eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Behinderung als Phänomen und Konstrukt im französischen Diskurs -- eine kulturelle Revolution?

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2006
Sieglind Ellger-Rüttgardt
Ungeachtet der im politischen Raum seit Jahrzehnten bestehenden engen Ko¬operation zwischen Frankreich und Deutschland ist die gegenseitige Wahrnehmung im Bereich der Pädagogik oder gar der Behindertenpädagogik eher unterentwickelt. Ausgehend von der aktuellen Dis¬kussion um die Situation behinderter Menschen in der französischen Gesellschaft wird aus pädagogi¬scher Perspektive die traditionelle Struktur der sonderpädagogischen Förderung in Frankreich darge¬stellt, um anschließend die Debatten um eine Reform dieses Systems bis in die Gegenwart nachzu¬zeichnen. Mit einer Analyse des neuen Gesetzes zur Lage behinderter Menschen in Frankreich von 2005 wird abschließend die Frage nach den Perspektiven einer neuen französischen Behindertenpolitik vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklungen diskutiert.
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317 Medienwirksam hat die bekannte französische Psychoanalytikerin Julia Kristeva am Vorabend des Europäischen Jahres der Behinderten 2003 einen offenen Brief an den Präsidenten der Republik Frankreich, Jacques Chirac, veröffentlicht, in dem sie zu einer „kulturellen Revolution“ im Denken und im Umgang mit Behinderung aufrief (Kristeva 2003). Unter Berufung auf zahlreiche europäische Länder beklagte sie die soziale Randstellung behinderter Menschen in Frankreich sowie deren ungebrochen medizinisch dominierte Definition als „Defizitwesen“. Mit Poesie und rhetorischem Geschick in der Tradition eines Zola (J’accuse) forderte Kristeva die Anerkennung behinderter Menschen als gleichberechtigte Bürger, deren Verschiedenartigkeit, so ihr Plädoyer, nichts anderes sei als ein Spiegelbild menschlicher Vielfalt. Zu ihrem Aufruf nach Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter Menschen gehörte schließlich auch die Forderung nach Sicherstellung von Bildungsangeboten für alle behinderten Kinder und Jugendlichen: „Il faut aussi savoir que 38.000 enfants handicapés dans notre pays ne connaissent aucune scolarisation, soit parce que les centres qui les accueillent ne disposent d’aucun enseignement, soit parce qu’ils ne sont accueillis nulle part et ne trouvent ‚aucune solution‘“ (Kristeva 2003, 45) (Man muss auch wissen, dass in unserem Land 38.000 Kinder überhaupt nicht zur Schule gehen, sei es, weil die aufnehmenden Institutionen keine Schulung anbieten, sei es, weil diese Kinder nirgends aufgenommen werden oder für sie ‚keine Lösung‘ gefunden wird) 1 . VHN, 75. Jg., S. 317 -335 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Behinderung als Phänomen und Konstrukt im französischen Diskurs - eine kulturelle Revolution? Sieglind Ellger-Rüttgardt Humboldt-Universität zu Berlin ■ Zusammenfassung: Ungeachtet der im politischen Raum seit Jahrzehnten bestehenden engen Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland ist die gegenseitige Wahrnehmung im Bereich der Pädagogik oder gar der Behindertenpädagogik eher unterentwickelt. Ausgehend von der aktuellen Diskussion um die Situation behinderter Menschen in der französischen Gesellschaft wird aus pädagogischer Perspektive die traditionelle Struktur der sonderpädagogischen Förderung in Frankreich dargestellt, um anschließend die Debatten um eine Reform dieses Systems bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. Mit einer Analyse des neuen Gesetzes zur Lage behinderter Menschen in Frankreich von 2005 wird abschließend die Frage nach den Perspektiven einer neuen französischen Behindertenpolitik vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklungen diskutiert. Schlüsselbegriffe: Frankreich, Behinderung, Behindertenpolitik ■ Disability: Phenomenon and Construct in the French Discourse - a Cultural Revolution? Summary: Despite the close political cooperation between Germany and France over the past decades, the reciprocal perception in the field of education and above all special education is rather undeveloped. Based on the present discussion on the situation of disabled people in the French society, the author describes the traditional structure of special educational assistance and promotion in France and delineates the debate on the reform of this system up to our days. An analysis of the new Act on the state of disabled people in France (2005) gives reason to discuss the perspectives of a new disability policy with regard to the international developments. Keywords: France, disability, disability policy Fachbeitrag Um die gegenwärtige französische Reformdebatte im Bereich der Pädagogik in ihren wesentlichen Aspekten besser verstehen zu können, erscheint zunächst ein Blick auf die gewachsene traditionelle Struktur des Systems pädagogischer Förderung behinderter Kinder und Jugendlicher unerlässlich, wobei allerdings historisch-vergleichende Aspekte nur peripher berührt werden sollen (vgl. hierzu Ellger-Rüttgardt 1990 a/ b; 1993; Hofer-Sieber 2000). 1 Die traditionelle Struktur des Bildungswesens für behinderte Kinder und Jugendliche Mit der Gründung von Hilfsklassen im Jahre 1909 für zurückgebliebene Kinder der Allgemeinen Schule (Vial 1982; 1990) war zugleich eine Entscheidung gefallen, deren strukturelle Auswirkungen bis auf den heutigen Tag spürbar sind, denn durch die Schaffung von Hilfsklassen wurde die Forderung nach einer allgemeinen Schulpflicht lediglich für den Personenkreis der Schwachbegabten anerkannt. Ungeachtet der unermüdlichen Kämpfe einzelner Persönlichkeiten - etwa des Mediziners Bourneville, der in der Nachfolge Séguins stand, und des Pädagogen Gustave Baguer - blieb die Gruppe der im engeren Sinne behinderten Kinder hingegen weiterhin von einer Beschulung im Rahmen des nationalen Erziehungswesens ausgeschlossen. Die Fürsorge für Geistigbehinderte, Blinde, Taube und Körperbehinderte wurde seit der Französischen Revolution nicht als eine pädagogische, sondern primär als eine medizinische bzw. soziale Aufgabe betrachtet (Vial/ Hugon 1998; Vial/ Plaisance/ Stiker 2000). Dieses historische Phänomen des Ausschlusses eines großen Teils behinderter Schüler vom nationalen Bildungswesen ist der Grund dafür, dass bis auf den heutigen Tag - anders als in Deutschland - das Erziehungsministerium nicht für die Bildung und Erziehung aller behinderten Kinder und Jugendlichen zuständig ist. Gemäß der historischen Entwicklung sind es vor allem Kinder mit Lernstörungen und einem leichteren Grad von Lernbehinderung, die in den Zuständigkeitsbereich des Erziehungsministeriums fallen, während für die übrigen Gruppen der Behinderten das Gesundheitsbzw. das Arbeits- und Sozialministerium verantwortlich zeichnen. Die Verantwortlichkeit der jeweiligen Ministerien verteilt sich wie folgt, jeweils bezogen auf die Grundschule (école primaire; Klasse 1 - 5) sowie auch auf die Sekundarstufe I (collège; Klasse 6 - 9) (vgl. Abb. 1). Der 5-jährigen Grundschule vorangestellt ist die Vorschule, die école maternelle („Mutterschule“), die von über 90 % aller Dreijährigen besucht wird. Sie genießt eine hohe Akzeptanz in Frankreich, da ihr neben den drei klassischen Aufgaben der Erziehung, der Vorbereitung auf das Lernen und der Betreuung vor allem Erfolge bei der Herstellung von Chancengleichheit im Grundschulalter attestiert werden: „Die gesellschaftliche Erwartung, die heute an die maternelle gerichtet wird, ist Herstellung von Chancengleichheit, indem z. B. familiale Defizite mit der vorschulischen Erziehung