eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 76/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Sonderpädagogik und die Neurowissenschaften: das Fallbeispiel Autismus

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2007
Dominik Gyseler
Thema dieses Artikels sind die neurowissenschaftlichen Grundlagen der Sonderpädagogik. Im Zentrum steht die Frage, ob neurowissenschaftliche Erkenntnisse dazu beitragen können, Entwicklungsbeeinträchtigungen besser zu verstehen. Anhand des Fallbeispiels Autismus kann gezeigt werden, dass sowohl präziser bestimmt werden kann, welche mentalen Prozesse genau beeinträchtigt sind, als auch,warum dies so ist. Abschließend werden auf dieser Basis Umrisse einer neurowissenschaftlichen Grundlegung sonderpädagogischer Maßnahmen für Kinder mit Autismus skizziert.
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102 Sonderpädagogik und die Neurowissenschaften: das Fallbeispiel Autismus Dominik Gyseler Hochschule für Heilpädagogik Zürich Zusammenfassung: Thema dieses Artikels sind die neurowissenschaftlichen Grundlagen der Sonderpädagogik. Im Zentrum steht die Frage, ob neurowissenschaftliche Erkenntnisse dazu beitragen können, Entwicklungsbeeinträchtigungen besser zu verstehen. Anhand des Fallbeispiels Autismus kann gezeigt werden, dass sowohl präziser bestimmt werden kann, welche mentalen Prozesse genau beeinträchtigt sind, als auch, warum dies so ist. Abschließend werden auf dieser Basis Umrisse einer neurowissenschaftlichen Grundlegung sonderpädagogischer Maßnahmen für Kinder mit Autismus skizziert. Schlüsselbegriffe: Autismus, Sonderpädagogik, Neurowissenschaften Special Education and the Neurosciences: Exemplified by Autism Summary: This article deals with the neuroscientific fundamentals of special education. The point at issue is whether neuroscience can contribute to an improved educational understanding of developmental disorders. Focusing on autism, it is demonstrated how the affected mental processes can be more precisely identified and - in most cases - explained. The findings adumbrate a neuroscientific basis for a special educational approach for children with autism. Keywords: Autism, special education, neuroscience Fachbeitrag VHN, 76. Jg., S. 102 -113 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 1 Ausgangslage In den letzten zehn Jahren ist eine kaum mehr überschaubare Anzahl von Publikationen erschienen, die von neuronalen Korrelaten bestimmter Lern- und Verhaltensprozesse berichten. In der Pädagogik hat die Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Hirnforschung schnell zu eigenen Subdisziplinen wie der Neuropädagogik oder Neurodidaktik geführt (Preiss 1996; Friedrich/ Preiss 2003). Heute sind die erkenntnistheoretischen Grundlagen und die Erfolgsbilanz dieser Disziplinen Gegenstand einer intensiven Debatte (Becker 2005; 2006) In dieser Auseinandersetzung wird bisweilen auch kritisch angemerkt, dass vieles wiederholt wird, das in der Psychologie schon seit langer Zeit bekannt ist. Zudem sind die pädagogischen Empfehlungen oft sehr allgemein gehalten und teilweise völlig unkontrovers (Goswami 2004; Blakemore/ Frith 2005; Borck 2006). Inwieweit dies die Folge grundlegender konzeptueller Probleme der Neuropädagogik sein könnte, wird an anderer Stelle diskutiert (Gyseler 2006). Im Gegensatz zu den Rezeptionsbemühungen der Pädagogik sind im deutschsprachigen Raum bisher erstaunlich wenige Beiträge zur Frage des Verhältnisses der Sonderpädagogik zu den Neurowissenschaften zur Diskussion gestellt worden. Hervorstechend sind dabei zweifelsohne die systematischen Ausführungen von Jantzen (1990) über die neurowissenschaftlichen Grundlagen der Allgemeinen Behindertenpädagogik. Jantzen hat sogar nichts weniger als die neurowissenschaftliche Grundlegung der Behindertenpädagogik im Blick. Im Kern versucht er, dazu eine Theorie der menschlichen Entwicklung zu entfalten, die mit ausgewählten neurowissenschaftlichen Befunden kompatibel ist. Die Eckpfeiler der neurobiologischen Basis bilden Erkenntnisse zur biologischen Selbstorganisation des Menschen und hier bei- VHN 2/ 2007 103 Sonderpädagogik und die Neurowissenschaften spielsweise darüber, dass und wie der Mensch seine erlebte Wirklichkeit selber konstruiert (Maturana/ Varela 1987). Zusammengeführt in einem entwicklungsneuropsychologischen Theoriegebäude, wird schließlich davon eine pädagogische Anthropologie abgeleitet, die Aussagen zur Lernfähigkeit, Bildsamkeit und Erziehbarkeit von Menschen umfasst - insbesondere von jenen, deren Entwicklung beeinträchtigt verläuft. Dieser Abriss wird den opulenten konzeptuellen Überlegungen von Jantzen sicherlich nicht gerecht. Er genügt aber bereits, um andeuten zu können, inwiefern mit den folgenden Ausführungen ein anderes Verhältnis von Sonderpädagogik und Neurowissenschaften vertreten werden wird. Der Unterschied ist dabei nicht der Weiterentwicklung neurowissenschaftlicher Befunde seit 1990 geschuldet, obwohl gerade im Bereich des frühkindlichen Autismus, auf den sich Jantzen auch bezieht (1990, 143ff), in den letzten zehn Jahren bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen wurden, wie die folgenden Kapitel zeigen werden. Vielmehr umfasst der Dissens die prinzipiellen Fragen, was die Neurowissenschaften aus der Sicht der Sonderpädagogik sollen und können. 