheitsimperativ dar. Nach Buschmann besteht „Forschungskonsens darüber, dass die kulturell vermittelte Auffassung von Geschlechtsidentität so etwas wie einen männlichen Überlegenheitsimperativ transportiert“ (Buschmann 1994, 196). Der Überlegenheitsimperativ ist dabei erfahrungsinkonsistent und führt dazu, dass Jungen alle Erfahrungen verdrängen oder umbewerten müssen, die sie an ihrer grundsätzlichen Überlegenheit zweifeln lassen (vgl. Röhner 1991). In Bezug auf Schule werden von Jungen prinzipiell bessere Leistungen sowohl von Eltern als auch von der Lehrerschaft erwartet (Link 1995). Diese Erwartungen stützen die Jungen zwar in ihrem Überlegenheitsglauben, kollidieren jedoch mit ihren schlechteren Schulleistungen. Um dem Überlegenheitsimperativ dennoch gerecht zu werden, setzen sich Jungen durch auffälliges Verhalten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (vgl. Zieske 1996). Die Institution Schule scheint sich dieser Problematik gar nicht oder nur unzureichend zu stellen. Vielmehr verstärkt Schule im Allgemeinen und koedukativer Unterricht im Besonderen die oben beschriebenen Verhaltensstereotype der Jungen. Ein weiterer Zusammenhang lässt sich feststellen zwischen sozial benachteiligter Lebenslage und übertrieben geschlechtsstereotypem Verhalten von Jungen. Dieses Verhalten führt im schulischen Umfeld zu einer schlechteren Bewertung der Schulleistungen, und aufgrund dessen werden diese Schüler eher einer Sonderschule zugeführt als verhaltenskonforme Schüler. Insofern hat die Zugehörigkeit zu einem sozial schwachen Umfeld bei Mädchen und Jungen möglicherweise einen unterschiedlich stark ausgeprägten Einfluss auf den späteren Schulerfolg (vgl. Schildmann 2002). 7 Geschlecht und soziale Lage Wie ein bestimmter Habitus eines sozial benachteiligten Milieus und der Geschlechtshabitus die schulischen Chancen von Schüler/ innen beeinflussen, zeigte Willis bereits in seiner Studie von 1977. Er untersuchte die Handlungen von männlichen Arbeiterjugendlichen in der Schule in Bezug auf ihre soziale Situation und ihr Geschlecht. Dabei berücksichtigte er deren Lebenszusammenhang in einer englischen Industriestadt und verknüpfte somit Bedingungen des Milieus mit interaktionistischen Elementen. Willis stellte dabei die Verhaltensstrategien der Jungen im Unterricht dar, die sich nicht durch Anpassung an die Schule und deren Ansprüche auszeichneten, sondern sich als permanenter Widerstand und als provozierte Konflikte gegenüber den Lehrern äußerten. Ebenso erwies sich der Kontakt zu Mitschülerinnen und potenziellen Liebesobjekten als fortlaufende Aktualisierung der hierarchischen Geschlechterdifferenz. Das Verhalten der Schüler befand sich dabei zumeist an der Grenze zu weitreichenden institutionellen Sanktionsmaßnahmen (vgl. Willis 1979; Tillmann 2004, 186). Zwei zentrale Bestandteile dieses Verhaltens sind die Ablehnung der schulischen Autorität und die chauvinistische Abgrenzung zu Frauen durch die dargestellte männliche Überlegenheit. Eine Gruppe, „gegen die die ‚lads‘ sich ex- Geschlechterinszenierungen in der Sonderschule 309 VHN 4/ 2006 klusiv definieren, an denen sie ihr Überlegenheitsgefühl ausleben, sind Mädchen [...]