eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 76/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Entwicklungsräume und Entwicklungszeiten für Schüler mit Lernbeeinträchtigungen in heterogenen Lerngruppen

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2007
Ulrike Becker
Der Beitrag untersucht die Frage, wie der Wochenplanunterricht in heterogenen Lerngruppen organisiert sein muss, damit Kinder mit Lernbeeinträchtigungen den Unterricht als Entwicklungszeit und Entwicklungsraum nutzen können. Der Beitrag beginnt mit zwei Unterrichtsszenen, die Theorie provozierend sind. Es werden die Arbeiten der genetischen Epistemologie herangezogen, um die Ergebnisse, die durch eine Analyse der Unterrichtsszenen gewonnen werden, auf der Grundlage der Arbeiten von Piaget zur Entwicklung des Raum- und Zeitbegriffes bei Kindern mit Lernbeeinträchtigungen zu untermauern und zu erweitern. Von den gewonnenen Ergebnissen ausgehend werden abschließend Empfehlungen zur Gestaltung von Wochenplanunterricht, die den Gebrauch von Unterricht als Entwicklungsraum und Entwicklungszeit garantieren, erarbeitet.
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241 241 1 Nutzen Kinder mit Lernbeeinträchtigungen Unterricht in heterogenen Klassen als Entwicklungsraum und Entwicklungszeit? Zur Beantwortung dieser Frage werden vorerst zwei Szenen aus dem Unterricht einer heterogenen Lerngruppe dargestellt, in denen die Autorin als teilnehmende Beobachterin forschend tätig war. Bei der Lerngruppe handelt es sich um eine Grundschulklasse der Klassenstufe 3, die sich aus 28 Schülern zusammensetzt, von denen zwei Schüler dem Förderschwerpunkt „Lernen“, ein Schüler dem Schwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“ und ein vierter Schüler dem Förderschwerpunkt „Sprache“ angehören (Geiling/ Hinz 2005, Preuss- Lausitz 2004). 1.1 Szenen aus dem Unterricht Szene 1 In einem Projekt über „Uhren“ findet nach dem Bau von Sanduhren und dem Messen von Zeitstrecken ein Kreisgespräch statt, in dem die Kinder ihre Er- VHN, 76. Jg., S. 241 -252 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Entwicklungsräume und Entwicklungszeiten für Schüler mit Lernbeeinträchtigungen in heterogenen Lerngruppen Ulrike Becker Werbellinsee-Schule Berlin Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht die Frage, wie der Wochenplanunterricht in heterogenen Lerngruppen organisiert sein muss, damit Kinder mit Lernbeeinträchtigungen den Unterricht als Entwicklungszeit und Entwicklungsraum nutzen können. Der Beitrag beginnt mit zwei Unterrichtsszenen, die Theorie provozierend sind. Es werden die Arbeiten der genetischen Epistemologie herangezogen, um die Ergebnisse, die durch eine Analyse der Unterrichtsszenen gewonnen werden, auf der Grundlage der Arbeiten von Piaget zur Entwicklung des Raum- und Zeitbegriffes bei Kindern mit Lernbeeinträchtigungen zu untermauern und zu erweitern. Von den gewonnenen Ergebnissen ausgehend werden abschließend Empfehlungen zur Gestaltung von Wochenplanunterricht, die den Gebrauch von Unterricht als Entwicklungsraum und Entwicklungszeit garantieren, erarbeitet. Schlüsselbegriffe: Wochenplan, Entwicklungsdiagnostik, Entwicklungsraum, Lernbeeinträchtigung, Heterogenität Development Time and Development Space for Pupils with Learning Disabilities in Heterogeneous Learning Groups Summary: In her article the author analyses how classroom instruction on the basis of a weekly programme has to be organised in heterogeneous learning groups in order to be beneficial for pupils with learning disabilities. Firstly, she presents two theory-provoking tuitional sequences. The results of the analysis of the two sequels are rated on the background of Piaget’s work on the development of the concepts of time and space in early childhood. To support and expand the theory of the development of time and space in children with learning disabilities, the author refers to genetic epistemology. Based on her outcomes, she elaborates a list of recommendations for an efficient use of classroom tuition as development time and development space. Keywords: Development time, development space, learning difficulty, heterogeneity Fachbeitrag 242 VHN 3/ 2007 gebnisse vorstellen: Anika beginnt und erläutert, dass ihre Sanduhr