kompensiert werden sollen. Mit diesem gesellschaftlichen Anspruch gegenüber Kindern im Vorschulalter nimmt Frankreich in Europa eine Vorreiterrolle wahr“ (Veil 2002, 33; vgl. auch Plaisance 1996). Das Collège hingegen, seit 1995 als Gesamtschule konzipiert, gilt als die Schulstufe mit den größten Problemen, da sie letztlich die Aufgabe der Heterogenität nicht gelöst hat. „Trotz des hohen Anspruchs, Chancengleichheit für alle herzustellen, finden gerade in den Collèges uniques die entscheidenden Selektions- und Relegationsprozesse statt. Ab dem 14. Lebensjahr werden lernschwache Schüler auf berufliche Vorbereitungskurse, zum Beispiel für eine handwerkliche Lehre oder für einen Facharbeiterabschluss, hingelenkt. Diese Orientierung ist eine negative, die nach rein schulischen Kriterien und weniger nach den Neigungen der Schüler erfolgt. Ungefähr 7 % der Schüler verlassen das Collège ohne einen Abschluss“ (Veil 2002, 34). Sieglind Ellger-Rüttgardt 318 VHN 4/ 2006 Behinderung als Phänomen und Konstrukt im französischen Diskurs 319 VHN 4/ 2006 Betrachtet man die verschiedenen pädagogischen Strukturmaßnahmen für behinderte und benachteiligte Schüler im Einzelnen, so finden sich, aufgeschlüsselt nach Primar- und Sekundarstufe, die folgenden traditionellen Angebote, die zum Teil auch heute noch existieren (vgl. Abb. 2 und Abb. 3). Unter der Ägide des Erziehungsministeriums wurden für die pädagogische Förderung lernschwacher und lernbehinderter Schüler seit den 70er Jahren in der Grundschule Förderabteilungen, Förderklassen und Hilfsbzw. Sonderklassen eingerichtet, denen folgende Aufgaben zugewiesen wurden: Pädagogisch-psychologische Beratungs- und Förderabteilungen (Groupe d’Aide Psycho-Pédagogique - GAPP) sollten jenen Kindern helfen, die leichte und vorübergehende Beeinträchtigungen zeigen; nach deutschem Sprachgebrauch wür- Erziehungsministerium Gesundheitsministerium Arbeits- und Sozialministerium (Ministère de l’éducation (Ministère de la santé) (Ministère des affaires sociales nationale) et de l’emploi) École primaire Präventive Fördermaßnahmen Fördertagesstätte medizinisch-pädagogisches (Réseaux d’aide spécialisés aux (Hôpital de jour) Institut élèves en difficulté - RASED) (Institut médico-éducatif - IME) Förderklassen Kliniken, Internate rehabilitationspädagogisches (Classes d’Adaptation) (Hôpitaux) Institut (Institut de rééducation - IR) Integrationsklassen (Classes d’intégration scolaire - CLIS) Collège berufsvorbereitende Klassen Fördertagesstätte berufsvorbereitende Einrichtung (Classes préparatoires à (Hôpital de jour) ab 14 Jahre l’apprentissage - CPA) (Institut médico-professionnel - IMPro) Abteilung für allgemeine und Kliniken, Internate sozialpädagogische Einrichtunberufliche Bildung (Hôpitaux) gen, Heime der Sozialfürsorge (Section d’enseignement général (Établissements socioéducatifs) et professionnel adapté - SEGPA) Sonderschulen auf Departementsebene (Établissements régionaux d’enseignement adapté - EREA) Integrationsklassen (Unité Pédagogique d’Intégration - UPI) Abb. 1: Zuständigkeiten der Ministerien für Bildung und Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher Sieglind Ellger-Rüttgardt 320 VHN 4/ 2006 den wir wohl von Kindern mit Lernstörungen sprechen. Die Förderabteilungen bestanden aus einem Schulpsychologen sowie zwei sonderpädagogischen Fachkräften mit unterschiedlichen fachlichen Schwerpunkten. Ihre Aufgaben lagen in den Bereichen Diagnose, Beratung, Therapie sowie Einzelförderung oder Förderung in kleinen Gruppen. Förderklassen (classes d’adaptation) nahmen und nehmen jene Kinder auf, die schwere Lernstörungen aufweisen, von denen man aber annimmt, dass diese nicht endgültig sind. Diese Förderklassen werden als Sonderklassen mit reduzierter Klassenstärke und begrenzter Dauer (maximal zwei Jahre Verweildauer für ein Kind) geführt. Hilfsbzw. Sonderklassen (classes de perfectionnement) waren schließlich für all jene Schüler gedacht, von denen man annahm, dass sie dauerhafte oder endgültige Beeinträchtigungen aufweisen. Der Charakter dieser Hilfsklassen war keineswegs eindeutig, denn zum einen galten sie als Einrichtungen der Sondererziehung, zum anderen als Instrumente der Prävention, und entsprechend dem jeweiligen Standpunkt des Betrachters wurden sie folglich in Theorie und Praxis entweder als integrative oder aber als segregative Maßnahmen bewertet. Berufsvorbereitende Klassen (Classes Préparatoires à l’Apprentissage - CPA), Sonderschulabteilungen (Section d’éducation spéciale - SES) und Sonderschulen auf Departementsebene (Établissements régionaux d’enseignement adapté - EREA). Diese Strukturen wurden auf der Sekundarstufe I bereitgestellt. Schulleistungsschwache Schüler des Collège wurden spätestens nach dem 7. Schuljahr separaten Förderklassen oder berufsvorbereitenden Klassen zugewiesen, und darüber hinaus bestanden an vielen Collèges - jedoch keinesfalls an allen - Sonderschulabteilungen (SES) mit insgesamt vier aufstei- Erziehungsministerium Gesundheitsministerium Arbeits- und Sozialministerium (Ministère de l’éducation (Ministère de la santé) (Ministère des affaires sociales nationale) et de l’emploi) Maßnahmen für Kinder mit Fördertagesstätte Medizinisch-pädagogische Lernschwierigkeiten (Hôpital de jour) Sondereinrichtungen für unter- (enfants en difficulté) schiedliche Behindertengruppen - pädagogisch-psychologische Kliniken, Internate (établissements médico-éducatifs) Beratungs- und Förderabtei- (Hôpitaux) lung: (Groupe d’Aide Allgemeinbildende Einrich- Psycho-Pédagogique - GAPP) tungen. Alter 5 - 14 Jahre - Förderklassen (Instituts médico-pédagogiques - (Classes d’Adaptation) IMP) für - geistig Behinderte Maßnahmen für Kinder mit (handicapés mentaux) Lernbehinderungen - Körperbehinderte (déficients intellectuels, (handicapés moteurs) IQ 55 - 85) - Verhaltensauffällige - Hilfsklassen (handicapés relationnels) (classes de perfectionnement) - Sinnesgeschädigte (handicapés sensoriels) Abb. 2: Traditionelle Einrichtungen der sonderpädagogischen Förderung in Frankreich auf der Primarstufe (École primaire) (bis etwa 1990) Behinderung als Phänomen und Konstrukt im französischen Diskurs 321 VHN 4/ 2006 genden Klassen, die in der Regel ein völlig isoliertes Eigenleben führten. Die Schüler dieser Sonderschulabteilungen rekrutierten sich größtenteils aus den Hilfsklassen der Grundschulen, aber auch aus der Grundschule direkt sowie aus dem Collège selbst. Neben diesen Sonderschulabteilungen fanden und finden sich auf Departementsebene schließlich vereinzelt voll ausgebaute Sonderschulen (EREA), die in der Regel mit einem Internat verbunden sind. 2 Das Reformgesetz von 1975 Die Tatsache, dass sich in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ein separates Schulwesen - vorrangig unter der Ägide des Gesundheits- und Sozialministeriums - entwickelt hatte, wurde vor dem Hintergrund der allgemeinen Bildungsdebatte um Demokratisierung und Chancengleichheit in den 60er Jahren (Bourdieu/ Passeron 1971) zunehmend kritisiert und mit dem Ziel der gesellschaftlichen Integration konfrontiert. Gleichzeitig wurde eine öffentliche Diskussion hinsichtlich des beklagenswerten Umstandes geführt, dass auch noch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts keinesfalls für alle behinderten Kinder eine umfassende Rehabilitation, zu der auch eine pädagogische Förderung zähle, verwirklicht sei. Dieser doppelte Gedanke - umfassende soziale Eingliederung Behinderter als nationale Pflicht und Aufgabe sowie deren Realisierung durch ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten - fand seinen Niederschlag in dem „Orientierungsgesetz für Behinderte“ (la loi d’orientation en faveur des per- Erziehungsministerium Gesundheitsministerium Arbeits- und Sozialministerium (Ministère de l’éducation (Ministère de la santé) (Ministère des affaires sociales nationale) et de l’emploi) Förderklassen Fördertagesstätte berufsvorbereitende Einrichtung (Classes d’Adaptation) (Hôpital de jour) ab 14 Jahre (Institut médico-professionnel - IMPro) Berufsvorbereitende Klassen Kliniken, Internate sozialpädagogische Einrichtungen, (Classes préparatoires à (Hôpitaux) Heime der Sozialfürsorge l’apprentissage - CPA) (Établissements socio-éducatifs) aufsteigende Sonderklassen im Rahmen einer Sonderschulabteilung, die einer Mittelstufenschule (collège) angegliedert ist (section d’éducation spéciale - SES) Sonderschulen auf Departementsebene (Établissements régionaux d’enseignement adapté - EREA) Abb. 3: Traditionelle Einrichtungen der sonderpädagogischen Förderung in Frankreich auf der Sekundarstufe I (collège) sonnes handicapées) von 1975, das immer wieder als Meilenstein einer neuen Bildungs- und Sozialpolitik für Behinderte Erwähnung fand und das im Übrigen in seiner doppelten Zielsetzung dem ebenfalls im Jahre 1975 erschienenen amerikanischen Gesetz „The Education of All Handicapped Children Act“ ähnelt. Dieses dem Ziel der Autonomie Behinderter verpflichtete französische Gesetz unterstrich zwar die auch zukünftige Existenzberechtigung von Sondereinrichtungen, ließ aber keinen Zweifel an seiner Präferenz gegenüber der Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen und Freizeit. In Artikel 1 heißt es: „La prévention et le dépistage des handicaps, les soins, l’éducation, la formation et l’orientation professionnelle, l’emploi, la garantie d’un minimum de ressources, l’intégration sociale … constituent une obligation nationale. Les familles, l’état, les collectivités locales, les établissements publics … associent leurs interventions pour mettre en œuvre cette obligation en vue notamment d’assurer aux personnes handicapées toute l’autonomie dont elles sont capables. A cette fin, l’action poursuivie assure, chaque fois que les aptitudes des personnes handicapées et de leur milieu familial le permettent, l’accès du mineur et de l’adulte handicapés aux institutions ouvertes à l’ensemble de la population et leur maintien dans un cadre ordinaire de travail et de vie“ (Orientierungsgesetz 1975) (Die Prävention und die Erfassung von Behinderungen, die Betreuung, die Erziehung, die Schulung und die Berufsfindung, die Anstellung, die Gewährung minimaler Ressourcen, die soziale Eingliederung ... stellen eine nationale Verpflichtung dar. Die Familien, der Staat, die örtlichen Gemeinschaften, die öffentlichen Einrichtungen vernetzen ihre Unterstützungsbemühungen, um dieser Verpflichtung nachzukommen, vor allem im Hinblick auf die Gewährung größtmöglicher Autonomie für behinderte Menschen. Zu diesem Zweck sollen die eingeleiteten Maßnahmen den minderjährigen und den erwachsenen Menschen mit einer Behinderung, wann immer es ihre Fähigkeiten und ihr familiäres Umfeld erlauben, den Zugang zu allen der Bevölkerung offen stehenden Einrichtungen und die Aufrechterhaltung im üblichen Arbeits- und Lebensrahmen ermöglichen). Während in den späten 60er und 70er Jahren angesichts der hohen Quote von Schulversagern vor allem präventive Maßnahmen diskutiert und in die Praxis umgesetzt wurden, verlagerte sich mit dem Orientierungsgesetz von 1975 die politisch-pädagogische Debatte stärker auf den Bereich der gemeinsamen Erziehung Behinderter und Nichtbehinderter. In den Jahren 1982 und 1983 veröffentlichten das Erziehungs-, das Gesundheits- und das Sozialministerium gemeinsame Ausführungsbestimmungen (Circulaires), in denen - unter Berufung auf das Orientierungsgesetz von 1975 - die Art und die Umsetzung schulischer Integration umfassender dargestellt und präzisiert wurden. Demzufolge wurde als Ergebnis schulischer Integration für die behinderten Kinder und Jugendlichen eine gelungene Persönlichkeitsentwicklung, welche die Akzeptierung ihrer Andersartigkeit mit einschließt, sowie eine bessere allgemeine und berufliche Bildung erwartet: „L’ intégration vise tout d’abord à favoriser l’insertion sociale de l’enfant handicapé en le plaçant le plus tôt possible dans un milieu ordinaire où il puisse développer sa personnalité et faire accepter sa différence. Elle lui permet ensuite de bénéficier dans de meilleures conditions d’une formation générale et professionnelle favorisant l’autonomie individuelle, l’accès au monde du travail et la participation sociale“ (Circulaire 1982) (In erster Linie beabsichtigt die Integration die soziale Eingliederung des behinderten Kindes. Es soll so bald wie möglich im gewöhnlichen Alltag mit dabei sein, wo es seine Persönlichkeit entwickeln und mithelfen kann, dass seine Verschiedenartigkeit akzeptiert wird. Diese Eingliederung erlaubt ihm zudem, unter den besten Bedingungen von einer allge- Sieglind Ellger-Rüttgardt 322 VHN 4/ 2006 Behinderung als Phänomen und Konstrukt im französischen Diskurs 323 VHN 4/ 2006 meinen und berufliche Bildung zu profitieren, die ihm individuelle Unabhängigkeit, den Zugang zur Arbeitswelt und die soziale Teilhabe ermöglicht). Den Sondereinrichtungen wurden zwar große Leistungen bei der Erziehung behinderter Kinder bescheinigt, aber unüberhörbar wurden auch die negativen Folgen segregativer Strukturen herausgestellt, identifizierbar an der sozialen Isolierung vieler Behinderter, d. h. am gesellschaftlichen Ausschluss durch die Welt der Nichtbehinderten. Vergleichbar mit der britischen Konzeption der „special needs“ eines jeden Kindes, ist auch in den französischen ministeriellen Grundsatzpapieren der 70er und 80er Jahre das einzelne Kind in seiner individuellen Eigenart Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen. Allgemeine Schule und Sondereinrichtung werden zur Zusammenarbeit aufgefordert, um in optimaler Weise die für jedes Kind erforderliche Hilfe anzubieten. Diskutiert und gesteuert werden die jeweiligen pädagogischen, psychologischen, medizinischen, therapeutischen und sozialen Maßnahmen durch eine interdisziplinär besetzte Kommission für Sonderpädagogik (Commission Départementale de l’Education Spéciale - C.D.E.S.), die auch über die Orientierung eines Kindes, d. h. seinen schulischen Bildungsweg entscheidet. Gegenwärtig unterscheidet man in Frankreich idealtypisch vier verschiedene Maßnahmen der pädagogischen Förderung behinderter Schüler: - die individuelle Integration - die kollektive Integration - die partielle Integration - die Sonderbeschulung (vgl. Abb. 4). Die individuelle Integration in eine Regelklasse (classe ordinaire) ist für all jene behinderten Kinder vorgesehen, die aufgrund gelegentlicher spezieller Hilfen im Rahmen der Regelschule gefördert werden können. Eine kollektive Integration zielt auf jene beeinträchtigten Schüler, die ständiger und umfassender spezieller Hilfen bedürfen. Organisatorisch und aus deutscher Sicht betrachtet, handelt es sich jeweils um Sonderklassen an allgemeinen Schulen an der Grundschule (Classe d’intégration scolaire - CLIS) bzw. am Collège (Unité pédagogique d’intégration - UIP), die eigenständig sind, wobei selbstredend ein Austausch zwischen der Klasse der behinderten Kinder und der Struktur der Regelschule angestrebt wird. I Individuelle Integration das einzelne behinderte Kind besucht eine Klasse der Allgemeinen Schule (intégration individuelle) II Kollektive Integration das einzelne behinderte Kind besucht eine Sonderklasse (Classe d’ intégra- (intégration collective) gration scolaire - CLIS [seit 1991]), die einer Grundschule angegliedert ist. Die einzelne Sonderklasse ist spezialisiert auf eine Behinderungsart. Oder der Schüler besucht eine Unité pédagogique d’intégration -UPI (seit 1995), die einem Collège angegliedert ist. III Partielle Integration ein Schüler mit Behinderung befindet sich teilweise in einer Regelklasse (intégration partielle) oder eine Sonderklasse kooperiert partiell mit einer Regelklasse IV Sonderbeschulung der einzelne Schüler besucht eine Sondereinrichtung (établissement spécialisé) Abb. 4: Gegenwärtiger Status der Beschulung behinderter Schüler in Frankreich: die verschiedenen institutionellen Varianten. Entscheidungsträger: Kommission für Sonderpädagogik auf Departementsebene (Commission Départementale de l’Education Spéciale - C.D.E.S.) Sieglind Ellger-Rüttgardt 324 VHN 4/ 2006 Eine partielle Integration liegt vor, wenn entweder ein einzelnes Kind teilweise am Unterricht der allgemeinbildenden Schule teilnimmt oder aber eine Sonderklasse stundenweise mit einer allgemeinbildenden Schule kooperiert. Als vierte Form schließlich ist nach wie vor der Besuch einer Sonderschule vorgesehen. Vor dem Hintergrund der internationalen Debatte macht Eric Plaisance zu Recht darauf aufmerksam, dass der Begriff der Integration im französischen Sprachgebrauch „ambigu“, also zweideutig sei, da darunter Maßnahmen fallen, die in anderen europäischen Ländern wohl nicht als Integration, sondern eher als sonderpädagogische Maßnahme verstanden werden - ein Umstand, auf den aus deutscher Sicht Ulrich Schröder bereits 1987 hingewiesen hatte. Mit unüberhörbar kritischem Unterton schreibt Eric Plaisance: „En France, au contraire, la notion est polysémique et, sous la forme de l’intégration dite ‚collective‘, elle concerne bel et bien des classes qui, dans d’autres pays, relèvent du ‚spécial‘. La nouvelle dénomination de ces classes en 1991 … n’a pas dissipé ces ambiguïtés, car les ‚classes d’intégration scolaire‘ (CLIS) se substituent aux diverses classes spéciales, parmi lesquelles les classes de perfectionnement initialement crées pour les arriérés mentaux en 1909“ (2003, 27). Die als Integrationsklassen bezeichneten CLIS, die, wie gesagt, nach unserem Verständnis eher als Sonderklassen einzustufen sind, wurden zunächst nur für den Grundschulbereich eingerichtet (1991). Erst seit 1995 gibt es erste Versuche mit einer additiven Integrationsform auch auf der Sekundarstufe I, die so genannten Unités Pédagogiques d’Intégration (UPI), für die seit jüngstem erste Erfahrungsberichte vorliegen (Galerin/ Guillot/ Boyer 2003). Die nach wie vor vorherrschende Struktur sonderpädagogischer Förderung in Frankreich hat für die Grundschule und für die Sekundarstufe I demnach die folgende Gestalt (vgl. Abb. 5 und Abb. 6): 1. Réseaux d’aide spécialisé aux élèves 1. Präventive Fördermaßnahme für Schüler en difficulté (RASED) mit Lernschwierigkeiten 2. Classes d’adaptation 2. Förderklassen 3. Classes d’intégration scolaire (CLIS) pour 3. „Integrationsklassen“ für Schüler mit einer des enfants atteints speziellen Behinderung; additive Integration d’un handicap mental: CLIS - 1 d’un handicap auditif: CLIS - 2 d’un handicap visuel: CLIS - 3 d’un handicap moteur: CLIS - 4 4. Hôpital de jour 4. Fördertagesstätte 5. Hôpitaux 5. Kliniken; Internate 6. Institut médico-éducatif (IME) 6. Medizinisch-pädagogische Einrichtung für verschiedene Gruppen Behinderter 7. Institut de rééducation 7. Rehabilitationspädagogisches Institut Abb. 5: Die gegenwärtige Struktur der pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Schüler (Adaption et intégration scolaire - AIS) in der Grundschule (Enseignement spécialisé et adapté au primaire) 3 Eine erneut entfachte Reformdebatte Die Diskrepanz zwischen niedergeschriebenem Gesetzestext und gesellschaftlicher Realität, aber auch die Mehrdeutigkeit des Gesetzestextes von 1975 waren Anlass für ein erneutes Aufflammen der Reformdebatte seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die maßgeblich durch zwei Entwicklungen geprägt war: 1. durch die internationale Debatte um eine veränderte Nomenklatur, 2. durch eine nationale philosophisch-ethisch geprägte Debatte um das Recht behinderter Menschen auf gesellschaftliche Teilhabe. Zu 1.: Für das Orientierungsgesetz von 1975 war charakteristisch, dass es den Begriff der Behinderung nicht weiter hinterfragte, sondern ihn wie selbstverständlich propagierte: „Le handicap était donc une évidence non questionnée, un ‚allant de soi‘, d’autant plus fort qu’il était soutenu à la fois par les représentants de l’Etat et par les associations travaillant dans le domaine“ (Plaisance 2003, 25). Der in Frankreich traditionellerweise stark medizinisch geprägte Begriff der Behinderung erfuhr in der Konfrontation mit der neuen Klassifikation der WHO insofern eine starke Akzentverschiebung, als nunmehr Behinderung verstärkt im gesellschaftlichen Kontext und damit als soziale Kategorie in das Zentrum der Betrachtungsweise rückte. Für den pädagogischen Bereich im engeren Sinne beförderte ein derartiges Verständnis von Behinderung eine Perspektive, die das Kind mit einer Behinderung nicht mehr als isolierte behinderte Person betrachtete, sondern als ein Kind, das zwar „anders“ ist, aber durchaus mit anderen gemeinsam lernen kann, was allerdings ein besonderes pädagogisches Engagement erfordert. Die seit Erscheinen des englischen Warnock-Reports (1978) geführte Debatte um Abschaffung des Begriffes „Behinderung“ bzw. seine Umwidmung in „special educational needs“ bzw. „besoin éducatif spécial ou particulier“ wird auch in Frankreich geführt, hat aber bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu keinen offiziellen Veränderungen der Begrifflichkeit geführt (Plaisance 2003, 32). Ähnliches gilt auch für den Begriff der „Inklusion“, der aufgrund seiner angelsächsischen Herkunft bislang auf wenig Gegenliebe stieß, der aber durch die engagierte Streitschrift von Julia Kristeva eine Aufwertung erfahren haben dürfte: „Je comprends ceux qui préfèrent remplacer le terme d’‚intégration‘ par celui d’‚insertion‘ ou d’‚inclusion‘. Loin d’être un raffinement politically correct, ce souci sémantique invite non pas à ‚intégrer‘ au sens d’ef- Behinderung als Phänomen und Konstrukt im französischen Diskurs 325 VHN 4/ 2006 1. Sections d’enseignement général et 1. Abteilung für allgemeine und berufliche Bildung professionnel adapté (SEGPA) 2. Etablissements régionaux d’enseignement 2. Sonderschule auf Departementsebene adapté (EREA) 3. Unité Pédagogique d’Intégration (UPI) 3. Integrationsklasse 4. Institut médico-professionnel (IMPRO) 4. Berufsvorbereitende Einrichtung 5. Hôpitaux de jour 5. Fördertagesstätten 6. Hôpitaux 6. Kliniken, Internate 7. Institut de rééducation 7. Rehabilitationspädagogisches Institut Abb. 6: Die gegenwärtige Struktur der pädagogischen Förderung behinderter Schüler in der Sekundarstufe I (Enseignement spécialisé et adapté au secondaire) facer la différence - projet impossible et qui se heurte à des échecs décourageants -, mais à inclure des personnes différentes dans l’espace public (écoles, entreprises etc.) à condition d’y aménager des parcours individualisés et des accompagnements singuliers. Cela demande des moyens considérables? Certainement“ (Kristeva 2003, 51; vgl. auch Plaisance 2003, 27) (Ich verstehe jene, die den Begriff der „Integration“ gerne durch „Eingliederung“ oder „Inklusion“ ersetzt wissen möchten. Diese semantische Entscheidung ist keineswegs nur Ausdruck einer politischen Korrektheit und bedeutet auch nicht, Menschen zu integrieren, indem man die Unterschiede verwischt - ein Unterfangen, das sowieso zum Scheitern verurteilt ist -, sondern es repräsentiert den Versuch, Menschen, die verschieden sind, in den öffentlichen Raum mit einzuschließen [Schulen, Betriebe etc.], unter der Bedingung, dass sie dort individualisierte Angebote und Begleitung erfahren. Das kostet viel Geld? Natürlich). Geändert hat sich allerdings bereits der Fachterminus für die pädagogische Förderung behinderter Schüler: Man spricht nicht mehr in erster Linie von Sondererziehung, „éducation spéciale“, sondern von „enseignement spécialisé et adapté“ (Sonderschulung und Rehabilitation). Zu 2.: Die auf europäischer Ebene während der letzten Jahrzehnte geführte Debatte um „Normalität“, Autonomie und Partizipation behinderter Menschen (Bürli 1997) findet ihre ideelle Basis zum einen in den Werken von Irving Goffman, sei es in dem bahnbrechenden Buch über Stigma und beschädigte Identität (dt. 1999, im amerikanischen Original 1963) oder in seinen Abhandlungen über die Funktion totaler Institutionen, entfaltet an den Beispielen von psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen (dt. 1973, Original 1961). Bezogen auf den französischsprachigen Referenzraum und entsprechend der stark sozialwissenschaftlich und interdisziplinär angelegten französischen Erziehungswissenschaft (Schriewer 1983 u. Keiner/ Schriewer 1990) wurde die Debatte um das Anderssein, die Abweichung von dem Normalen vor allem von Vertretern der Soziologie und der Wissenschaftsgeschichte angestoßen. Hier sind es die von der Schule des philosophischen Strukturalismus beeinflussten Diskursanalysen eines Michel Foucault (1969, 1977, 1999) und eines Georges Canguilhem (1992), die ihre Fortsetzung finden bei Robert Castel (1979), Jacqueline Gateaux-Mennecier (1993) und Henri-Jacques Stiker (1997). Vor allem das Buch von Henri-Jacques Stiker „Corps infirmes et sociétés“, das in der Erstauflage bereits 1982 herausgekommen war, gewann mit seiner Neuerscheinung 1997 großen Einfluss auf die jüngste Reformdebatte im Bereich der Pädagogik. Mit der Referenz auf den philosophischen Strukturalismus eines Lévi- Strauss und unter Berufung auf die Arbeiten Foucaults analysierte Stiker in seiner Studie die Debatte um und den Umgang mit Behinderten vor dem Hintergrund verschiedener kulturgeschichtlicher Epochen, wobei allerdings der Schwerpunkt seiner Untersuchung auf der Entwicklung in Frankreich liegt: „Le problème du ‚handicap‘ est un peu le morceau de poterie découvert dans une fouille et qui permet des indications importantes sur la culture dont il est le vestige“(Stiker 1997, 176) (Das Problem der „Behinderung“ erinnert ein bisschen an das Keramikstück, das man bei Ausgrabungen findet und das wichtige Hinweise auf jene Kultur gibt, deren Überbleibsel es ist). Indem Stiker nicht nur alle traditionellen Formen der sozialen Exklusion dechiffriert, sondern auch die vordergründig „gut gemeinten“ Bemühungen um Integration als Maßnahmen der Anpassung, Assimilierung und Normalisierung behinderter Menschen problematisiert, mündet sein kritisches Resümee in die Forderung nach Anerkennung von Verschiedenartigkeit: „Le discours que je tiendrai sera … celui de la différence. Affrontées constamment à ce phénomène, les sociétés n’ont jamais réussi à intégrer la différence en tant que telle“ (a. a. O., 194) (Das Thema, das ich behandeln werde, ist die Verschiedenartigkeit, die Differenz. Obwohl Sieglind Ellger-Rüttgardt 326 VHN 4/ 2006 ständig mit diesem Phänomen konfrontiert, ist es den Gesellschaften nie gelungen, Verschiedenartigkeit als Teil ihrer selbst zu betrachten). Die Forderung nach Anerkennung der Verschiedenartigkeit führt nach Stiker zu einer Revision gesellschaftlicher Praxis, sei es in der Begrifflichkeit und Etikettierung, der Gesetzgebung, der Finanzierung von Leistungen oder den Formen der Institutionalisierung, wobei die ideale Richtschnur allen Handelns die Prämisse ist, behinderte Menschen nicht aus ihrem angestammten Lebenskreis zu entwurzeln. Ohne Anlehnung an irgendeine dogmatische Fixierung plädiert Stiker angesichts der konkreten gesellschaftlichen Strukturen für Maßnahmen, welche die geforderte, gewissermaßen selbstverständliche gesellschaftliche Zugehörigkeit behinderter Menschen verwirklichen helfen, etwa durch direkte finanzielle Unterstützung behinderter Menschen und nicht der Institutionen, durch Aufnahme behinderter Menschen in die Welt der beruflichen Bildung und des allgemeinen Arbeitsmarktes, durch Aufbrechen abgeschotteter Sonderinstitutionen. Vor allem unter Berufung auf die Erfahrungen in Skandinavien, Italien und der Antipsychiatriebewegung favorisiert Stiker einen so genannten dritten Weg in der Behindertenpolitik, der auf eine Stärkung lokaler Initiativen und Dienste setzt - eine Politik, die, so sei erinnert, eine lange Tradition in Skandinavien kennt (vgl. Agenda 22 von 2004) und die auch den Geist des Sozialgesetzbuches IX der Bundesrepublik von 2001 beeinflusst hat. Wie weit allerdings die Überlegungen Stikers von der gesellschaftlichen Realität in Frankreich entfernt sind, belegt schlaglichtartig der Umstand, dass es im Jahre 2001 noch schätzungsweise 38.000 behinderte Kinder und Jugendliche gab, die an keinerlei Bildungsmaßnahmen teilnahmen und dies, obwohl in einer offiziellen Verlautbarung von 1999 (Handiscol) zu lesen war, dass der Schulbesuch für jeden behinderten Schüler ein Recht sei: „La scolarisation est un droit“, und dass jede Schule die Pflicht habe, ein behindertes Kind aufzunehmen: „L’accueil est un devoir“ (zit. nach Plaisance 2003). Im Jahre 2002 legte eine französische Expertenkommission im Auftrag des Erziehungsministeriums der damaligen von den Linksparteien gestellten Regierung einen Plan für eine Revision des Orientierungsgesetzes von 1975 vor (Assante 2002). Im Rückgriff auf die internationale und nationale Diskussion um die Rechte behinderter Menschen formulierte die Arbeitsgruppe mit dem Namen „Education, scolarisation, formation et insertion professionnelle“ unter der Leitung von Eric Plaisance eine Reihe von Punkten zur Verbesserung und Weiterentwicklung des Systems der sonderpädagogischen Förderung in Frankreich: - Angesichts „de graves dysfonctionnements institutionnels“ (Plaisance 2002, 75), d. h. der fehlenden Plätze für Erziehung und Bildung behinderter Kinder und Jugendlicher, wurde die Einlösung der Schulpflicht für alle behinderten Kinder gefordert. - Bemängelt wurde die große Differenz zwischen der offiziellen Politik, die sich seit 1975 für mehr Gemeinsamkeiten von behinderten und nichtbehinderten Schülern ausspricht, und der tatsächlichen Situation. Gemäß einer Statistik des Jahres 1999/ 2000 war zwar die Zahl der Schüler gestiegen, die sich während des ganzen Tages in der „individuellen Integration“ befanden, sie stellten aber nach wie vor eine Minderheit von ca. 10 % dar (1989/ 90: 7 %).Verwendet man allerdings einen „weiten Integrationsbegriff“ (d. h., behinderte Kinder befinden sich in Sonderklassen an der allgemeinen Schule oder sind partiell integriert), dann kommt man auf eine Zahl von 60 % integrierter Schüler. - Die Expertenkommission plädierte ferner für eine Bevorzugung des Begriffes „Schulpflicht“ (obligation scolaire) gegenüber der Erziehungspflicht (obligation éducative), wobei allerdings keine Aussage über den Ort der Beschulung gemacht wurde. Mehrheitlich sprachen sich Experten, Vertreter von Verbänden und politisch Verantwortliche für eine Vielfalt der historisch ge- Behinderung als Phänomen und Konstrukt im französischen Diskurs 327 VHN 4/ 2006 wachsenen Organisationsstrukturen und somit auch für eine