eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 75/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2006
754

Reden oder erziehen?

101
2006
Urs Haeberlin
Ernst Suter
Lieber Urs, wer Mütter und Väter beim Umgang mit ihren Kindern beobachtet, merkt schnell einmal, welch große Rolle dabei dem Reden zukommt. Dem Gespräch als Erziehungsmittel scheint heute allgemein besondere Bedeutung zugemessen zu werden. Ich erkenne die erklärte Haltung, man müsse mit Kindern eben reden, von Lehrerkolleginnen und -kollegen sowie aus Elterngesprächen gut.
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340 Greifensee, den 19. Dezember 2005 Lieber Urs, wer Mütter und Väter beim Umgang mit ihren Kindern beobachtet, merkt schnell einmal, welch große Rolle dabei dem Reden zukommt. Dem Gespräch als Erziehungsmittel scheint heute allgemein besondere Bedeutung zugemessen zu werden. Ich erkenne die erklärte Haltung, man müsse mit Kindern eben reden, von Lehrerkolleginnen und -kollegen sowie aus Elterngesprächen gut. Als hätte man die Lösung aller Probleme gefunden, empfiehlt man gerne das Gespräch, das klärende, das wegweisende, das therapeutische Gespräch, gerade eben auch mit Kindern und Jugendlichen. Erziehungsgespräche werden in Schulen und Betreuungseinrichtungen, in Familien und in Einzelkontakten mit Kindern nahezu alltäglich geführt, denn Menschen kommunizieren in der Regel vorwiegend mit Sprache. Von ihr erwarten wir Verständigung und Vermittlung. Mit Gesprächen nehmen wir Einfluss. Sie sollen uns auch dazu dienen, erziehen zu können. Kurz: Reden in der Erziehung ist wichtig. Ganz anders sieht es offenbar Pestalozzi, auf den wir uns in Sachen Erziehung so gerne beziehen, wenn er schreibt: „Taten lehren den Menschen, und Taten trösten ihn - fort mit den Worten.“ Meint das denn nicht, der Rede sei genug, es solle zur Tat geschritten werden? Ich weiß natürlich, dass derart kontroverse Aussagen, wie sie hier vorzuliegen scheinen, nur vom Kontext her richtig verstanden werden können. Aber auch schon in dieser knappen Formulierung Pestalozzis erkenne ich eine Antithese zur oben erwähnten These: Reden ist wichtig. Nun verrät die Erziehungspraxis bekanntlich viele widersprüchliche Überzeugungen. Erziehende handeln oft bald so, bald so und dann wieder so. Auch was die Reden und Taten betrifft, wird sich ja wohl kaum jemand nur für das eine und konsequent gegen das andere entscheiden. So könnte man salomonisch folgern, es sei das Rezept zu empfehlen: „Das eine tun und das andere nicht lassen.“ Und damit bliebe man bei jedermann verstanden und zudem der Erziehungswirklichkeit recht nah. Erziehungsberatung läuft oft so. Das Thema: „Reden und Handeln im Erziehen“ verdient meines Erachtens aber eine differenzierendere Be- Reden oder erziehen? Ein Briefwechsel über Gespräch und Geschwätz in der Pädagogik Urs Haeberlin Freiburg Ernst Suter Greifensee Dialog Für diese Rubrik ist in jedem Heft ein Briefwechsel vorgesehen. In der Regel wird er zwischen einer Person aus der Wissenschaft und einer Person aus der Praxis geführt und bezieht sich auf Brennpunkte in Theorie, Praxis und Politik. Die Zusendung von kurzen Leserbriefen, die auf den Dialog Bezug nehmen, ist erwünscht. VHN, 75. Jg., S. 340 -346 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel trachtung, zu der ich hier lediglich einen Einstieg geben wollte. Nach meiner Erfahrung liegt die