Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte (2/2007)
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Zur Rolle und Situation von Großeltern in Familien mit behinderten Kindern – ein interkultureller Vergleich zwischen Deutschland und Israel
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Aktuelle Forschungsprojekte VHN 2/ 2007 164 Zur Rolle und Situation von Großeltern in Familien mit behinderten Kindern - ein interkultureller Vergleich zwischen Deutschland und Israel Liora Findler Bar-Ilan University, Israel Grit Wachtel, Sieglind Ellger-Rüttgardt Humboldt-Universität zu Berlin Stand der Forschung Die Geburt eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen ist häufig mit einem lange währenden Prozess der Auseinandersetzung sowie der Bewältigung von Krisen und Belastungen verbunden. Familien reagieren unterschiedlich auf die für sie veränderte, häufig völlig unerwartete Situation; viele stellen sich den Anforderungen erfolgreich und können daran wachsen; andere erleben die Situation als überfordernd. Sozialwissenschaftlich ist die Bedeutung der sozialen Unterstützung von Familien in Belastungssituationen allgemein und von Familien mit behinderten Kindern im Besonderen vielfach belegt. Im Geflecht der sozialen Hilfen spielen in der Praxis auch Großeltern oft eine wesentliche Rolle, der bisher zumindest in Deutschland kaum breitere wissenschaftliche Beachtung zuteil wurde. Weder in den Behindertenberichten der Bundesregierung (1998 bzw. 2004) noch im Familienbericht 1994 finden sie Erwähnung. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in der deutschsprachigen Fachliteratur, was sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus sozialpolitischer Perspektive viele Fragen aufwirft, denn neuere Untersuchungen haben ergeben, dass über 90 % der Hilfe und Pflege im Bereich der Kernfamilie und der engsten Verwandtschaftsverhältnisse erbracht werden (Häußler/ Bormann 1997; Behindertenbericht 2004). Diese Tatsache war für die oben genannten Wissenschaftlerinnen Anlass, den wissenschaftlichen Diskurs zur Rolle der Großeltern in anderen Ländern vergleichend in den Blick zu nehmen. Die Wahl fiel auf die USA und Israel, zwei klassische Einwanderungsländer, in denen unterschiedliche Familienmodelle aufeinandertreffen, eine Tatsache, die zunehmend auch auf Deutschland zutrifft. Ziel einer Metaanalyse war es, die Rolle der Großeltern im sozialen Netzwerk von Familien mit behinderten Kindern aus drei unterschiedlichen Perspektiven - Perspektive der Großeltern, der Eltern der Kinder und der Fachleute - unter Bezugnahme auf vorliegende Forschungsergebnisse zu analysieren, zu problematisieren und zu vergleichen (Findler/ Ellger-Rüttgardt/ Wachtel 2006 i. Dr.). In ihrer Gesamtheit lassen die Ergebnisse der Metaanalyse keinen Zweifel an der spezifischen Rolle der Großeltern im Netzwerk von Familien mit behinderten Kindern. Sie deuten zugleich ambivalente Positionen in diesem Netzwerk an, ohne dass die Bedingungsfaktoren dieser Ambivalenz hinreichend empirisch gestützt wären und Folgen für familiäre Bewältigungsprozesse differenziert beschrieben werden könnten. Ein stärkerer Bezug zur allgemeinen Großeltern-/ Großmutterforschung sowie zur familienorientierten Netzwerkforschung erscheint deshalb notwendig. Um die Rolle der Großeltern im Gesamtsystem familialer Bewältigung im Spannungsfeld zwischen Ressourcen und Gefährdungen klarer verorten zu können, erscheint außerdem die Einbettung in die allgemeine Familienforschung sowie in die Stress- und Bewältigungsforschung unverzichtbar (Heckmann 2004, Engelbert 1999). Der Forschungsstand insgesamt erwies sich als unbefriedigend, in Israel und Deutschland deutlich stärker als in den USA. Insbesondere im Hinblick auf das Selbstbild der Großeltern wurden sowohl in Deutschland als auch in Israel erhebliche Forschungslücken sichtbar. Auch für Familien mit behinderten Kindern und deren Großeltern gilt: „Wissenschaftliche Erkenntnisse über Großeltern-/ Großmutterschaft… sind gering“ (Herlyn u. a. 1998, 26). Fragestellung und Forschungsdesign Ausgehend von der beschriebenen Situation ist ein gemeinsames Forschungsprojekt zwischen der School of Social Work der Bar-Ilan University, Israel, und der Abteilung Allgemeine Rehabilitationspädagogik des Institutes für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin in Vorbereitung, welches mit Hilfe einer empirischen Untersuchung u. a. folgende Fragestellungen bearbeiten soll: Wie erleben Großeltern ihre Rolle in Familien mit behinderten Kindern? Welche Formen der Unterstützung leisten sie? Welche Ressourcen nutzen sie? Welchen besonderen Gefährdungen sind sie ausgesetzt? Die Untersuchung ist als international-vergleichende Studie angelegt, die sowohl Großeltern in Israel als auch Großeltern in Deutschland einbeziehen wird. Der Fokus liegt auf Großeltern, deren Enkelkinder als „geistig behindert“ diagnostiziert wurden. VHN 2/ 2007 165 Aktuelle Forschungsprojekte Geplant ist ein zweistufiges Vorgehen: Im Rahmen einer quantitativen Untersuchung werden zuerst auf der Basis vorliegender, ggf. zu adaptierender Fragebögen je 100 Großeltern aus beiden Ländern schriftlich befragt. Im zweiten Schritt werden mit Hilfe einer qualitativen Untersuchung die Ergebnisse untersetzt. Geplant ist hierbei ein problemzentriertes Interview, an dem mindestens je zehn Großeltern teilnehmen werden. Erwartete Ergebnisse Die erwarteten Ergebnisse bewegen sich auf mehreren Ebenen: 1. Im Hinblick auf vielfältige, immer wieder neu zu erbringende familiale Bewältigungsprozesse in Familien mit behinderten Kindern sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie Großeltern selbst ihre Rolle im Gesamtsystem sehen, welche Ressourcen sie einsetzen und welchen Gefährdungen sie sich ausgesetzt sehen. 2. Daran anschließend soll der Frage nachgegangen werden, welche professionelle Unterstützung Großeltern benötigen, damit sie ihre Potenziale im familialen Netzwerk angemessen entfalten können. 3. Im Ergebnis des interkulturellen Vergleiches sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Rollenverständnis der Großeltern in beiden Ländern herausgearbeitet und deren Ursachen analysiert werden. Für Rückfragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an: grit.wachtel@rz.hu-berlin.de Die Bedeutung sonderpädagogischer Bildungstitel bei der Lehrstellenvergabe in KMU Christian Imdorf Universität Basel Problemstellung Die pädagogisch gerechtfertigte Förderung von Kindern und Jugendlichen mit diagnostizierten Lernbehinderungen in separierenden Schulformen konfligiert mit ihren problematischen Berufsbildungschancen (Imdorf 2006). Aus kantonalen Befragungen ist bekannt, dass Abgänger aus sonderpädagogischen Schulen bei der Suche nach Lehrstellen benachteiligt sind (Lischer/ Hollenweger 2005, 9). In einer langjährigen qualitativen Follow-up-Studie konnte Riedo (2000) deutliche Anzeichen von benachteiligenden Stigmatisierungseffekten einer Sonderschulbiografie aufzeigen. Auswertungen der Bildungsstatistik des Kt. Zürich belegen, dass nur 43 % der Sonderschüler gegenüber 76 % der Regelschüler der Einstieg in eine qualifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II gelingt. 52 % der Sonderschüler/ innen gegenüber 21 % der Regelschüler/ innen „verschwinden“ später aus der Zürcher Bildungsstatistik (Rüesch 2005). Junge Frauen mit Sonderklassen- oder Sonderschul-Biografie sowie Jugendliche mit Migrationshintergrund aus Sonderklassen stellen beim Übergang in die Berufsbildung besonders gefährdete Gruppen dar (ebd.). Die freie Wirtschaft stellt mehr als die Hälfte der Ausbildungsplätze für Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen zur Verfügung (Lischer/ Hollenweger 2005, 40). Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind dabei für anspruchsärmere Ausbildungen - analog zu den Regellehren - von besonderer Bedeutung (Lischer o.J., 3; Gericke 2003, 23). Der Common Sense erklärt sich die Schwierigkeiten von Jugendlichen bei der Lehrstellensuche primär mit deren „schulischen Defiziten“; eine Erklärung, die sich bzgl. Regelschulabgängern empirisch als nicht haltbar erwiesen hat (Hupka u.a. 2006; Imdorf 2005). Diese Befunde geben Anlass zur Hoffnung, dass auch Absolventen aus Sonderklassen nicht notwendigerweise an ihren schulischen Titeln scheitern. Es stellt sich die Frage, welchen Stellenwert tiefe Schulqualifikationen bzw. das Etikett einer sonderpädagogischen Betreuung für die betriebliche Selektionspraxis haben. Ausgewählte Ergebnisse Im Rahmen des Forschungsprojekts „Lehrlingsselektion in KMU“, das bereits in VHN 1/ 2005 (53f) vorgestellt wurde, ist diese Frage am Heilpädagogischen Institut der Universität Fribourg näher untersucht worden. Basierend auf halbstrukturierten Experteninterviews wurden für 81 Deutschschweizer Ausbildungsbetriebe (Zahnarzt- und Arztpraxen, Autolackierereien und Autogaragen, Schreinereien sowie kaufmännische Abteilungen) die selektionsrelevanten Logiken rekonstruiert. Im Folgenden sollen ausgesuchte Ergebnisse aus der Untersuchung vorgestellt werden: VHN 2/ 2007 166 Aktuelle Forschungsprojekte Die Analysen zeigen, dass sich die eingeschränkte Relevanz von Schulqualifikationen bei der Lehrstellenvergabe mit dem unterschiedlichen Leistungsverständnis von Schulen und (Klein-)Betrieben deuten lässt. Auszubildende in den Betrieben müssen zur betrieblichen Produktion beitragen. Sie sollen die betrieblichen Produktionsabläufe bzw. die betriebswirtschaftliche Gesamtrechnung nicht beeinträchtigen. Bezüglich schulischer Belange wird bei der Selektion primär darauf geachtet, dass ein Scheitern in der Berufsfachschule (D: Berufsschule) nicht absehbar ist. Entsprechend erhält der absolvierte Schultyp seine Bedeutsamkeit als Indikator für die „Berufsschultauglichkeit“ eines Bewerbers. Seine eigentliche Relevanz erhält der Schultyp jedoch erst in Abhängigkeit der Schulnoten, die für die Gatekeeper persönliche Eigenschaften (insbesondere Leistungs- und Lernbereitschaft) signalisieren. In der Gesamtschau von Noten und besuchtem Schultyp gilt die Regel „möglichst keine Auffälligkeiten“. So kann auch einer überdurchschnittlichen schulischen Qualifizierung aus betrieblicher Sicht mit Skepsis begegnet werden. Die Regel gilt insbesondere auch in Bezug auf Informationen zu Betragen, Fleiß, Ordnung und Fehlzeiten, die z. T. in den Schulzeugnissen dokumentiert sind. Gleichzeitig relativieren die Selektionsverantwortlichen die Relevanz von Schulqualifikationen für den Selektionsentscheid auf vielfältige Art und Weise. So wurde etwa argumentiert, dass „geistige Stärke“ noch kein Beweis für „manuelles Geschick“ sei. Das von den Bewerbern unter Beweis gestellte berufliche Interesse und ihre Motivation für die Ausbildungsstelle haben für die Betriebe einen größeren Stellenwert als Schulleistungen. Die körperliche Erscheinung sowie der Wohnort der Bewerber verweisen auf weitere Ressourcen jenseits der Schule. Soziale Netzwerk-Rekrutierung, Teampassung und die Privilegierung von inländischen Bewerbungen sind weitere betriebliche Mechanismen, die eine Selektion aufgrund schulischer Kriterien unterlaufen. Einige Betriebe verschreiben sich bewusst der Benachteiligtenförderung; andere haben Angst, dass schulisch hoch qualifizierte Auszubildende den Betrieb auf dem Weg nach „Höherem“ verlassen könnten, wenn sie einmal ausgebildet sind. Schulqualifikationen erweisen sich vor allem dann als relevant, wenn die Bewerberzahlen hoch und die Betriebe daher auf ökonomische Kriterien der Vorselektion angewiesen sind. Sonderschulische Bildungstitel und Labels sind auf diesem Hintergrund insbesondere in den untersuchten Autogaragen, Arztpraxen und kaufmännischen Ausbildungen ein Ausschlusskriterium. Jugendliche mit Sonderschullaufbahn bewerben sich daher eher auf die vergleichsweise anforderungsärmeren Ausbildungsberufe