2 Was sollen die Neurowissenschaften leisten? Aus der Sicht der Sonderpädagogik ist zunächst zu fragen, was die Neurowissenschaften leisten sollen. Was qualifiziert neurowissenschaftliche Erkenntnisse aus sonderpädagogischer Sicht als weiterführend? Im Folgenden wird zunächst einmal davon ausgegangen, dass sich die Sonderpädagogik mit der Theorie und Praxis der Erziehung und Bildung jener Menschen beschäftigt, deren Entwicklung beeinträchtigt verläuft oder voraussichtlich verlaufen wird (Hoyningen-Süess/ Gyseler 2005). Demnach besteht ein zentraler Auftrag der Sonderpädagogik als Wissenschaft im Erklären von Entwicklungsbeeinträchtigungen. Dies erfordert die Auseinandersetzung mit Bezugsdisziplinen wie der Medizin, Biologie, Psychologie, Soziologie - und möglicherweise auch den Neurowissenschaften. Im schulischen Bereich, auf den dieser Beitrag ausgerichtet ist, stehen Beeinträchtigungen der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung im Zentrum. Das Ziel des Einbezugs neurowissenschaftlicher Erkenntnisse besteht letztlich darin, Beeinträchtigungen des Lernens und Verhaltens besser zu verstehen, damit sonderpädagogische Maßnahmen adäquater geplant, durchgeführt und überprüft werden können. Im Unterschied zum Erklären, das einen kausalen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung einschließt, meint das Verstehen hierbei zudem die Bedeutung der Entwicklungsbeeinträchtigung für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Nur so lässt sich die Entwicklungsbeeinträchtigung auch in Bezug zu bestimmten Erziehungs- und Bildungszielen stellen. Vor diesem Hintergrund geht es zunächst einmal um die Frage, ob die Sonderpädagogik überhaupt neurowissenschaftliche Grundlagen hat. Dies wird in erziehungs- und sozialwissenschaftlichen, aber auch in philosophischen Kreisen recht kontrovers diskutiert. Selbst wenn anerkannt wird, dass zum Beispiel tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie Autismus neurowissenschaftlich zugängliche Störungen zugrunde liegen, herrscht kein Konsens darüber, dass dies notwendigerweise ein besseres Verstehen der Störung ermöglicht. Im nächsten Schritt wird deshalb dargelegt, was die Neurowissenschaften können. Dazu sind neurophilosophische Überlegungen anzustellen. 3 Was können die Neurowissenschaften leisten? Sofern neurowissenschaftliche Erkenntnisse dazu dienen, Entwicklungsbeeinträchtigungen besser zu verstehen als mit dem alleinigen Rückgriff auf psychologische (und soziologische) Theorien, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen neuronalen und mentalen Prozessen sowie nach dem Zusammenhang zwischen neurowissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnissen. Damit beschäftigt sich die Neurophilosophie (für Übersichten vgl. Pauen 2001; Kim 1998; 2006). Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis zwischen neuronalen und mentalen Prozessen vertritt heute eine überwiegende Mehrheit der Autoren eine materialistische Position. Demnach werden mentale Prozesse - zum Beispiel sich gedanklich in seine Mitmenschen hineinzuversetzen und hineinzufühlen - stets neuronal realisiert, d. h. mentale Prozesse sind immer auch neuronale Prozesse. Man kann diese Aussage sogar noch zuspitzen: Innerhalb der verschiedenen Varianten materialistischer Positionen legt die überwiegende Zahl neurowissenschaftlicher Forschungsgruppen ihren Untersuchungen - gleichwohl mehr implizit denn explizit - die so genannte Identitätstheorie zugrunde. Hierbei sind, zumal aus der Sicht des sonderpädagogischen Erkenntnisinteresses, zwei Spielformen zu unterscheiden (Pauen 2001). Gemäß der stärkeren Typen-Identitätstheorie ist jeder Typ eines mentalen Zustandes oder Prozesses identisch mit einem bestimmten Typ neuronalen Zustandes oder Prozesses. Davon zu unterscheiden ist die schwache Variante der Identitätstheorie, die Token-Identitätstheorie, nach welcher jeder mentale Zustand irgendeine neuronale Realisierung hat. Die Typen-Identität ist nun nicht in einem analytischen Sinne zu verstehen, sondern im Sinne einer Identität a posteriori. Um eine viel zitierte Analogie zu verwenden: So wie Wasser identisch ist mit H 2 O und die Eigenschaften von Wasser (z. B. flüssig, durchsichtig; kann vereisen, verdampfen) mit Rückgriff