Beibehaltung der Verantwortlichkeit unterschiedlicher Ministerien aus. In der Formulierung der Empfehlungen der Expertenkommission heißt es unter der Überschrift „Intégration et scolarisation“ wie folgt: „Introduire dans la loi à la fois la notion de droit à l’intégration et celle d’obligation de scolarisation, celle-ci pouvant prendre des formes variables, selon les besoins de l’enfant. Introduire des garanties concernant la qualité de la scolarisation interne aux établissements spécialisés: personnels qualifiés, contrôle, évaluation“ (Assante u. a. 2002, 73) (Ins Gesetz sind gleichzeitig der Begriff des Rechtes auf Integration und jener der obligatorischen Schulpflicht - die je nach den Bedürfnissen des Kindes verschiedene Schulformen umfassen kann - aufzunehmen. Es müssen Garantien bezüglich der Qualität der internen Schulung in Spezialeinrichtungen festgelegt werden: qualifiziertes Personal, Kontrolle, Evaluation). Propagiert wurde hingegen eine stärkere Annäherung der unterschiedlichen Organisationsstrukturen durch zunehmende Kooperation; hierfür stehen die Ansprüche „l’école hors les murs habituels de l’école“ (Schule außerhalb der traditionellen Schulmauern) und „l’institut médico-éducatif hors les murs“ (das medizinisch-pädagogische Institut außerhalb der Mauern). - Große Übereinstimmung herrschte in der Ablehnung einer Position des „Alles oder Nichts“; ähnlich wie die Mehrheit der Fachvertreter in Deutschland machten die Experten geltend, dass die Realisierung einer gemeinsamen Beschulung behinderter und nicht behinderter Schüler von den ideellen und materiellen Bedingungen abhänge. - Als entscheidender Angelpunkt für Reformen wurde eine verbesserte, gut funktionierende Kooperation angesehen, und zwar auf institutioneller Ebene wie auch vor allem auf der Ebene der Zusammenarbeit der Professionellen. Bezeichnend ist, dass der Berichterstatter der Expertenkommission, Eric Plaisance, den italienischen Kollegen Andrea Canevaro aus Bologna als Kronzeugen für die Bedeutung der Kooperation mit den Worten zitierte: „L’intégration scolaire des enfants handicapés, c’est avant tout l’intégration des compétences des adultes“ (Plaisance 2002, 84). - Schließlich wurde die Bereitstellung, Statusklärung und Statussicherung pädagogischer Assistenten bzw. Hilfslehrer 2 angemahnt (les auxiliaires de vie scolaire), die für eine verstärkte Realisierung von gemeinsamem Unterricht unerlässlich seien. Als besonders dringlich wurden Veränderungen in der Lehrerbildung herausgestellt. Neben dem Mangel an ausgebildeten Spezialisten im Bereich der Sonderpädagogik (nach Kristeva 2003 verfügen nur 20 % des Personals in Sondereinrichtungen über eine Spezialausbildung) wurde vor allem eine Revision der gesamten Lehrerbildung propagiert, eine Lehrerbildung, welche die strikte Trennung zwischen den Lehrämtern aufgeben sollte, indem sie alle zukünftigen Lehrer auch mit den Fragen von Bildung und Erziehung behinderter Schüler vertraut macht. Damit würde ein Wandel des Lehrerbildes in dem Sinne einhergehen, dass alle Pädagogen, ungeachtet ihrer besonderen Qualifizierung und Spezialisierung, aufgeschlossen würden für Heterogenität und damit für die Schwierigkeiten, die nicht wenige Schüler haben: „Cette orientation en matière de formation réclame plus fondamentalement une transformation de l’image du métier d’enseignant, ouvert aux différences individuelles et aux difficultés de certains élèves“ (Plaisance 2002, 85f). 4 Das Gesetz vom Februar 2005: „Pour l’égalité des droits des chances, la participation et la citoyenneté des personnes handicapées“ Mit dem Regierungswechsel in Frankreich verschwand der Plan der Gruppe Assante (2002) von der Tagesordnung. Die neue konservative Sieglind Ellger-Rüttgardt 328 VHN 4/ 2006 Regierung präsentierte schließlich im Februar 2005 das Gesetz Nr. 2005-102 „Pour l’égalité des droits des chances, la participation et la citoyenneté des personnes handicapées“ (das Gesetz über die Gleichheit von Rechten und Chancen, über gesellschaftliche Teilhabe und Bürgerrechte), dessen Verabschiedung zahlreiche parlamentarische Debatten und intensive Lobbyarbeit vorangegangen waren. Neben Berufsverbänden und Gewerkschaften waren es vor allem Elternverbände, die Einfluss auf die Formulierung des Gesetzestextes zu nehmen versuchten. Einmütigkeit bestand in der Forderung der Elternverbände nach gesetzlicher Verankerung einer Schulpflicht für behinderte Schüler (obligation scolaire), die bislang, so sei erinnert, nicht gegeben war; stattdessen hatte lediglich eine Erziehungspflicht (obligation éducative) bestanden. Unterschiedliche Positionen vertraten die Repräsentanten der Elternschaft im Hinblick auf die organisatorische Umsetzung der Schulpflicht. Während die einen eine Vielfalt von Organisationsformen favorisierten, forderten andere Vertreter die Einlösung der Schulpflicht ausschließlich in integrativen Settings (vgl. Plaisance 2005 a, 10f). Das neue Gesetz, das am 11. Februar 2005 verabschiedet wurde und dessen Leitlinien Nichtdiskriminierung und gleiche Bürgerrechte sind, unterteilt sich in sechs große Abschnitte, die wie folgt lauten: 1. Dispositions Générales (Allgemeine Bestimmungen) 2. Prévention, Recherche et Accès aux Soins (Prävention, Forschung und medizinischtherapeutische Versorgung) 3. Compensation et Ressources (Einkommenssicherung und soziale Sicherheit) 4. Accessibilité (Zugang, gesellschaftliche Teilhabe) 5. Accueil et Information (Selbstvertretung und Information) 6. Citoyenneté et participation à la vie sociale (Bürgerrechte, gesellschaftliche Teilhabe) 3 . Unter pädagogischem Aspekt ist der 4. Absatz von Relevanz, dessen Artikel 19 die Überschrift trägt „Scolarité, enseignement supérieur et enseignement professionnel“. Der wohl entscheidende Passus darin lautet: „Le service public de l’éducation assure une formation scolaire, professionnelle ou supérieure aux enfants, aux adolescents et aux adultes présentant un handicap ou un trouble de la santé invalidant.“ Diese Zusicherung nicht nur einer Schulbildung, sondern auch einer Berufs- und Hochschulbildung gilt unter den französischen Experten als eindeutiger Fortschritt. Kritisch hinterfragt werden allerdings die wenig präzisen Aussagen hinsichtlich der konkreten Umsetzung des Bildungsrechts für behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Die Fragen der institutionellen Zuweisung, der Entscheidungsbefugnisse und des Verhältnisses von allgemeiner Schule und Sondereinrichtungen werden von Eric Plaisance als offene, ungeklärte Problemfelder auch nach Verabschiedung des neuen Gesetzeswerkes identifiziert: „Il est difficile de connaître actuellement quelles seront les modalités d’application de la nouvelle loi en matière de scolarisation. On peut cependant en retenir que l’enfant handicapé est considéré non plus seulement comme éducable, comme dans la loi de 1975, mais comme scolarisable. Certes, cela soulève à nouveau la question des modalités de cette scolarisation, qui seraient diverses selon les cas particuliers. Comme nous l’avons vu, la possibilité de scolarisation spécifique en établissement spécial est retenue. Les procédures d’inscription dans tel ou tel type d’établissement restent pour l’instant très peu explicites, de même que les modalités de convention, prévues par la loi, entre cet établissement spécial et l’établissement dit ‚de référence‘. Quelles seront alors les collaborations concrètes entre l’établissement ordinaire et l’établissement spécial? “ (Plaisance 2005 a, 12) (Es ist gegenwärtig schwierig abzuschätzen, welche Auswirkungen das neue Gesetz auf den Schulbereich haben