“ (Willis 1979, 73). Ihr Verhalten dient der Distanzierung und Differenzierung von dem Anderen und hat Willis zufolge identitätsstabilisierende Wirkung (vgl. 1979, 73ff). Durch das Ablehnen der Schule und ihrer Strukturen erhalten die Schüler wenige Chancen, ihr angehöriges Milieu zu verlassen. Dazu kommt, dass sie dies eigenen Angaben zufolge nicht anstreben. Die Jungen dramatisieren dementsprechend Geschlecht, um sich in der als weiblich abgelehnten Institution Schule zu kontrastieren. Die Autorität der Schule wird als weiblich definiert, und die Handlungen der Schüler sind als Widerstand gegen die als weiblich definierten Anforderungen der Schule zu betrachten (vgl. Hagemann- White 1984, 67). Die in der Schule geforderten Verhaltensweisen wie Einordnung in eine Klasse, Unterordnung unter die Autorität der Lehrer/ innen ebenso wie die Grundvoraussetzungen für zu erlernende Fähigkeiten, z. B. die feinmotorischen für den Schrifterwerb, sind solche, die eher durch mädchentypische Beschäftigungen erworben werden. Mädchen erreichen bessere Leistungen, vor allem durch „langweilige und undurchschaubare Übungen in Rechtschreibung“ (1984, 68). Durch Anpassung und Abhängigkeit gelangen Mädchen eher zu schulischem Erfolg als Jungen und entgehen der Zuweisung an eine Sonderschule. Die subjektiv als Zwänge empfundenen Anforderungen der Schule führen dazu, dass die Handlungsstrukturen der Jungen nicht mit dem geforderten Verhalten als Schüler in Zusammenhang mit den Zielen der Schule stehen. So verarbeiten die Schüler die subjektiv empfundenen Zwänge der Schule durch aktives Handeln. Hagemann-White betont den Einfluss des Milieus auf die darin lebenden Kinder: Die Bedingungen eines Milieus sind verantwortlich dafür, ob Kinder dazu gebracht werden, die eher dem weiblichen Stereotyp entsprechende Anpassung an die Schule zu leisten, um in der Institution lernen zu können. Dies gelingt dem traditionellen „Mittelschichtsohn“ eher als dem „Arbeitersohn“, der weniger bzw. andere Voraussetzungen mitbringt und zusätzlich durch die Aneignung von subkulturspezifischer traditioneller und eher aggressiver Männlichkeit seine öffentliche Bestätigung erlangt (vgl. Hagemann- White 1984). Schule ist mit ihren Themen und geforderten Verhaltensweisen „mittelschichtorientiert“. Die Aneignung des schulisch vermittelten kulturellen Erbes ist an Fähigkeiten gebunden, die milieuspezifisch unterschiedlich verteilt sind. Nicht alle Mitglieder einer Gesellschaft besitzen gleichermaßen den für die Entschlüsselung der symbolischen Güter (z.B. Zugang zu Bildungsangeboten) notwendigen Code. Im Habitus manifestiert sich neben diesen Fähigkeiten auch die Einstellung gegenüber der Schule und führt so zu Benachteiligungen für bestimmte Milieuangehörige (vgl. Lener 1999). Es überrascht somit wenig, dass Wocken in seiner Untersuchung einen eklatanten Mangel an sozialen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen für das Milieu von Sonderschüler/ innen feststellen kann (Wocken 2000, 498ff). Den Jungen sind außerdem „die Requisiten der Männerrolle [...] oft vertrauter, auch in der Körpersprache sitzt die Rolle besser, sie bietet daher eine Chance, Macht und Status innerhalb einer Klasse zu erlangen“ (Hagemann- White 1984, 68). Es erscheint paradox, dass Jungen trotz bestehender sprachlicher Bevorzugung und vielfältigeren zugestandenen interessanten Tätigkeitsspektren (z. B. beruflichen) in Schulbüchern (vgl. Hunze 2003, 76ff) sowie dem vielfach belegten höheren Aufmerksamkeitsanteil durch Lehrer/ innen im Unterricht (vgl. z. B. Frasch/ Wagner 1982; Horstkemper 1995) vom Gewinn des Schulbesuchs erst überzeugt werden müssen, während bei Mädchen davon ausgegangen wird, dass sie für die geforderten Verhaltensweisen nicht besonders motiviert werden müssen. Jungen eignen sich demnach nur mühsam weiblich codierte Verhaltensweisen an, die ihnen später Vorteile in der Schule bringen werden, während