auf seine chemischen Eigenschaften erklärt werden können, sind mentale Prozesse wie beispielsweise die Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle der Mitmenschen einschätzen zu können, erklärbar durch bestimmte neuronale Prozesse. Welche neuronalen Prozesse dies im Einzelnen sind, steht nicht a priori fest, deren Erforschung ist Aufgabe neurowissenschaftlicher Untersuchungen. Neurowissenschaftliche Forschungsprogramme sind aus nahe liegenden forschungsheuristischen Gründen dieser Typen-Identitätstheorie verpflichtet, wenn sie ihre Befunde interpretieren: Wenn davon ausgegangen wird, dass jeder mentale Prozess mit einem bestimmten neuronalen Prozess einhergeht, liefern die gemessenen neuronalen Aktivitäten Verdachtsmomente auf die korrespondierenden mentalen Prozesse, die möglicherweise eben noch nicht Gegenstand bisheriger psychologischer Erklärungsansätze sind. Damit ist nicht nur die Bestätigung vorliegender psychologischer Erkenntnisse, sondern auch die Bildung neuer psychologischer Thesen möglich, die letztlich dazu dienen, Entwicklungsbeeinträchtigungen besser zu verstehen. Nun liegt jedoch zwischen Vertretern der Psychologie und den Neurowissenschaften ein Dissens bezüglich der Frage vor, inwieweit bereits eine Erklärung vorliegt, wenn die neuronalen Korrelate eines bestimmten mentalen Prozesses bekannt sind. Der Kardinalvorwurf der Psychologie an die Neurowissenschaften lautet gemeinhin, dass dort Korrelation und Kausalität konfundiert würden, wo doch vielmehr neuronale Prozesse die korrespondierenden mentalen Prozesse einfach auf einer anderen Ebene beschreiben. Der Dissens könnte allerdings dem Umstand geschuldet sein, dass die Psychologie und die Neurowissenschaften im Grunde von zwei verschiedenen Formen von Erklärungen sprechen. Die Erklärungen der Psychologie sind in erster Linie darauf ausgerichtet, das Entstehen mentaler Zustände oder Prozesse zu beschreiben. Sie umfassenden einen zeitlichen Prozess, mit dem eine bestimmte Wirkung auf eine bestimmte Ursache zurückgeführt werden kann. Die Erklärungen der Neurowissenschaften dagegen sind oftmals darauf ausgerichtet, die Dominik Gyseler 104 VHN 2/ 2007 neuronalen Grundlagen mentaler Prozesse zu beschreiben. Neurowissenschaftliche Erklärungen sagen uns, durch welche neuronalen Prozesse bestimmte mentale Prozesse realisiert werden. Die meisten Studien im Bereich der kognitiven Neurowissenschaften beschäftigen sich deshalb mit der Suche nach neuronalen Strukturen und Prozessen, die bestimmten mentalen Prozessen zugrunde liegen. Auf der Grundlage der Typen-Identitätstheorie und der Unterscheidung verschiedener Formen von Erklärungen lassen sich aus der Sicht der Sonderpädagogik drei Fragen formulieren, deren Behandlung dazu führen kann, Entwicklungsbeeinträchtigungen besser zu verstehen: 1. Die Kenntnis bestimmter neuronaler Strukturen und Prozesse bei Kindern mit Entwicklungsbeeinträchtigungen hilft zu klären, welche spezifischen Funktionen beeinträchtigt sind. 2. Die Kenntnis der Entwicklungsneurobiologie hilft, die Ursache bzw. die Entstehung von Entwicklungsbeeinträchtigungen zu klären. 3. Die Kombination dieser beiden Zugänge hilft einzuschätzen, inwieweit die Entwicklungsbeeinträchtigungen dieser Kinder mit Hilfe von pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen beeinflusst werden können. Es liegt also kein prinzipielles Problem vor, was die neurowissenschaftlichen Grundlagen der Sonderpädagogik betrifft. Allerdings stellt sich die Frage nach einem allfälligen empirischen Problem. Ein solches würde dann vorliegen, wenn der Einbezug neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zwar prinzipiell zu einem besseren Verstehen von Entwicklungsbeeinträchtigungen führen könnte, wenn aber (noch) zu wenige empirische Befunde vorliegen würden, um dies auch wirklich umsetzen zu können. Diese Auffassung soll anhand eines konkreten Fallbeispiels geklärt werden. 4 Fallbeispiel Autismus Mit dem Fallbeispiel Autismus soll überprüft werden, ob die vorherrschenden psychologischen Erklärungsansätze zu Autismus auf dieser Grundlage weiterentwickelt werden können. Das Thema Autismus ist deshalb geeignet, weil dazu relativ umfangreiche neurowissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, insbesondere auf den Ebenen der Neurobiologie, der Neurophysiologie und der Neuropsychologie. Gekennzeichnet ist Autismus durch Besonderheiten der sozialen Interaktion, der verbalen und non-verbalen Kommunikation sowie durch repetitives Verhalten (American Psychiatric Association, DSM IV, 1994). Bei etwa 10 % der Menschen mit Autismus sind zudem bestimmte Inselbegabungen zu beobachten. Wenn in diesem Kapitel von Autismus die Rede ist, wird immer auf das ganze Spektrum autistischer Verhaltensweisen (ASD) Bezug genommen, das sowohl den frühkindlichen Autismus als auch das Asperger-Syndrom umfasst. Im Moment sind drei vorherrschende psychologische Erklärungsansätze zu Autismus auszumachen (Baron-Cohen 2004): Theory of mind, executive function sowie central coherence. Im Folgenden wird der Reihe nach überprüft, ob diese Erklärungsansätze durch die Bestimmung ihrer neuronalen Korrelate bestätigt oder gar präzisiert werden können. 