wird. Man kann ihm jedoch entnehmen, dass das behinderte Kind nicht mehr - wie im Gesetz von 1975 - nur als er- Behinderung als Phänomen und Konstrukt im französischen Diskurs 329 VHN 4/ 2006 ziehungsfähig, sondern auch als schulfähig angesehen wird. Diese Feststellung wirft zweifellos wiederum die Frage nach der Art der Beschulung auf, die in Abhängigkeit von dem individuellen Fall in verschiedenartigen Institutionen stattfinden soll. Wie wir gesehen haben, soll die Möglichkeit einer besonderen Beschulung in Sondereinrichtungen erhalten bleiben. Das Aufnahmeprozedere in die verschiedenen Einrichtungstypen bleibt gegenwärtig recht vage, ebenso die Frage nach den Vereinbarungen zwischen den Sonderinstitutionen und jenen Einrichtungen, die nach dem Gesetz ‚établissement de référence‘ [zuständige Schule des Wohnortes] genannt werden. Worin besteht also die konkrete Zusammenarbeit zwischen Regel- und Sonderschule? ). Noch vor der offiziellen Gesetzesverabschiedung veröffentlichten die Vorsitzenden des „Conseil national ‚Handicap: sensibiliser, informer, former‘“, Charles Gardou und Julia Kristeva, in der Tageszeitung „Le Monde“ vom 28. Januar 2005 eine kritische Analyse der Gesetzesvorlage, in der sie auf bestehende Widersprüche in der Textvorlage hinwiesen. Hinsichtlich der gesetzlichen Aussage, dass alle behinderten Kinder und Jugendlichen der Schulpflicht unterliegen sollen, problematisierten Gardou und Kristeva u. a. die fehlende Ausbildung der beteiligten Professionsgruppen und kritisierten insbesondere die staatliche Absicht, die Ausbildung der Sonderpädagogen um ein Drittel der Ausbildungszeit zu kürzen. Angesichts der mangelhaften Vorbereitung der beteiligten Berufsgruppen auf einen Umgang mit behinderten Menschen und der eher dürftigen Repräsentanz von Sonderpädagogik und Rehabilitation an französischen Universitäten erhoben sie die Forderung nach Gründung eines nationalen Instituts für Ausbildung und Forschung im Bereich von Behinderung: „C’est pourquoi le Conseil national propose de créer un Institut national de formation, de recherche et d’innovation sur les situations de handicap (IERI) pour assurer quatre fonctions essentielles: veille scientifique; impulsion en matière de formation, de recherche et d’innovation; coordination des centres de recherche et de formation ou des universités; diffusion des actions formatives, des recherches et des pratiques innovantes“ (Gardou/ Kristeva 2005) (Der Nationale Rat schlägt deshalb vor, ein nationales Institut zu gründen, dessen Schwerpunkte Ausbildung, Forschung und Innovationen im Kontext von Behinderung sind. Das Institut soll vier Aufgaben erfüllen: Forschung; Innovationen auf den Feldern Ausbildung, Forschung und Weiterentwicklung; Koordination zwischen Forschungs- und Ausbildungszentren; Verbreitung von Ausbildungsinitiativen, Forschungsergebnissen und innovativer Praxis. Welches ist also die konkrete Zusammenarbeit zwischen der Allgemeinen und der Sonderschule? ) 5 Perspektiven Ungeachtet der allseits anerkannten positiven Aussagen zum Gesetz von 2005 herrscht bei den meisten Kommentatoren eine unüberhörbare Skepsis hinsichtlich der konkreten Einlösung der Bürgerrechte für behinderte Menschen vor. Es war wiederum der nationale Rat, der Conseil national unter Leitung von Julia Kristeva und Charles Gardou, der im Mai 2005 unter großem Medienaufgebot und unter Beteiligung vieler Gruppen und Verbände die „Generalstände“, die „Premiers Etats généraux, ‚Handicap, le temps des engagements‘“ nach Paris in das Gebäude der UNESCO einberief, um den Forderungen nach gleichen Bürgerrechten für behinderte Menschen erneut öffentlichen Nachdruck zu verleihen. In dem Forum „Vie scolaire“ wurde nicht nur der fortdauernde Skandal einer Nichtbeschulung behinderter Schüler und das Ausweichen von Eltern der Pariser Region in Nachbarländer wie Belgien angeklagt, sondern in Anspielung auf die neue Gesetzeslage wurde auch die für die französische Praxis offenbar typische Erfahrung der Kluft zwischen geschriebenem Wort und vorfindbarer Realität - „la gouffre entre le dire et le faire“ - gegeißelt. Sieglind Ellger-Rüttgardt 330 VHN 4/ 2006 Es kann keinen Zweifel geben: Die von Henri-Jacques Stiker, Eric Plaisance, Julia Kristeva, Charles Gardou u. a. geforderte „kulturelle Revolution“ im gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung und behinderten Menschen ist nicht zuletzt dank der großen medialen Wirkung in Frankreich zumindest angestoßen worden. Zunehmend erfolgt der Blick auf ausländische Erfahrungen, vor allem Richtung Italien, aber auch Kanada, Skandinavien und Großbritannien. Dass die nunmehr 30-jährige Erfahrung mit schulischer Integration in Deutschland, die hohe Professionalität der Ausbildung und die unübersehbar starke Verankerung von Rehabilitation und Forschung an den deutschen Universitäten bislang in Frankreich kaum Beachtung gefunden hat, ist symptomatisch für die ungebrochen große kulturelle Ferne zwischen beiden Ländern bzw. zwischen dem deutschsprachigen und dem frankophonen Raum im Bereich von Sonderpädagogik und Rehabilitation. Auch wenn sich ein Mentalitätswandel in der Betrachtung von Behinderung in der französischen Öffentlichkeit abzeichnet, so steht doch auf einem ganz anderen Blatt geschrieben, wann und inwieweit die gesellschaftlichen Strukturen diesem Mentalitätswandel folgen werden. Für Eric Plaisance sind es vor allem drei Faktoren, die einem gesellschaftlichen Wandel entgegenstehen: die nach wie vor tief verankerte Furcht vor denen, die verschieden sind und daher (nach Goffman) stigmatisiert werden, die Widerständigkeit des französischen Schulsystems, das durch Zentralismus und einen „republican elitism“ (Plaisance 2005b, 20) gekennzeichnet ist, und schließlich unterschiedliche Mentalitäten und mangelnde Kooperation von Berufsgruppen, deren Zusammenarbeit mit behinderten Menschen unerlässlich ist. Diese Hindernisse, die sich auf Mentalitäten, Institutionen und Professionen beziehen, sind keineswegs allein für Frankreich typisch, aber sie verfügen hier vielleicht über eine besonders lange Tradition, etwa im Vergleich zu den skandinavischen Ländern, aber auch zu Italien. Betrachtet man unter vergleichender Perspektive und aus einem deutschen Blickwinkel die gegenwärtige Debatte um Bildung und Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher in Frankreich und Deutschland, so lässt sich für beide Länder Verbindendes und Trennendes benennen: Auf der theoretischen Ebene überwiegen zweifellos die Gemeinsamkeit des Diskurses wie etwa die Betonung des gesellschaftlich-kulturellen Kontextes von Behinderung, die Problematisierung eines Integrationsbegriffs, der in der Gefahr von Anpassung und Assimilierung steht, die Forderung nach Anerkennung von Verschiedenartigkeit und Individualität sowie schließlich die Formulierung gesellschafts- und bildungspolitischer Ziele wie jene der Nichtdiskriminierung, der gesellschaftlichen Teilhabe und der Schaffung einer inklusiven Schule. Differenzen hingegen lassen sich vor allem auf der Ebene von Institutionalisierung und Profession erkennen. Während in Deutschland seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Bildungspflicht für alle behinderten Kinder anerkannt und ausschließlich im Rahmen des Bildungswesens eingelöst wird, sind in Frankreich bislang weder die Schulpflicht für alle behinderten Kinder noch die alleinige Zuständigkeit des Erziehungsministeriums realisiert. Der starke Einfluss von Medizin und Psychologie bis in die Gegenwart, die traditionell sehr viel schwächere Position der Pädagogik, die seit den Anfängen vor 200 Jahren