Schwierigkeit im erzieherischen Verhalten nämlich gerade darin, dass man sich im Augenblick je nur für das eine entscheiden kann, das andere aber mit reflektieren muss. Diese Kunst verlangt ein Sich-Einlassen auf Widersprüche, ohne dabei die Entscheidungsfähigkeit einzubüßen. Dass Dir zu diesem Thema einiges einfallen wird, ist für mich fraglos. Ob Du dazu Lust hast, muss ich Dir überlassen. Mit Deinem Gespür für das Wesentliche würdest Du mich bestimmt zu klärenden Reflexionen meinerseits anregen können. Ich freue mich auf eine Antwort. Mit guten Grüßen Dein Ernst Freiburg, den 12. Januar 2006 Lieber Ernst, offenbar reizt es Dich, unsere frühere Leidenschaft für Briefwechsel zu uns wichtig scheinenden Problemen neu zu aktivieren. Sie hatte uns in jungen Jahren oft zu nicht enden wollenden Disputen veranlasst. Es handelt sich auch beim schriftlichen Austausch um ein sprachliches Kommunizieren und Argumentieren, also um das von Dir thematisierte Reden über etwas. Wenn wir dies in jungen Jahren so intensiv und leidenschaftlich betrieben haben und jetzt erneut betreiben, dann muss es sich wohl um eines unserer Grundbedürfnisse handeln. Aufgrund der individuellen Erfahrung mit mir selbst, aber auch mit vielen Generationen von studierenden jungen Menschen vermute ich, dass es sich um ein generelles Grundbedürfnis von Menschen handelt. Wenn diese Vermutung zutrifft, dann müssten wohl Reden und Argumentieren auch zu den Grundbedürfnissen der an pädagogischen Verhältnissen Beteiligten, also beispielsweise der Kinder und Eltern, gehören. Allerdings machst Du die Sache dadurch komplizierter, dass Du vom „Gespräch als Erziehungsmittel“ sprichst; da stellt sich natürlich die Frage, ob der Gebrauch eines menschlichen Grundbedürfnisses als Mittel zu einem Zweck nicht dessen Zerstörung bedeutet. Ich vermute, dass sich Pestalozzis Ruf „Fort mit den Worten“ gegen den zweckrationalen Missbrauch des Redens mit Kindern richten sollte. Er war ja sehr wohl der Meinung, dass Kinder reden, lesen und schreiben lernen sollen, und hierzu waren für ihn natürlich Gespräche mit den Kindern wichtig. Aber für Pestalozzi gab es einen großen Unterschied zwischen einem Gespräch im Sinne eines Dialogs und einem bloßen Gerede. Der Begründer der modernen Heilpädagogik, Heinrich Hanselmann, den ich durchaus in die pestalozzianische Tradition einordne, hat dem Gespräch mit Kindern einen sehr hohen Stellenwert gegeben. Er hat dieses jedoch immer von dessen Perversion unterschieden, welche er „Geschwätz“ nannte. Dem stellte er die „Zwiesprache“ gegenüber, welche er als zentrales Element in der Gestaltung pädagogischer, aber auch anderer menschlicher Beziehungsverhältnisse betrachtete. Aber er hat unermüdlich darauf hingewiesen, dass oberflächlich hingeworfene Sätze insbesondere in heilpädagogischen Situationen kontraproduktiv wirken und die „Entwicklungshemmung“ noch verstärken können. In pädagogischen Beziehungsverhältnissen Gespräche als Dialoge gestalten zu können, ist eine Kunst, die sich aus einer entsprechenden menschlichen Grundhaltung nährt und in fortwährender Selbstkritik geübt werden muss. Hanselmann hat es so gesagt: „Gespräche mit Kindern zu führen, die nicht Monologe des Erziehers, sondern wirklich Zwiesprache (Gespräche) mit dem Kind sind, ist eine Kunst, in der wir nie auslernen können, die wir darum immer üben müssen.