in den Zahnarztpraxen (Dentalassistentin), Autospritzwerken (Autolackierer) und Schreinereien (Attestschreiner). Diese Betriebe wiederum argumentieren vergleichbar wie bzgl. Bewerbungen von Realschülern (D: Hauptschüler): Ein sonderpädagogischer Bildungshintergrund wird weniger aus betrieblicher Logik problematisiert, sondern primär mit Blick auf die Anforderungen der Berufsschule. Aber auch diese Bedenken werden durch bereits genannte Gründe immer wieder relativiert. Darüber hinaus gibt es Betriebe, die ein aktives soziales Engagement gegenüber Benachteiligten zeigen. Dieses Engagement beschränkt sich allerdings oftmals auf eine ausgelesene Benachteiligtengruppe (z. B. schulisch benachteiligte Inländer). Die Interviewtexte zeigen, dass sonderpädagogische Labels ihre Wirkung nicht verfehlen: Vorurteile bzgl. Persönlichkeit und Familie etikettierter Bewerber sind vielfältig, und mancher Betrieb weist die Ausbildungszuständigkeit zurück. Sonderpädagogisch etikettierte Bewerber scheitern somit primär als Folge der schulisch besser qualifizierten Konkurrenz. Die Ein- und Ausschlusslogiken sind die gleichen wie bei Bewerbern aus Regelschulen, aber die Ausschlussmechanismen greifen stärker. Die betrieblichen Selektionslogiken führen gleichzeitig dazu, dass die Bewerber keine brillanten Schüler sein müssen, um ihre Ausbildungschancen zu wahren. Übertragen auf Abgängerinnen aus Sonderschulen und Sonderklassen bedeutet dies, dass auch sie unter bestimmten Kontextbedingungen Chancen haben, eine Lehrstelle zu erhalten - trotz ihres schulischen Stigmas. Besonders Erfolg versprechende Kontextbedingungen sind gegeben, wenn ein Selektionsverfahren direkt mit einer „Schnupperlehre“ (kurzes Betriebspraktikum) beginnt und erst zu einem späteren Zeitpunkt nach einer schriftlichen Bewerbung verlangt. Oder wenn die Selektionsverantwortlichen selbst auf eine biografische Benachteiligungsgeschichte zurückschauen (z.B. als „Schulversager“ oder als Migrant). Oder wenn die Bewerberzahlen tief sind bzw. zurückgehen. Fazit Die Resultate zeigen, dass eine stigmatisierende Förderung mit beruflichen Ausschlussmechanismen einhergehen kann (vgl. Wagner 2005, 27). Entsprechend lohnt es sich, Schülern mit Lernschwierigkeiten die pädagogisch erforderliche Förderung möglichst unbemerkt zukommen zu lassen. Integrative Schul- und Unterrichtsformen eignen sich dazu in besonderem Maß. Zudem gilt es, den Betrieben positive Erfahrungen mit problematisierten Benachteiligtengruppen zu ermöglichen. Hervorzuheben sind Projekte, in denen sich Institutionen als Vermittler zwischen benachteiligten Jugendlichen und (potenziellen) Ausbildungsbetrieben verstehen. Diese gehen direkt auf Betriebe zu und versuchen, einzelne Jugendliche individuell zu vermitteln und das Gespann Betrieb - Auszubildende(r) eng zu begleiten (Gericke 2000, 2003). Neben dem Anspruch, bestehende Ausbildungsplätze „betriebsgerecht“ neu zu besetzen, motivieren sie die Betriebe dazu, als Lernorte für Benachteiligte zu wirken. Schließlich kann die berufliche Integration an einer fehlenden Institutionalisierung anspruchsärmerer Ausbildungsmöglichkeiten (Anlehre, Attestausbildungen) in bestimmten Branchen scheitern - obwohl sich deren Betriebe solche Ausbildungsverhältnisse eigentlich vorstellen könnten. Gemäß den Resultaten von Rüesch (2005) spielen solche Angebote für die berufliche Integration von Sonderklassenabgängern eine besondere Rolle. Entsprechend gilt es, auf die Ausweitung des Angebots hinzuwirken. Solange aber die erforderlichen Maßnahmen nicht umgesetzt sind, ist die Lobbyarbeit von Bezugspersonen (v. a. Lehrerin, Betreuer) im Kampf um Lehrstellen dringend notwendig, damit die symbolische Hypothek sonderpädagogischer Bildungstitel nicht zur Sackgasse für die Geförderten wird. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei christian.imdorf@uni bas.ch und unter www.lehrlingsselektion.info VHN 2/ 2007 167 Aktuelle Forschungsprojekte