Mädchen die nachschulisch gewinnträchtigeren männlichen Durchsetzungs- Vera Moser et al. 310 VHN 4/ 2006 mechanismen (Unabhängigkeit, Wettbewerbsfähigkeit, Originalität, mathematisch-naturwissenschaftliches Denken) kaum erlernen (vgl. Hageman-White 1984, 68f). Somit erfahren Mädchen im nachschulischen Bereich Nachteile. Die Schule wirkt insofern als „kompensatorische Einrichtung“ für Jungen, die zusätzlich dazu überredet werden, das zu erlernen, was ihnen nicht „gegeben“ ist. Für Mädchen allerdings scheint diese Funktion nicht bereitzustehen (vgl. ebd., 69f). Als entscheidendes Faktum für die pädagogische Praxis sieht Wocken demnach die Gewissheit, dass Schüler/ innen der Lernhilfeschule ihrer Herkunft nach und auch in ihrer Zukunft „am Rande der Normalität“ verortet werden können (vgl. Wocken 2000, 502). Willand (2000) beschreibt - wie bereits Hiller (1989) - das Problem der Schule damit, dass die Jugendlichen aus deprivierten Lebenswelten mit völlig anderen Erfahrungen, Problemen und Orientierungen konfrontiert sind, die durch die Schule, die sie besuchen, nicht repräsentiert werden. Schule wird für diese Jugendlichen eher als Belastung empfunden und nicht als ein auf sie zugeschnittenes Angebot, das ihnen helfen könnte, die schwierige Situation infolge der Verschärfung der Arbeitsmarktlage sowie allgemeiner gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen zu bewältigen (vgl. Willand 2000, 210). 8 Geschlechterinszenierungen in der Lernhilfe-Schule - Ethnografische Befunde Die im Rahmen der Untersuchung von Carola Seidel durchgeführte Beobachtung orientiert sich an den ethnografischen Schulstudien von Güting (2004) und Faulstich-Wieland u. a. (2004), die als die ersten Untersuchungen zu Geschlechtskonstruktionsprozessen im Unterricht 2 im schulischen Zusammenhang betrachtet werden können. Hier stehen nicht die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen im Mittelpunkt, sondern der Konstruktionsprozess von Geschlecht und damit die Frage, durch welche Mittel und welche Handlungen sich Individuen selbst zu einem männlichen oder einem weiblichen Individuum machen, in welchen Zusammenhängen diese Handlungen vollzogen werden und Geschlecht dadurch in Interaktionen, optischen Vergegenwärtigungen, Antwortinszenierungen etc. hergestellt wird. Die hier vorgelegte Beobachtung soll als Annäherung an das Thema verstanden werden und erstreckt sich über einen Zeitraum von vier Tagen. Beobachtete Gruppe ist eine Klasse an einer Schule für Lernhilfe (mit insgesamt 130 Schüler/ innen). Zu dieser Klasse gehören sieben Jungen und vier Mädchen, die Altersgruppe liegt zwischen 14 und 15 Jahren. Die Schüler/ innen befinden sich im 7. und 8. Schulbesuchsjahr. Im Rahmen dieser kleinen Studie wird sich die Interpretation der Beobachtung auf einige ausgewählte Themenbereiche der Geschlechtsinszenierung beziehen. Dies sind im Einzelnen die Bereiche der Inszenierung des Geschlechts durch den Körper, die Inszenierung von Männlichkeit sowie sexualisierende Anspielungen 3 . 