4.1 Theory of mind Mit dem Ansatz der theory of mind werden die sozio-emotionalen Besonderheiten von Menschen mit Autismus beschrieben. Gemeint ist die Fähigkeit, sich selber oder seinen Mitmenschen mentale oder emotionale Zustände zuzuschreiben und damit deren Verhalten zu interpretieren. Ist diese Fähigkeit beeinträchtigt, kann das Verhalten anderer Menschen weder angemessen erklärt noch vorhergesagt werden. Dies hat Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und Kommunikation zur Folge. Sonderpädagogik und die Neurowissenschaften 105 VHN 2/ 2007 Theory of mind (1) STS (2) TP (3) MPFC (4) FFA (5) Amygdala Schwache zentrale Kohärenz (3) PFC (6) Occipitallappen Linke Seitenansicht des Gehirns Exekutive Dysfunktionen (3) PFC Abb. 1: Grobe Lokalisierung der im Text erwähnten neuronalen Korrelate der beeinträchtigten Informationsverarbeitung bei Menschen mit Autismus, aufgeteilt nach den drei im Moment vorherrschenden psychologischen Erklärungsansätzen VHN 2/ 2007 106 Dominik Gyseler Einer anderen Person bestimmte mentale Zustände zuzuschreiben, geht normalerweise mit der Aktivität eines neuronalen Systems einher, welches auch als „soziales Gehirn“ bezeichnet wird. Es umfasst drei Komponenten der Grosshirnrinde (vgl. Frith/ Frith 2003): den superior temporal sulcus (STS), die temporalen Pole (TP) sowie den medialen präfrontalen Cortex (MPFC) (vgl. Abbildung 1). Neben diesem System sind zudem die Amygdala und - falls Gesichter verarbeitet werden müssen - das Areal der Gesichtsrepräsentation im Gyrus fusiformis (fusiform face area; FFA) aktiviert. Bei Menschen mit Autismus ist in allen diesen Regionen in der Regel eine verminderte neuronale Aktivität festzustellen, wenn sie mit solchen Anforderungen konfrontiert werden. Selbstverständlich ist ihr Gehirn dabei nicht gänzlich inaktiv. Mit dem inferior temporal gyrus (ITG) ist vor allem in einer Region eine erhöhte Aktivität zu verzeichnen, die normalerweise mit der Verarbeitung von Objekten einhergeht. Mit diesem Wissen über die erhöhten/ geminderten neuronalen Aktivitäten ist es nun bereits möglich, Annahmen darüber zu treffen, welche spezifischen mentalen Prozesse im Bereich der theory of mind beeinträchtigt sind - und wie Menschen mit Autismus versuchen, die Anforderungen trotzdem zu bewältigen. Menschen mit Autismus sind demnach nicht oder kaum in der Lage, ein Gegenüber als handelnde Person mit bestimmten Intentionen zu erkennen (Funktion des STS), Erfahrungswissen abzurufen, wie sich Personen mit diesen Merkmalen in der Vergangenheit verhalten haben (Funktion der TP), sowie sich von der augenblicklichen physischen Realität zu lösen und einen Perspektivenwechsel vorzunehmen (Funktion des MPFC). Mehr noch: Es kann angenommen werden, dass Menschen mit Autismus Gesichter nicht als sozio-emotional bedeutsam einstufen (Funktion der Amygdala), sie stattdessen als Objekte verarbeiten (Funktion des ITG), und dass deshalb die Frage nach der Zuschreibung mentaler oder emotionaler Zustände für sie gar keine Bedeutung aufweist. 4.2 Executive functions Der zweite psychologische Erklärungsansatz ist jener der executive function. Er ist in erster Linie auf die Erklärung der stereotypen Verhaltensweisen von Menschen mit Autismus ausgerichtet. Exekutive Funktionen umfassen jene geistig höheren Funktionen, die für die Kontrolle von Handlungen notwendig sind: Planung, mentale Flexibilität und Impulskontrolle (Hill 2004). Um Handlungen kontrolliert ausführen zu können, muss man sich die Abfolge von Teilhandlungen vorstellen können (Planung), man VHN 2/ 2007 107 Sonderpädagogik und die Neurowissenschaften muss in der Lage sein, auf veränderte Bedingungen einzugehen (mentale Flexibilität) und bestimmte Handlungstendenzen unterdrücken können (Impulskontrolle). Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, so wiederholen sich einzelne Handlungsabfolgen fortwährend - es kommt zu Perseverationen. Menschen mit Autismus zeigen in der Regel Schwierigkeiten bei bestimmten Anforderungen der Handlungsplanung und bei der mentalen Flexibilität, jedoch nur teilweise in ihrer Impulskontrolle. Das Problem scheint darin zu liegen, dass diese Menschen kaum in der Lage sind, sich auf eine Geschehensdynamik einzulassen. Welche Prozesse sind dabei im Gehirn zu verzeichnen? Alle drei Formen exekutiver Funktionen werden im präfrontalen Cortex (PFC) realisiert (vgl. Abbildung 1). Der PFC empfängt eine Reihe von Informationen und verarbeitet sie im Hinblick auf die aktuelle Situation, kann also als psychische Denk- und Schaltzentrale beschrieben werden. Die wenigen Studien, die zu den neuronalen Grundlagen der exekutiven Dysfunktionen bei Menschen mit Autismus vorliegen, bestätigen jedoch lediglich die nahe liegende Vermutung, dass zum Beispiel bei Planungsaufgaben verminderte Aktivitäten im Bereich des PFC zu verzeichnen sind - nicht aber, in welchen spezifischen Teilen des PFC und dementsprechend auch nicht, welche mentalen Prozesse beeinträchtigt sind oder eben nicht. Im Gegensatz zur theory of mind können damit die beeinträchtigten mentalen Prozesse durch die neuronalen Korrelate nicht präzisiert werden. 4.3 Central coherence Der dritte psychologische Erklärungsansatz ist jener der central coherence. Im Gegensatz zu den beiden bereits skizzierten Ansätzen ist diese Erklärungsweise auch auf die Stärken von Menschen mit Autismus ausgerichtet, namentlich auf deren Inselbegabungen (Happé 1999). Gleichzeitig bezieht sie sich aber auch auf Schwächen, so zum Beispiel auf die Frage, warum Menschen mit Autismus kleinste Veränderungen der Umwelt wahrnehmen und irritiert darauf reagieren. Die Funktion der zentralen Kohärenz umschreibt die menschliche Neigung, Informationen in ihrem Kontext und als Ganzes zu verarbeiten - in der Regel auf Kosten der Details. Eine schwache zentrale Kohärenz äußert sich somit in einem kognitiven Stil, der sich durch eine am Detail orientierte, singuläre Informationsverarbeitung auszeichnet. Psychologische Studien bestätigen die Theorie sowohl bei visuell-räumlichen als auch verbal-semantischen Anforderungen: Bei Aufgaben, bei denen eine umfassende Informationsverarbeitung erforderlich ist, schneiden Menschen mit Autismus unterdurchschnittlich ab. Anforderungen, bei denen eine detaillierte Informationsverarbeitung erforderlich ist, bewältigen sie dagegen gleich gut oder sogar besser als der Durchschnitt (vgl. Happé u. a. 2001). Sowohl bei Erfolgen als auch bei Misserfolgen sind ähnliche neuronale Prozesse zu beobachten. Menschen mit Autismus zeigen verminderte Aktivitäten im präfrontalen Cortex, jedoch vermehrte in den Regionen des für die visuelle Wahrnehmung zuständigen occipitalen Cortex (Ring u. a. 1999) (vgl. Abbildung 1). Man unterscheidet in diesem Zusammenhang bottom-up- und top-down Prozesse. Informationen, die durch die Sinnesorgane eintreten, werden laufend von höheren kognitiven Funktionen kontrolliert; diese wiederum nehmen Einfluss auf die weitere Verarbeitung etc. Bei Menschen mit Autismus scheint dieses Zusammenspiel nicht zu funktionieren (Frith/ Frith 2003): Währenddem top-down-Prozesse stark beeinträchtigt sind und kaum eine Kontrollfunktion ausüben, sind bestimmte bottomup-Prozesse durch normal oder gar überdurchschnittlich starke neuronale Aktivitäten gekennzeichnet. Auf der mentalen Ebene äußert sich dies im Muster der lokalen Informationsverarbeitung. 4.4 Zwischenfazit Hinsichtlich der Frage, welche mentalen Prozesse bei Menschen mit Autismus genau beeinträchtigt sind, liegen unterschiedliche neurowissenschaftliche Erkenntnisse vor. Am weitesten fortgeschritten ist die Untersuchung der neuronalen Prozesse, die mit der mangelnden Fähigkeit einhergehen, seinen Mitmenschen bestimmte mentale oder emotionale Zustände zuzuschreiben - der so genannten „theory of mind“. In der Tat scheint es hier möglich zu sein, die Beschreibung der beeinträchtigten Prozesse mit Hilfe neurowissenschaftlicher Befunde zu präzisieren und somit dieses Phänomen besser erklären zu können (zur Kritik der empirischen Basis der theory of mind vgl. Smukler 2005). Zu den beiden anderen Erklärungsansätzen hingegen liegen derzeit noch zu wenige neurowissenschaftliche Erkenntnisse vor, als dass sie präzisiert werden könnten. Damit nun aber nicht nur erklärt werden kann, woraus solche Beeinträchtigungen bestehen, sondern auch, wie und unter welchen Bedingungen sie entstehen, müssen die neuronalen Korrelate in den Gesamtzusammenhang einer neurowissenschaftlichen Theorie gestellt werden, bevor diese Erkenntnisse in eine psychologische Terminologie und damit eine Neuropsychologie des frühkindlichen Autismus übersetzt werden. 