existierende Trennung zwischen den Verantwortlichkeiten unterschiedlicher Ministerien, die letztlich die Anerkennung und Durchsetzung des Bildungsrechts für jedes behinderte Kind bis zum heutigen Tag verhindert hat, sind zusammengenommen Spezifika der französischen Entwicklung. Gemeinsam und im Hinblick auf eine inklusive Schule abträglich ist beiden Ländern ein Schulsystem, das einen stark selektiven Charakter hat, auch wenn das französische Schulsystem formal stärker einem Gesamtschulsystem ähnelt. Hinsichtlich der Herausbildung einer spezifischen pädagogischen Profession verfügt Deutschland zweifellos über hoch professionalisierte Behinderung als Phänomen und Konstrukt im französischen Diskurs 331 VHN 4/ 2006 Strukturen mit einer Verankerung im universitären Raum, wobei Sonderpädagogen nicht mehr nur in Sonderschulen tätig sind, sondern einen anerkannten und fest verankerten Platz im gemeinsamen Unterricht einnehmen. Dies alles ist in Frankreich hingegen eher nur in Ansätzen vorhanden. Die negativen Effekte berufsständischer Profilierung, die u. a. zu Schwierigkeiten bei der Kooperation mit anderen Berufsgruppen führen, können - so lehrt auch die deutsche Erfahrung - wiederum kontraproduktiv bei der Etablierung einer Schule für alle sein, deren Erfolg von einem kooperativen Selbstverständnis der in ihr Tätigen entscheidend mitbestimmt wird. In Frankreich ist man sich zunehmend der Tatsache bewusst, dass der einstige Pionier der Bildung und Erziehung Behinderter inzwischen zu einem Schlusslicht in Europa zu werden droht. Die nächsten Jahre werden zeigen, inwieweit es diesem bedeutenden europäischen Vorreiter der Behindertenpädagogik gelingt, den Anschluss an die europäische und internationale Debatte um Behinderung, handicap und disability zu gewinnen. Das neue Gesetz von 2005 bedeutet einen Fortschritt gegenüber jenem von 1975, da es die Schulpflicht für jeden behinderten jungen Menschen anerkennt. Es bleibt aber, so ist zu befürchten, nach wie vor einem Geist verhaftet, der die Besonderheit eines Menschen mit einer Behinderung hervorhebt statt Behinderung und Verletzbarkeit unter dem Aspekt der menschlichen Vielfalt als konstitutiv für jedes menschliche Leben anzuerkennen. „Le seul bien natif entre les hommes, c’est la vulnérabilité. Notre modernité se refuse pourtant, avec obstination, à l’admettre“ (Gardou 2005, 15) (Das einzige angeborene Gut, das die Menschen verbindet, ist ihre Verletzlichkeit. Die moderne Welt weigert sich allerdings mit Beharrlichkeit, dieses anzuerkennen). Und die Anerkennung der menschlichen Vielfalt und Verschiedenartigkeit sollte, so Eric Plaisance, auch vor der Schule nicht Halt machen. Unter Berufung auf die Debatte in Großbritannien schreibt er: „L’inclusion scolaire, serait donc une perspective d’action radicale, définie par rapport aux droits de tous les enfants à l’éducation. L’éducation inclusive nécessite alors une transformation des écoles comme des ‚communautés‘ ouvertes à tous sans restrictions et une transformation des pratiques pour permettre les apprentissages de tous en affrontant la diversité des élèves. Une telle option est non seulement pédagogique mais plus profondément socio-politique, les auteurs plaidant pour une ‚société inclusive‘, reposant sur une nouvelle perception des différences“ (Plaisance 2005 a, 13) (Schulische Inklusion wäre ein radikal neues Vorgehen, das sich auf das Recht der Kinder auf Bildung und Erziehung stützt. Inklusive Erziehung verlangt von der Schule eine Veränderung im Sinne von „Lebensgemeinschaften“, die für alle ohne Einschränkung offen sind, und sie erfordert eine Veränderung der Lernkultur, damit alle in ihrer Verschiedenartigkeit am Lernen teilnehmen können. Eine derartige Entscheidung wäre nicht pädagogischer, sondern im tieferen Sinne sozialpolitischer Natur, denn die Autoren, geleitet von einer veränderten Wahrnehmung des Phänomens Differenz, plädieren für eine inklusive Gesellschaft). Trotz der radikalen Infragestellung von Ideen, Haltungen und Handlungen im Zusammenhang mit dem Phänomen und Konstrukt „Behinderung“, wie sie sich in der französischen Debatte manifestiert - und das sei aus der deutschen Perspektive bewusst angemerkt -, spielen dogmatische Verfestigungen im disziplinären pädagogischen Diskurs Frankreichs eher eine untergeordnete Rolle. Abschließend soll noch einmal Eric Plaisance zu Wort kommen, der in einem Vortrag an der Universität London im Mai 2005 und ganz offensichtlich in Anlehnung an den angelsächsischen Pragmatismus die Gefahren und negativen Folgen einer dogmatisch-moralisierenden Attitüde in der Forderung nach Integration sehr deutlich benannte: „I want to emphasise the importance of going beyond what I call the ‚abstract moralism‘ concerning the question of disabled child- Sieglind Ellger-Rüttgardt 332 VHN 4/ 2006 ren. By this I mean that inclusion in ordinary settings (educational or other) is sometimes treated as a kind of sentimental or abstract way - appealing to an ideal of everybody being up together, without giving attention to the possible ways in which this might come about in practice. Some invoke a ‚love of children‘, to the ‚duty‘ or ‚vocation‘ of the teacher. Such abstract slogans and high-minded discourses, which adopt the moral high ground, can become selfdefeating, given the practical difficulties experienced by teachers. From utopia to reality, the danger is not only that disillusionment will arise but also that a paradoxical situation will emerge in which some forms of exclusion will be reinforced and, in particular, exclusion from the inside (exclusions de l ’intérieur), in which disabled children are physically present in ordinary schools, but are not participant members of the school community“ (Plaisance 2005 b, 23). Auch wenn die konkrete Verwirklichung einer Schule für alle eine erfahrungsorientierte, an die Praxis gebundene Aufgabe bleibt, deren Lösung kein Theoretiker vorwegzunehmen vermag, so beruht sie doch auf ethischen, nicht hintergehbaren Grundüberzeugungen und -werten, die - so Eric Plaisance - im Bereich der Bildung in dem Recht auf Schulbildung und in der Anerkennung von Verschiedenartigkeit liegen: „…inclusion is a struggle for the effective application of rights. It is also a continuous process which requires permanent creativity in terms of developing innovative practice in daily social life“ (ebd). Anmerkungen 1 Übersetzungen durch die Verfasserin 2 Die in der Integration regelhaft eingesetzten Stützlehrer in Italien oder Sonderpädagogen in Deutschland fehlen bislang in Frankreich. Wenn überhaupt, erfolgt zusätzliche pädagogische Unterstützung durch so genannte Hilfslehrer, wobei es sich mehrheitlich um befristet beschäftigte junge Leute handelt, die häufig über keinerlei spezielle Qualifizierung verfügen. 3 Die von mir frei übersetzten Absätze versuchen den Inhalt der jeweiligen Abschnitte wiederzugeben. Wie weit wir noch von einem europäischen Rahmen in der Behindertenpolitik entfernt sind, zeigt die Diskrepanz zwischen dem französischen Gesetzeswerk und der schwedischen Agenda 22 (vgl. Agenda 22 von 2004). Literatur Agenda 22 (2004): Umsetzung der UN-Standardregeln auf lokaler und regionaler Ebene. Überarbeitete Version der schwedischen Ausgabe, hrsg. von der Fürst-Donnersmark-Stiftung und der Deutschen Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e. V., Berlin Assante, V.; Stiker, H.-J.; Plaisance, E.; Sanchez, J. (2002): Mission d’étude en vue de la révision de la loi d’orientation du 30 juin 1975 en faveur des personnes handicapées. 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