8.1 Inszenierung durch den Körper Der Körper kann als ein situationsübergreifendes Moment verstanden werden, er dient mit seinen Gestaltungsmöglichkeiten als permanenter Hintergrund für die Inszenierung des Geschlechts (Haare, Kleidung, Bewegung, Gestik, Schminkpraktiken). „Der Körper erlangt so eine sichtbare Evidenz unabhängig davon, ob oder wie die Beteiligten in der Interaktion in irgendeiner Weise aktiv handeln“ (Faulstich-Wieland u. a. 2004, 107). Die Mädchen der beobachteten Klasse sind bis auf eines alle geschminkt. Die Jungen sind nicht geschminkt. Die Kleidung der Mädchen ist sehr körperbetont, im Gegensatz zu den weiten Hosen und Pullovern, welche fast ausschließlich von Jungen getragen werden. Es scheint Kleidung zu geben, die für beide Geschlechter Geschlechterinszenierungen in der Sonderschule 311 VHN 4/ 2006 zulässig ist: Pullover mit einem Markennamenaufdruck. Allerdings sind in der ganzen Schule nur wenige Mädchen aufgefallen, die diese Art Pullover tragen, dagegen vielfach mehr Jungen. Die Mädchen in der beobachteten Klasse trugen keine Pullover dieser Art. Die Kleidung der Schüler/ innen ist klar als weibliche oder männliche Kleidung unterscheidbar. 8.2 Inszenierung von Männlichkeit In den folgenden Interaktionen wird durch soziale Praxis Männlichkeit hergestellt. Dies geschieht durch dynamische Aushandlungsprozesse, die interaktiv und situativ bestimmte Formen von Männlichkeit herstellen. Meistens geht es darum, hegemoniale Männlichkeit zu inszenieren. Sascha schneidet nach Aufforderung der Lehrerin den Kuchen in Stücke. Sebastian: „Sascha, willst du mich heiraten? “ Sascha: „Ich geb’ dir gleich! “ und holt kurz mit dem Messer aus (Mi/ 9). Die hier ausgeführte Handlung bezieht sich durch das Entschlüsseln einer weiblichen Praktik auf eine symbolische weibliche Verhaltensschablone (Küchenarbeit = Hausarbeit = Reproduktionsbereich = weiblich). Die Äußerung von Sebastians Heiratswunsch ist eine evozierende Praktik, durch die er geschlechtliche Differenz herstellt. Sascha wird somit von Sebastian der weiblichen Seite zugeordnet. Durch diese situative Infragestellung seiner Geschlechtsidentität bzw. seiner Zugehörigkeit zum Männlichen ordnet Sebastian ihn seiner eigenen männlichen Darstellung unter. Saschas Androhung von Gewalt könnte als eine Reaktion auf diese Herabsetzung betrachtet werden. Auf die Frage der Lehrerin nach dem nächsten Fach antwortet Jan: „Wir machen gleich Sport! “ [Anm.: Es geht zum Schwimmunterricht] Sascha: „Wassergymnastik! “ Paddy: „… Wassergeburt! “ Tarek: „Missgeburt! “ Andi: „Fischgeburt! “ Alle Beteiligten lachen (Do/ 10). Hier kann man gut sehen, wie die Jungen komplizenhafte Männlichkeit herstellen. Durch diese Assoziationskette beziehen sie sich auf ihre gemeinsame Männlichkeit. Sie grenzen sich von der weiblichen Tätigkeit „Wassergymnastik“ und dem Thema „Geburt“ durch das gemeinsame Sprachspiel von diesen weiblichen Bereichen und Tätigkeiten ab. Beendet wird das Ganze durch das Auftauchen des Themas „Fisch“. Die Aktivierung dieser Schablone dient als exklusiver Bezug auf eine bestimmte (unbeliebte) Schülerin, was im Klassenkontext allen Beteiligten (Lehrerin und Schüler/ innen) bekannt ist. Die komplizenhafte Jungengruppe wirkt als Ort der Solidarität, der den Jungen gegenseitig die eigene Normalität versichert (vgl. Faulstich-Wieland u. a. 2004, 148). Alex stößt laut auf, nachdem er vom Mineralwasser getrunken hat. Sascha: „Hast du keine Manieren? “ Andi: „Das sagt der! Der kratzt sich mitten im [unverständlich: vermutlich „Unterricht“] am Sack! “ Sascha: „Aber meiner ist echt groß, größer als deiner.“ Andi mit tiefer Stimme: „Nee, das glaub ich nicht! “ (Do/ 9). Die beiden Schüler verhandeln hier über ihre Männlichkeit. Dabei ist das verwendete Symbol „Sack“ das Zentrale, an dem Männlichkeit festgemacht wird. Hier wird der Status der höher bewerteten Männlichkeit ausgehandelt. Frage der Lehrerin: „Wieso hatte Napoleon keine Chance, England zu erobern? “ Paddy meldet sich und antwortet: „England ist größer und stärker, [kurzes Zögern] und hat mehr Haare im Gesicht.