“ - Das ist zwar eine erste Annäherung an Deine Problemstellung, aber sie gibt noch längst keine Antwort auf die Frage, ob, wann, unter welchen Umständen und mit welchen Zielen man in pädagogischen Verhältnissen mit dem Reden oder erziehen? 341 VHN 4/ 2006 Kind reden oder eben gerade einmal auch nicht reden soll. Ebenso wenig ist es eine Antwort darauf, ob, wann und unter welchen Umständen wir ein Kind in seinem Rededrang gewähren lassen oder diesen unterdrücken sollen. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob sich solches Verhalten überhaupt in Rezepte bringen lässt, die dann Eltern und andern pädagogisch wirksamen Personen zu vermitteln sind. Kein Rezept kann die Perversion zum Geschwätz verhindern! Beim Lesen Deines Briefes ist mir ein Beispiel in den Sinn gekommen, das ich vor vielen Jahren in einem Vortrag für Eltern und andere pädagogisch interessierte Laien über die damals brennende Frage „autoritär oder demokratisch erziehen? “ mehr oder weniger erfunden hatte. Das Beispiel handelte davon, dass Eltern und ihr vierjähriges Kind für Sonntag zum Mittagessen bei den Großeltern eingeladen sind und rechtzeitig dort einzutreffen haben. Der vierjährige Sohn erklärt unverhofft: „Ich komme nicht mit, ich will lieber spielen.“ Die Eltern beginnen mit dem Kind zu debattieren und werden natürlich zunehmend nervös. Alles Auf-das- Kind-Einreden hilft unter den drängenden Umständen nichts; es will einfach nicht mitkommen. Den Eltern bleibt schließlich die Wahl, entweder den Kleinen mit physischer Gewalt ins Mäntelchen und anschließend ins Auto zu zwingen oder aber den Besuch bei den Großeltern abzusagen. In den meisten Fällen werden Eltern zum gewaltsamen Beenden der Episode greifen, d. h. dem Kleinen autoritär zeigen, wer die Macht hat. Denn man kann es sich in der Regel nicht leisten, so kurzfristig eine Einladung zu einem Mittagessen bei den Großeltern abzusagen - und dies mit der Begründung, dass der Kleine eben lieber spielen möchte! Für die meisten Eltern gilt die ungeschriebene Norm, dass man die Zusage zu einer Einladung auch einhält. Diese Norm wird dem Kleinen, nachdem das Reden nicht fruchtet, aufgezwungen, schon deshalb, weil die Eltern darauf abzielen, ihm allmählich die Norm ebenfalls einzupflanzen. - In der Regel wird sich die Sache nach einiger Zeit, wohl spätestens im Rahmen der Ablenkung nach der Ankunft bei den Großeltern, beruhigen und einlenken. Dramatischer kann sich eine solche Begebenheit allerdings in gewissen heilpädagogischen Situationen, beispielsweise beim Umgang mit einem Kind mit ausgesprochen autistischen Zügen oder mit einem Kind mit starker Tendenz zu Aggressionen, zuspitzen. Ich habe mich gefragt, warum mir im Zusammenhang mit Deiner Problemstellung gerade dieses Beispiel in den Sinn gekommen ist bzw. was es paradigmatisch zu Deiner Frage illustrieren könnte? Es zeigt, dass in Erziehungsverhältnissen Gespräche häufig dazu benützt werden, dem Kind mit Hilfe einer einseitigen Argumentation die Richtigkeit von Normen zu erklären. Im erwähnten Fall soll das Kind mit Zureden die Norm erfüllen, dass man zu einer Einladung pünktlich erscheint. Für das Kind ist aber offenbar die Norm, der Freude am Spielen zu gehorchen, stärker, und es hat natürlich keinerlei Chance, die Erwachsenen in partnerschaftlich argumentierender Zwiesprache von der Gültigkeit dieser Norm zu überzeugen. Es setzt ein Gerede der Erwachsenen mit Scheinargumenten ein, weil ja die Gültigkeit