5 Wie entstehen die Entwicklungsbesonderheiten? Die Herausforderung einer umfassenden neurowissenschaftlichen Theorie über Autismus besteht im breiten Spektrum der Symptome, das sowohl kognitive als auch sozio-emotionale Besonderheiten umfasst. Vor diesem Hintergrund müssen zwei Varianten neurowissenschaftlicher Erklärungsansätze unterschieden werden: Entweder ist von einer Beeinflussung mehrerer, voneinander unabhängiger neuronaler Systeme auszugehen, oder es liegt die initiale Besonderheit eines zentralen Systems vor, die im Laufe der individuellen Entwicklung auf andere Systeme übergreift. Aktuelle Erkenntnisse legen - mit aller Vorsicht - die zweite Variante nahe, wobei zwei Fragen im Vordergrund stehen: Welche Region ist von dieser initialen Besonderheit betroffen? Wie wirkt sich dies auf andere neuronale Netzwerke aus? Das Wissen um die besondere Gehirnentwicklung bei Menschen mit Autismus konnte in den letzten Jahren merklich erweitert werden. Neuroanatomische Studien zeigen, dass deren Gehirn im Kindesalter größer und schwerer ist als das Durchschnittsgehirn. Die Entwicklungslinien gehen dabei zunächst auseinander, laufen dann aber wieder zusammen: Im Alter von sechs bis 14 Monaten, einer kritischen Phase der Hirnentwicklung, sind die größten Unterschiede erkennbar, während sich Volumen und Gewicht in der Adoleszenz wieder normalisieren (Courchesne/ Pierce 2005 a). Kritisch ist die Phase der frühen Gehirnentwicklung deshalb, weil während dieser Zeit die einzelnen Neuronen durch Synapsen miteinander verschaltet werden, damit funktionsfähige neuronale Netzwerke entwickelt werden können. Diese so genannte Synaptogenese lässt sich ebenfalls in zwei Phasen unterteilen (vgl. Herschkowitz/ Herschkowitz 2004): In der Phase des Blühens wächst die Zahl der Synapsen um ein Mehrfaches. Dabei werden viel mehr Synapsen gebildet als benötigt, weil das Gehirn noch kaum Erfahrungen darüber besitzt, welche neuronalen Verbindungen und Netzwerke nützlich sein werden und welche nicht. Nach ungefähr acht Monaten setzt die Phase des Stutzens ein, in der die neuronale Architektur fein abgestimmt wird. Jene neuronalen Verbindungen, die benötigt werden, um die Anforderungen des Alltags meistern zu können, werden verstärkt, indem sie myelinisiert, das heißt mit einer schützenden Schicht umhüllt werden; nicht gebrauchte Synapsen werden stillgelegt. Dominik Gyseler 108 VHN 2/ 2007 Bei Menschen mit Autismus sind beide Phasen verändert (Bauman/ Kemper 2005). Zum einen werden in der Phase des Blühens übermäßig viele Synapsen gebildet, zum anderen setzt die Phase des Stutzens erst stark verzögert ein. Dies führt zu einer spezifischen Neuroanatomie des autistischen Gehirns. Entscheidend ist hierbei das spezifische Muster der lokalen Über-Konnektivität und globalen Unter-Konnektivität (Belmonte u. a. 2004; Courchesne/ Pierce 2005 b): Nahe beieinander liegende Neuronenhaufen sind durch eine Vielzahl von Synapsen miteinander verbunden, während weiter auseinander liegende Neuronenverbände kaum Verbindungen miteinander eingehen. Lokal ist die neuronale Architektur also im Vergleich zum Normalfall zu feinmaschig, global zu grobmaschig. In der Folge können eingehende Informationen nicht systematisch verarbeitet und weitergeleitet werden, sondern verharren in einem lokalen Chaos überzähliger synaptischer Verbindungen. Die davon hauptsächlich betroffenen Regionen sind das limbische System (Amygdala und Hippocampus), die Frontallappen sowie das Kleinhirn (Bauman/ Kemper 2005). Diese neurologischen Merkmale bringen weitere funktionale Besonderheiten mit sich, die als charakteristisch für Autismus betrachtet werden können: Unterfunktion der Amygdala (Bachevalier 2005), der sozio-emotionalen Schaltzentrale; verringerte globale Aktivierung in verschiedenen spezialisierten neuronalen Netzwerken, deren Komponenten über weite Teile der Großhirnrinde verteilt sind. Ein Beispiel dafür ist das bereits erwähnte soziale Gehirn (Frith/ Frith 2003); erhöhte lokale Aktivierung in neuronalen Regionen im Okzipitallappen, die in frühen Phasen der visuellen Informationsverarbeitung aktiviert sind (Baron-Cohen et al. 1999), sowie in Strukturen, die normalerweise der Verarbeitung von Objekten dienen (Gauthier u. a. 2004). Auf der Grundlage dieser neurowissenschaftlichen Theorie können nun Thesen formuliert werden, wie bestimmte Entwicklungsbesonderheiten entstehen. Gezeigt wird dies am Beispiel sozio-emotionaler Verhaltensweisen, die aus neurowissenschaftlicher Sicht - so eine These (Schultz u. a. 2005) - als Ausgangspunkt für die Entstehung der anderen Symptome betrachtet werden können. Warum sind Menschen mit Autismus nicht oder kaum in der Lage, ihren Mitmenschen mentale oder emotionale Zustände zuzuschreiben? Die neurowissenschaftlichen Befunde zeigen, dass diese Fähigkeit von spezialisierten neuronalen Netzwerken realisiert wird. Diese Netzwerke sind zwar genetisch angelegt und in ihrer allgemeinen Funktion determiniert, spezialisieren sich aber erst aufgrund von Erfahrungen, die eine starke Wirkung auf die Ausbildung der Synapsen und somit die Entwicklung und Feinabstimmung der Netzwerke ausüben. Bei Kindern mit Autismus wird dieser Spezialisierungsprozess gar nicht erst in Gang gesetzt, weil sie aufgrund eines fehlenden Interesses an Gesichtern kaum Erfahrungen damit machen (Schultz u. a. 2005). Die beeinträchtigte