“ Einige lachen (Di/ 13). Hier wird durch Paddy die Bestimmung der Situation kurzzeitig aus dem unterrichtlichen Bedeutungskontext gehoben: Der geschichtlichen Vera Moser et al. 312 VHN 4/ 2006 Sachfrage wird auf der Personenebene begegnet, ein schwächeres Element wird durch etwas Größeres und Stärkeres dominiert. Dieses „hat mehr Haare im Gesicht“ und muss folglich ein Mann sein. Durch seine Assoziation aktiviert Paddy Wissen um die kulturelle Konstruktion des Geschlechterverhältnisses und lässt zusätzlich für einen Augenblick auf vergnügliche Weise die unterrichtliche Definition der Situation in den Hintergrund treten. 8.3 Sexualisierende Anspielungen Durch die Schüler/ innen werden routiniert sexualisierte Anspielungen vorgenommen. Hierbei wird auf Symboliken zurückgegriffen, die eindeutig in Verbindung mit Sexualität stehen. Diese geben der aktuellen Situation, dem Unterricht, einen neuen Verständnisrahmen, der kulturell durch die Schüler/ innen geteilt wird. Gemeinsames Lachen ist als Reaktion zu deuten, dass Publikum und Akteure den gleichen Bedeutungskontext teilen (vgl. Güting 2004, 145). Sascha geht mit dem Zirkel auf einen anderen Schüler los. Dieser sagt: „Ey, net stechen! “ und weicht vor Sascha und dem Zirkel zurück. Es scheint nur Spaß zu sein. Alex sagt: „Nur in die Fotze! “ Die beteiligten Schüler lachen. Helene während dessen: „Ich hasse Jungs! “ und lässt sich mit dem Oberkörper und verdrehten Augen auf den Tisch fallen (Mi/ 11). In dieser Interaktion wird ein Zirkel als bedrohendes Objekt verwendet. Durch Alex’ Bezug auf das weibliche Geschlechtsorgan wird der Zirkel plötzlich zum Phallussymbol stilisiert. Die Situation erhält eine sexualisierte Aufladung. Die Dominanz, welche die Person mit dem Zirkel innehat, wird durch die Zitation auf das Geschlechterverhältnis übertragen. Durch das Publikum wird klar, dass diese Handlung als spezifisch männlich betrachtet wird. Helene als Publikum decodiert die Aussage durch ihren Bezug auf die Kategorie „männlich“ („Jungs“) als spezifisch männlich, als nur von Jungen ausführbar. Sie hätte ihre Abneigungsbekundung über diese Handlung auch auf den Schüler als Person beziehen können (z. B. „Ich hasse Alex“). Palzkill stellt heraus, dass von Jungen ausgehende sexualisierende Anspielungen gegenüber Mädchen als Instrument benutzt werden, die Geschlechterdifferenz als Herrschaftsverhältnis herauszustellen (vgl. dies. 1999, 78). Ähnliches gilt auch für einige Interaktionen mit der Lehrerin: Die Lehrerin steht vor der Reihe der Mädchen und spricht mit ihnen. Die Schüler Paddy und Sascha aus der ersten Reihe drehen sich um, und Sascha mustert die Lehrerin. Dann spricht er kurz mit Paddy und sagt laut: „Frau X, der Paddy hat gesagt, Sie sind erotisch! “ Nach ca. vier Sekunden dreht sich die Lehrerin um und sagt mit barscher Stimme: „Ich schmeiß dich gleich raus, Sascha! “ Die beiden Jungen und zwei weitere Jungen lachen. Paddy sagt kichernd: „Frau X., der Sascha sagt, er will mit Ihnen Erotikspiele machen! “ Die Lehrerin blickt strafend vorwurfsvoll in die Richtung der Jungen und droht noch einmal mit Rauswurf. Die Schüler flüstern weiter miteinander (Mo/ 7). Hier wird wieder der Organisationszweck der Situation des Unterrichts durch die Schüler unterwandert. Die Lehrerin wird nicht, wie es für den situativen Kontext in der Schule angemessen wäre, in ihrer Funktion als Lehrerin angesprochen, sondern ihre Geschlechtlichkeit wird thematisiert. Die Schüler aktualisieren dadurch ihre Männlichkeit, was gleichzeitig auf die