einer Norm gar nie mit einer „echten“ Argumentation „bewiesen“ werden kann. Normen sind letztlich nie mit Argumenten zu beweisende Setzungen und Konventionen. Wenn sich solches Gerede häufig wiederholt, erwirbt das Kind eine falsche Vorstellung von kritisch-rationalem Argumentieren. Vielleicht sind solche Modelle pseudoargumentierender Gespräche in unserer Kindheit ein Grund dafür, warum wir auch im Erwachsenenalter immer wieder ideologieanfällig und wenig bereit zum sauberen und konsequent rationalen Argumentieren sind? Daran, dass Gespräche zwischen Menschen allgemein und damit auch zwischen Kindern und Erwachsenen in pädagogischen Verhältnissen wichtig sind, zweifelst Du wohl so wenig wie ich. Die entscheidende Frage ist nur, in welchen Situationen wir auf das Reden verzichten und uns für „Taten“ entscheiden sollen? Eine weitere Frage ist dann auch, in wel- Urs Haeberlin, Ernst Suter 342 VHN 4/ 2006 chen Situationen Reden gar nichts mit Argumentieren, sondern mit Gestaltung von menschlicher Bindung zu tun hat? Wenn beispielsweise ein Kind Schmerzen hat, kann Reden sehr wichtig sein, aber sicher nicht das argumentierende Gespräch! Vielleicht gebe ich Dir mit meinen Zeilen Anlass, nach Beispielen aus Deiner langen Erfahrung zu suchen, die eine weitere Annäherung an das Problem erlauben. Ich bin gespannt auf Deinen nächsten Denkanstoß. Herzliche Grüsse Dein Urs Greifensee, den 15. Januar 2006 Lieber Urs, wenn es sich beim sprachlichen Kommunizieren um ein Grundbedürfnis des Menschen handelt, lässt sich seine Berechtigung in der erzieherischen Situation natürlich nicht bestreiten. Allerdings könnten und müssten wir uns vielleicht noch ausführlicher und dabei differenzierender über Formen und Inhalte des Redens, aber auch des Handelns unterhalten, um den möglicherweise etwas konstruierten Widerspruch von Worten und Taten als im Erziehen bedeutsam erscheinen zu lassen. Mit Hinweisen auf Hanselmann hast Du den Begriff „Zwiesprache“ ins Gespräch gebracht. Er verweist auf die Beziehungsqualität des Redens, die meiner Ansicht nach heute im „Wörterbrauchen“ oft genug nicht mehr zur Geltung kommt. Es könnte sich sogar bei der gängigen Gesprächsinflation um eine Beziehungsabwehr oder gar -flucht handeln. Werden uns nicht gerade Kinder manchmal „zu viel“? Mit unserem Briefwechsel, so sehr er uns zum Nachdenken anregen mag, handeln wir nun aber ja auch nicht, sondern wir disputieren nur, freilich in der Hoffnung, es möge nicht zum Geschwätz pervertieren. So wie Du wohl, zweifle ich entschieden daran, dass sich erzieherisches Verhalten, vorab das „Tatenvollbringen“, in Rezepte fassen ließe. Hingegen scheint mir Dein Vorangehen mit einem konkreten Beispiel schon eher wirksam, weil es zur Reflexion anhält. Ich lasse mich darum gerne dazu animieren, meinerseits mit zwei Beispielen Entscheidungssituationen zu erhellen, nämlich ob denn nun jeweils mit Worten oder Taten reagiert werden sollte. Erstes Beispiel: Auf dem Pausenplatz kommt es zu einer Prügelei zwischen zwei Kindern. Im Nu schart sich spontan angesprochenes sowie organisiertes „Publikum“ zum Rund. Die Situation erinnert an einen Boxkampf. Der mit der Pausenaufsicht beauftragte Lehrer muss reagieren. Spricht er ein Machtwort? Beendet er den Streit „handgreiflich“? Seine Einflussnahme lässt sich nicht wie bei einem Boxsportkampf auf einen Schiedsrichterentscheid reduzieren. Er weiß, dass er