sozio-emotionale Entwicklung kann modellhaft in vier Phasen unterteilt werden. [Phase 1] Die mangelnde Aktivität der Amygdala signalisiert, dass Gesichter bei Menschen mit Autismus kaum eine sozio-emotionale Bedeutung aufweisen. Ihre Aufmerksamkeit wird deshalb nicht auf sozio-emotional relevante Ausschnitte des Gesichts - namentlich auf die Augen - gelenkt, sodass diese Informationen nicht in die weiter verarbeitenden Systeme eingespeist werden (Vuilleumier u. a. 2004). [Phase 2] Während die Amygdala eine entscheidende Rolle in der Steuerung der Aufmerksamkeit spielt, ist die Formation der fusiform face area (FFA) auf die Verarbeitung von Gesichtern spezialisiert. Ihre zentrale Aufgabe ist das Feststellen von Identitäten, also das Wiedererkennen von Gesichtern. Die Funktionstüchtigkeit und die Spezifität dieser Region sind dabei vorwiegend von Er- Sonderpädagogik und die Neurowissenschaften 109 VHN 2/ 2007 fahrungen abhängig - Erfahrungen, die Kinder mit Autismus nicht machen, weil sie dem Gesicht kaum Aufmerksamkeit schenken. Im Falle der Expertise von Gesichtern finden die prägenden neuronalen Spezialisierungsprozesse im Alter von sechs bis zwölf Monaten statt (Pascalis 2005). Die Bezeichnung FFA ist allerdings missverständlich: Zwar entwickeln sich Menschen normalerweise zu Experten für menschliche Gesichter (Gauthier/ Tarr 2002). Werden jedoch kaum Erfahrungen mit Gesichtern, sondern beispielsweise mit Strichfiguren gemacht, wird stattdessen eine Expertise für Strichfiguren entwickelt, die sich dann ebenfalls in einer Hypo- Aktivierung der FFA zeigt (Grelotti u. a. 2005). Kinder mit Autismus ziehen zudem lokale Details der Betrachtung des Ganzen vor und fokussieren meistens den Mund und weniger den Rest des Gesichts, vor allem nicht die Augen (Plaisted u. a. 1999; Behrmann u. a. 2006). Dies erklärt aber auch, warum Menschen mit Autismus durchaus in der Lage sind, Gesichter wiederzuerkennen, denn dazu können beliebige Merkmale des Gesichts herangezogen werden. [Phase 3] Normalerweise wird jetzt geprüft, ob eine Intentionalität wahrgenommen wird. Damit verbunden ist die Konzentration auf den Ausdruck des Gesichts. Die Frage nach der Bedeutung des emotionalen Ausdrucks eines Gesichts stellt sich für Menschen mit Autismus jedoch gar nicht - dies würde voraussetzen, dass dem Gesicht zuvor eine sozio-emotionale Relevanz zugemessen worden wäre. Die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den Mund vermag jedoch zu erklären, warum Menschen mit Autismus Ausdrücke wie Trauer und Freude teilweise gut erkennen können, solche wie Furcht oder Überraschung aber nicht: Während bei Trauer und Freude der Blick auf den Mund einige Informationen liefert, sind bei Furcht und Überraschung Augen und Mund gleichzeitig zu berücksichtigen. Die Bedeutung eines Gesichtsausdrucks kann natürlich auch eingeschätzt werden, indem in Erinnerung gerufen wird, welches Verhalten in der Regel einem bestimmten Ausdruck vorangeht oder folgt. Bei Menschen mit Autismus, die über eine durchschnittliche oder überdurchschnittliche Intelligenz verfügen, kann zum Teil ein solcher Kompensationsmechanismus vermutet werden. [Phase 4] Die sozio-emotionalen Informationen werden bei Menschen mit Autismus schließlich auch nicht im präfrontalen Cortex und somit in jenen Regionen des Gehirns verarbeitet, in denen sie normalerweise ausgewertet und in eine angemessene emotionale Reaktion umgesetzt werden. Die Fähigkeit, seinen Mitmenschen bestimmte mentale oder emotionale Zustände zuzuschreiben (theory of mind) und entsprechend darauf zu reagieren (Empathie), ist unter anderem stark von der Funktionsfähigkeit und der funktionalen Integration des präfrontalen Cortex abhängig. Die Kenntnis der Entwicklungsneurobiologie hilft zu klären, warum Kinder mit Autismus kaum oder nicht in der Lage sind, die Gedanken und Gefühle ihrer Mitmenschen einzuschätzen. Gleichzeitig wird mit diesem Beispiel deutlich, dass die Verhaltensweisen von Kindern mit Autismus zwar in Verbindung mit neuronalen Spezialisierungsprozessen erklärt werden können, aber natürlich nicht ausschließlich - denn diese Prozesse sind nicht das Ergebnis einer festgelegten neurobiologischen Reifung, sondern auch durch soziale und damit (sonder-)pädagogische Einflüsse bedingt. Damit stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten sonderpädagogischer Einflussnahme. 