bestehende hierarchische Geschlechterordnung verweist. Zugleich konstituieren sich die Schüler auch als männlich, indem sie die Lehrerin als „Objekt des Begehrens“ und damit auf einer geschlechtlichen Ebene ansprechen. Das gegengeschlechtliche Begehren ist ein bedeutsames Element, um eine passende (hier männliche) Geschlechtsidentität darzustellen. Dieser Appell spricht die Lehrerin in der Kategorie Frau an, Geschlechterinszenierungen in der Sonderschule 313 VHN 4/ 2006 die sie durch die Ankündigung einer machtvollen Handlung, nämlich die Schüler aus der Klasse zu verweisen, beantwortet und damit versucht, ihre Position als Lehrerin wieder herzustellen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass Sexualisierungen durch die Schüler/ innen sehr häufig vorgenommen werden und oft unvermutet zu Tage treten. Eigentlich jede beliebige Situation kann durch die sexualisierende Anspielung in einen geschlechtlichen Bedeutungszusammenhang gebracht und dadurch geschlechtliche Differenz erzeugt werden (vgl. auch Güting 2004, 152ff). Dabei unterwandern diese Anspielungen in Bezug auf den Unterricht und die Lehrerin-Schüler/ innen-Interaktion immer die Definition der Unterrichtssituation. In den beobachteten Situationen ist das ausschließlich eine von Jungen verwendete Praxis. In Interaktionen zwischen Schüler/ innen sind häufiger Jungen diejenigen, die einen sexualisierten Kontext aktivieren, weniger Mädchen. Für sexualisierende Anspielungen durch ein Mädchen fand sich im Beobachtungszeitraum nur eine Situation. In sexualisierter Sprache ist häufig die Abwertung des Weiblichen enthalten. Sexualisierung ist im Allgemeinen ein Ausdruck für den Bezug auf die hegemoniale Männlichkeit und dient der Bestätigung des eigenen Machtanspruches und der Ausgrenzung Schwächerer (vgl. Zieske 2000, 50f). Durch Sexualisierung von Räumen, Objekten und Interaktionen wird somit die Differenz zwischen Individuen in Form von „männlich“ und „weiblich“ hergestellt und das Geschlecht in den Vordergrund der Interaktion gehoben. 9 Geschlecht als Forschungskategorie Die hier vorgelegten Befunde können sicherlich nur ansatzweise das Problem männlicher Überrepräsentanz in Sonderschulen erklären. Sie bieten jedoch hinsichtlich der unterschiedlichen Perspektiven auf Schulleistungen und Verhalten Anknüpfungspunkte zur weiteren Erforschung der bipolaren Matrix „männlich-weiblich“, die für die unterschiedlichen Verläufe männlicher und weiblicher (Schul-)Biografien verantwortlich sind. Hierzu will der vorliegende Aufsatz Anregungen bieten. Anmerkungen 1 Bei diesen Arbeiten handelt es sich um unveröffentlichte Examensarbeiten an der Universität Giessen, die von Claudia Dippon betreut wurden. 2 Die zeitlich frühere Studie von Breidenstein/ Kelle (1998), die von Güting als innovativ bezeichnet wird, bezieht sich weniger auf unterrichtliche Zusammenhänge, sondern eher auf außerunterrichtliche Situationen im Schulkontext und betrachtet Inszenierungen, die nicht selbstverständlich alltäglich, sondern karikativ überzogen erscheinen (vgl. Güting 2004, 19ff). Ihre Bezugsgruppe ist zudem mit 10 - 12jährigen Kindern wesentlich jünger. 3 In der vollständigen Untersuchung von Carola Seidel wurden als weitere Interpretationsraster darüber hinaus der Bezug auf die heterosexuelle Norm, Inszenierung durch Aggression und Körperkontakt, geschlechtlich markierter Raum, Ironie und die Inszenierung als Schüler/ in herausgearbeitet. Literatur Bos, Wilfried u. a. (2003): Erste Ergebnisse aus IGLU. 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