jetzt auch zu erziehen hat. Noch schwieriger als die Reaktion gegenüber den Streitenden ist das Verhalten gegenüber den Zuschauenden. Sie müssten eigentlich weggewiesen werden können. Aber wie? Und die Streitenden selber sind derart emotional „aufgeladen“, dass eine „zweckrational“ vermittelte Erörterung der Lage bei den Betroffenen kaum einschlägt. Belehrungen in einer solchen Situation schlagen in der Regel fehl. Es gilt vorerst, sich autoritär durchzusetzen. Das heißt, der Ernsthaftigkeit des Lehrers, mit der er diese Form der Auseinandersetzung beenden will, muss nachhaltig Wirkung verschafft werden mit Handeln. Die Angelegenheit wird indessen aufgearbeitet werden müssen. Der Lehrer wird vielleicht in späteren Turnstunden sportliches Kräftemessen mit Ringen auf der Matte unter Regelverhalten üben. Er wird in der Lebenskunde auf Friedensbemühungen (auch deren Wirkungslosigkeit) im Dialog zu sprechen kommen und eigene Wege diskutieren lassen. Es wird ihm ein Anliegen bleiben, schadenfreudiges oder sensationshungriges Voyeurentum aller Art missbilligend zu entlarven. Zusammenfassend interpretiert: Hier wird die Tat den Worten vorangehen müssen. Reden oder erziehen? 343 VHN 4/ 2006 Zweites Beispiel: Eine Mutter ruft aus dem Fenster ihr Kind vom Spielplatz nach Hause. Sie gibt gleichzeitig die Begründung ab, das Essen stehe bereit. Weil das Kind nicht heimkommt, wiederholt sie den Aufruf, vielleicht sogar mehrmals mit zunehmender Verärgerung, droht Folgen an wie sonst gebe es nichts mehr und steigert sich in einen Unmut hinein, bis das Kind dann doch heimkommt. Sie beschimpft es vielwortig, tischt ihm dann aber doch das Essen auf. Diese erzieherische Situation ist allein mit „Wortgebrauch“ bewältigt worden. Dabei ist die Wirksamkeit der Wörter gering geblieben. Es ist eine Tat (die Heimkehr) verlangt und keine Tat (das Heimholen oder das angedrohte Leerausgehen) geleistet worden. Das Kind kennt die Verbindlichkeit der Worte (noch) nicht, wird sie so auch nicht kennen lernen. Sie zu lehren ist eine anspruchsvolle, früh und konsequent wahrzunehmende Erziehungsaufgabe. Wo sie versäumt, vernachlässigt oder auch nicht zu leisten verstanden wird, bleiben oft Eltern zurück, die ihr Kind nur noch duldend ertragen oder aus dem Strafen nicht mehr herausfinden können. Hier kann zusammengefasst werden: Den Worten müsste die Tat folgen, und zwar möglichst bevor man sich in Androhungen und Strafen verliert. Beide Beispiele erhellen nicht so sehr den Widerspruch zwischen Reden und Handeln als deren Abhängigkeit voneinander - was bei vielen Widersprüchen aufzuzeigen ist. Was da als Vorbeziehungsweise Nacheinander verstanden worden ist, könnte in anderen Beispielen als ratsames Miteinander beleuchtet werden. Reden und Tun, also ein Sowohl-als-Auch? Entscheidend bleiben die unterschiedliche Bedeutung und Wirkung. So ist das Reden ebenso stark der Gefahr der Unverbindlichkeit ausgesetzt wie das Handeln der Gefahr der Willkür. Führen solche Unterscheidungen aber wirklich weiter? Was mir bei meinen Beobachtungen verwunderlich bleibt, ist die Feststellung, dass auch und gerade in der Erziehung so häufig keine Übereinstimmung von Worten und Taten auszumachen ist. Dabei ginge es in der erzieherischen Verantwortlichkeit in besonderem Maße darum, Sagen und Tun in Deckung zu bringen. Noch mag ich mich nicht mit einem Satz von W. J. Reus zufrieden geben: „Und da war doch der Satiriker, der meinte: ‚Wenn ich es ernst meinen würde, würde ich es nicht sagen, sondern es tun.