6 Inwieweit können Entwicklungsbeeinträchtigungen mit Hilfe sonderpädagogischer Maßnahmen beeinflusst werden? Lange Zeit herrschte die Annahme vor, dass diese neuronalen Netzwerke unter allen Bedingungen und irreversibel dysfunktional seien. Neue Erkenntnisse widersprechen dieser Annahme und geben Hinweise auf Bedingungen, unter denen die genannten neuronalen Dys- Dominik Gyseler 110 VHN 2/ 2007 funktionen nicht zu beobachten sind, wenn Gesichteridentitäten bestimmt oder Gesichtsemotionen beurteilt werden sollen. So wird beispielsweise in einer neueren Einzelfallstudie von einem Knaben mit Autismus berichtet, der in der Lage ist, bestimmte Comicfiguren auf einem bemerkenswerten Niveau zu unterscheiden, wobei Aktivitäten sowohl in der Amygdala als auch in der FFA verzeichnet werden (Grelotti u. a. 2005). Die Feststellung der Funktionsfähigkeit dieser Teile des neuronalen Netzwerkes ist ein wesentlicher Fortschritt in der Autismusforschung und Ausgangspunkt derzeitiger Überlegungen, wie die Fähigkeiten in den genannten vier Phasen systematisch angeleitet werden können. Allerdings ist momentan noch Zurückhaltung geboten, wenn die Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen mit Autismus eingeschätzt werden sollen, liegen doch zur neuronalen Plastizität dieses spezialisierten Netzwerkes im Kindes- oder gar Jugendalter bislang nur wenige Erkenntnisse vor. Es scheint jedoch eine Art Prinzip der Komplexitätssparsamkeit zu gelten: Je weniger komplex die sozio-emotionalen Informationen sind, die verarbeitet werden müssen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit Autismus die Anforderungen zu bewältigen vermögen. Sie können dann am ehesten in die Lage versetzt werden, angemessene mentale und emotionale Zustände zuzuschreiben, wenn möglichst wenige Informationen vorliegen (Frage des Kontextes), die Informationen schematisch dargeboten werden (Frage der Kontur), die Informationen möglichst unbewegt sind (Frage der Bewegung). Dieses Wissen kann als neurowissenschaftliche Grundlegung für die Entwicklung eines Förderansatzes für Kinder und Jugendliche mit Autismus dienen, der insbesondere auf deren sozio-emotionale Entwicklung ausgerichtet ist. Drei Eckpfeiler lassen sich aus den vorliegenden Erkenntnissen ableiten: Es sollten möglichst viele Erfahrungen mit Gesichtern gesammelt werden. Diese Erfahrungsbildung ist von der Fähigkeit abhängig, die Aufmerksamkeit gezielt auf die relevanten Informationen zu lenken. Diese Aufmerksamkeitssteuerung ist nur dann möglich, wenn die Komplexität der Anforderungen so gering wie möglich ist, wobei sie im Verlauf der Förderung in den genannten Dimensionen (Kontext, Kontur, Bewegung) systematisch gesteigert werden soll. Diese Bedingungen können am besten mit dem Einsatz des Computers erfüllt werden. Derzeit wird in Zusammenarbeit mit einer Tagessonderschule für Kinder und Jugendliche mit Autismus in der Schweiz ein solches Computer- Trainingsprogramm erprobt und evaluiert. 7 Die neurowissenschaftlichen Grundlagen der Sonderpädagogik Das Ziel des Einbezugs neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in die Theorie und Praxis der Sonderpädagogik besteht darin, Entwicklungsbesonderheiten besser zu verstehen, damit sonderpädagogische Maßnahmen adäquater geplant, durchgeführt und überprüft werden können. Dies geschieht im Falle kognitiver, emotionaler und sozialer Beeinträchtigungen, indem versucht wird, psychologische Erklärungsansätze auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu präzisieren. Neurophilosophische Überlegungen zum Verhältnis zwischen neurowissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnissen haben gezeigt, dass dieses Ziel prinzipiell erreicht werden kann, die Sonderpädagogik also neurowissenschaftliche Grundlagen hat. Die neurowissenschaftlichen Grundlagen der Sonderpädagogik beinhalten sowohl das Wissen um die neuronalen Korrelate mentaler Prozesse als auch deren Interpretation innerhalb eines Gesamtrahmens einer neurowissenschaft- Sonderpädagogik und die Neurowissenschaften 111 VHN 2/ 2007 lichen Theorie, die Elemente aus der Entwicklungsneurobiologie, der Neuroanatomie, Neurophysiologie, Neuropsychologie und Neurochemie enthalten kann. Anhand des Fallbeispiels Autismus lässt sich zeigen, dass sowohl präziser bestimmt werden kann, welche mentalen Prozesse genau beeinträchtigt sind, als auch, warum dies so ist. Dabei soll Autismus nicht als eine menschliche Defizitvariante (miss-)verstanden werden (vgl. auch Baron-Cohen 2000); dies allein ist aus sonderpädagogischer Sicht schon von größter Bedeutung. Darüber hinaus ermöglichen diese Erkenntnisse Umrisse einer neurowissenschaftlichen Grundlegung bestimmter pädagogischer und therapeutischer Maßnahmen - wenn auch noch nicht mehr. Es wird ein wesentlicher Forschungsauftrag der Sonderpädagogik sein, solche Umsetzungen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis anzuleiten und zu überprüfen - nicht zuletzt deshalb, weil damit Fragen ins Zentrum des Interesses rücken werden, die wiederum Gegenstand der Grundlagenforschung und der interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Neurowissenschaften sein sollten. 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