‘“ Dein Weiterhelfen wäre mir willkommen. Mit ebenfalls herzlichen Grüßen Dein Ernst Freiburg, den 6. Februar 2006 Lieber Ernst, in den von Dir und von mir beschriebenen Beispielen wird Sprache von Eltern und professionellen Pädagogen als ein Mittel eingesetzt, das beim Kind etwas bewirken soll. Mit dem Mittel der Sprache soll ein Wunsch, eine Anweisung oder ein strikter Befehl durchgesetzt werden. Die Wörter könnten von Mitteln wie Androhung von Bestrafung, Versprechen einer Belohnung, handgreiflichem Zupacken oder gar Schlägen begleitet oder ersetzt sein. Was ich androhe oder verspreche, muss ich realisieren. Nur so verhindere ich ein zunehmend wirkungsloses Verpuffen von Drohungen und Versprechungen. Bei dieser Art der Verwendung von Sprache handelt es sich eigentlich um nichts anderes als um das geschickte Dosieren von Lob und Tadel, wie es schon die Pädagogen der Aufklärung entdeckt hatten und wie es in der modernen Technik der Verhaltensmodifikation systematisiert worden ist. So verwendete Sprache kann zwar durchaus zu den gewünschten Erfolgen führen; aber sie kann nicht den Weg zur Mündigkeit im Sinne von Kritikfähigkeit und selbstständigem Denken ebnen. Der ohnehin nur als Paradoxon verstehbare Schritt von der Fremdbestimmung des Kindes zur Selbstbestimmung des Erwachsenen wird dadurch nicht erleichtert. Urs Haeberlin, Ernst Suter 344 VHN 4/ 2006 Somit müssen wir uns auf weitere Funktionen von Sprache besinnen. Ein Blick auf die Aufklärungstradition neuzeitlicher Pädagogik zeigt, dass Sprache in einem engen Zusammenhang mit Denken steht. Formulieren und Austauschen von Argumenten vollziehen sich in sprachlichen Diskursen. Sprache ist nun nicht mehr Mittel zur Verhaltensmodifikation im Sinne einer nicht durchschauten Manipulation oder einer Durchsetzung des Mächtigeren. Wenn wir den diskurs- und argumentationsbereiten Erwachsenen als Entwicklungsziel vor Augen haben, dann hat dies zur Konsequenz, dass wir das Kind frühzeitig als Argumentationspartner ernst nehmen und es in seiner Kritikbereitschaft und -fähigkeit bestätigen. Damit bin ich bei einem pädagogischen Widerspruch angekommen, der seit dem pädagogischen Aufbruch in der Aufklärung immer wieder herausfordert und verunsichert: Wie ist es möglich, dass mit dem Mittel der Sprache Menschen zunächst diszipliniert werden und dann aber mit Hilfe desselben Mittels auch zu kritisch argumentierenden Bürgern werden können? Könnte es sein, dass wir deshalb immer wieder Katastrophen als Folge politischer Verführbarkeit erleben müssen, weil den Kindern und Jugendlichen eine Sprache als Vehikel des Denkens vermittelt wird, deren Begriffsbedeutungen und Grammatikstrukturen von jeweils herrschenden Ideologien geprägt sind? Besonders deutlich hat sich dies in totalitären Systemen mit geschlossenen Ideologien wie im nationalsozialistischen Deutschland oder in der stalinistischen Sowjetunion bestätigt. Viel subtiler läuft es unter den Bedingungen des derzeitig sich entwickelnden globalisierten und flexibilisierten Kapitalismus ab. Ob ein Kind bzw. Jugendlicher beispielsweise als Charakterisierung unserer ökonomischen Strukturen die Sprachwendung „freie Marktwirtschaft“ oder die Sprachwendung „globalisierter Kapitalismus“ hört, dürfte für seine Art des Argumentierens prägend sein. Es gehört für mich durchaus zu den Aufgaben der Pädagogik, solches durchschaubar werden zu lassen. Solange die Dialektik zwischen der Fremdbestimmung des Denkens durch die gesellschaftlich vermittelte Sprache und dem Ideal des autonomen und ideologiekritischen Argumentierens in Diskursen von Gleichberechtigten immer wieder als ein Wesensmerkmal des menschlichen Geistes erkannt wird, sind wir vor dem Versinken in neue Barbarei geschützt. Deshalb ist Kindererziehung nicht nur eine Kunst der adäquaten Mittelwahl, sondern auch ein aufklärerischer Auftrag zum „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (wie es Kant schon 1784 formuliert hatte). Wie ich schon in meinem letzten Brief erwähnt habe, hat Sprache nochmals eine ganz andere Funktion: Sie kann eine wichtige Form von emotionaler Verständigung sein. Wenn ich ein Kind mit Worten tröste oder wenn wir zusammen ein Lied singen, dann geht es natürlich nicht um das Argumentieren mit Wörtern und Sätzen. Und doch bedienen wird uns auch in „nur“ emotional geprägten Situationen oft und gerne der Sprache. Wir müssen uns als kritische Pädagogen nur bewusst bleiben, dass gerade die Vermischung von emotionaler und argumentativer Funktion von Sprache deren oft verhängnisvollen Missbrauch durch populistische Politiker und verführungsbereite Ideologen möglich macht. Zugleich können wir aber nicht leugnen, dass gerade die emotionale Funktion von Sprache in heilpädagogischen Situationen etwa mit Menschen mit schweren Behinderungen von größter Bedeutung für deren Lebensqualität sein kann. Natürlich gilt dies auch für Menschen ohne Behinderung. So eröffnet sich auch unter dieser Perspektive wieder Dialektik, die ich als Wesensmerkmal des menschlichen Geistes sehe. Solche Dialektik nicht nur zu erkennen, sondern auch anzuerkennen, habe ich immer als einen wichtigen Auftrag bei der Bildung meiner Studentinnen und Studenten gesehen! Ich halte dies für ein wesentliches Ziel allgemeiner Menschenbildung! Herzliche Grüße Dein Urs Reden oder erziehen? 345 VHN 4/ 2006 Greifensee, den 9. Februar 2006 Lieber Urs, dein Antwortbrief tischt - wie ich es von Dir gewohnt bin und mir auch weiterhin wünsche - mancherlei Themen auf. Da bleibt über die Bedeutung der Sprache, die Dialektik als Wesensmerkmal des Geistes, den Weg der Erziehung von der Fremdzur Selbstbestimmung nachzudenken. Ich werde es, wie hoffentlich manche Leserin und mancher Leser dieses Briefwechsels auch, tun, nicht ohne mein Grundanliegen zusammenfassend noch einmal anzufügen: In allem Reden und Tun, im Erziehen aber im Besonderen, geht es um bestmögliche Redlichkeit. Wer erzieht, geht eine persönliche Bindung ein. Im erzieherischen Begegnen gilt, in der Haltung wie im Verhalten, dass Worte und Taten mit dem übereinstimmen, was ich selber meine und lebe. Solche Redlichkeit ist für mich erzieherische Kernkompetenz, auf die jedes Kind Anspruch hat. Wo Verbindlichkeiten das Zusammenleben prägen, hat auch der Dialog seinen Sinn. So hoffe ich es auch für diesen Briefwechsel, für den ich Dir danke. Herzliche Grüße Dein Ernst Prof. Dr. Urs Haeberlin Ordinarius für Heilpädagogik und Direktor des Heilpädagogischen Instituts der Universität Freiburg (Schweiz) Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg E-Mail: urs.haeberlin@unifr.ch Ernst Suter Sonderschullehrer im Ruhestand Sandbüelstraße 30 CH-8606 Greifensee Urs Haeberlin, Ernst Suter 346 VHN 4/ 2006