zwei Minuten benötige, um einmal durchzulaufen. Zusammen mit ihrer Freundin Susan habe sie festgestellt, dass der Sand viermal durch die Uhr rinne, bis Anika einmal alle Schulflure durchlaufen habe. Danach berichtet sie über die Dauer ihres Schulweges. Der Sand sei zwölfmal durch die Uhr gelaufen, bis Anika nach Hause gegangen und wieder zurückgekommen sei. Anika und Susan ernten den Beifall der Klasse. Es folgen Wolfgang und Samer, die ebenfalls ihren Schulweg sowie die Zeit zum Durchlaufen der Schulflure gemessen haben. Wolfgang ist ein sehr ruhiger, zurückgezogener Junge, der sich nur selten zutraut, vor der Klasse zu sprechen. Samer schildert eindrücklich, wie er einmal langsam durch das Schulgebäude gegangen sei. Da sei die Zeit kurz gewesen. Als er dann ganz schnell durch die Flure gerannt sei, habe er ganz lange gebraucht. Aber die Sanduhr sei falsch gegangen. Obwohl er sich so beeilt habe, sei der Sand nur dreimal durchgelaufen. Als er langsam gegangen sei, sei der Sand sechsmal durch das Glas geronnen. „Da stimmt etwas nicht! “ Auf dem Schulweg sei er ebenfalls sehr schnell gerannt, und die Uhr sei laut Wolfgang fünfmal durchgelaufen. Samer ruft, wenn er sich beeile, müsse doch eine größere Zahl rauskommen, da er besser sei, wenn er schnell laufe. Er sagt zu Wolfgang: „Du hast wohl falsch gezählt.“ Wolfgang antwortet: „Nein! “, er wird aber ganz klein auf seinem Stuhl und scheint sich unwohl zu fühlen, scheinbar unsicher darüber, einen Fehler gemacht zu haben. Die meisten Schüler der Klasse lachen laut über Samers Äußerung. Wolfgang wird immer kleiner und stiller auf seinem Stuhl und sagt in dieser Stunde nichts mehr. Samer wird wütend, zertritt seine selbst gemachte Sanduhr und läuft aus dem Klassenzimmer. Szene 2 Dieselbe Klasse arbeitet an einem anderen Vormittag an ihrem Wochenplan. Es ist Freitag, der Wochenplan sollte eigentlich um 12.00 Uhr beendet sein. Um 11.00 Uhr sagt die Lehrerin: „Macht schnell! Ihr habt nur noch eine Stunde Zeit! “ Der Großteil der Klasse arbeitet zügiger weiter als bisher. Währenddessen fallen einige leistungsschwache Kinder durch Unruhe auf, die entsteht, weil sie gleichzeitig an der Fertigstellung eines Bildes, eines Mathebogens und eines Deutschbogens zu arbeiten versuchen, ohne sich für eine Aufgabe entscheiden zu können. Zum Schluss gibt Samer, ein Kind mit Lernbeeinträchtigungen, alle Bögen unfertig ab, und sein Bild wird durch das Umfallen eines Wasserbechers so durchweicht, dass er es nur noch wegwerfen kann. Samer weint verzweifelt. 1.2 Versuch einer Erklärung Die Fehler des Lehrers in Szene eins liegen aus sonderpädagogischer Perspektive auf der Hand. Die Lehrerin hat eine freie Wahl von Lernpartnern zugelassen, und wie zufällig schließen sich leistungsstarke Schüler mit leistungsstarken und leistungsschwache Kinder mit anderen leistungsschwachen Schülern zusammen. In beiden Szenen ist festzustellen, dass Samer und Wolfgang, die Schüler mit Lernbeeinträchtigungen, durch ihre Äußerungen oder ihren Rückzug derart auffallen, dass ihre Mitschüler über sie lachen und dass sie so aus dem Klassenverband sozial herausfallen. Wie kommt es dazu? Samer interpretiert den Zusammenhang zwischen seiner Laufgeschwindigkeit und der Dauer des Durchrinnens des Sandes anders als seine Mitschüler. Diese sind in der Entwicklung ihres Zeitbegriffes bereits so weit fortgeschritten, dass sie den umgekehrten Zusammenhang zwischen Dauer und Geschwindigkeit kennen. Kinder erwerben diese Erkenntnis etwa im Alter von acht Jahren (Weber 1988), während Samer offenbar über einen Zeitbegriff verfügt, der noch von einer Gleichsetzung zwischen Dauer und Geschwindigkeit ausgeht (Piaget 1946; Weber 1988). Ein solcher Zeitbegriff entspricht normalerweise dem präoperationalen Denken des Kindes (Weber 1988). Samer hat mit einem Mitschüler zusammengearbeitet, der über einen ähnlichen Zeitbegriff verfügt wie er, sodass beide schlussfolgern, die Sanduhr gehe falsch. Beide Jungen zweifeln nicht an ihrer Feststellung. Ihr Denken und ihre Wahrnehmung sind offenbar resistent gegenüber ihrer eigenen Beobachtung. Dies bedeutet, dass sie sich nicht der Situation anpassen, sondern auf dem Hintergrund ihres kognitiven Entwicklungs- 242 VHN 3/ 2007 Ulrike Becker niveaus handeln und interpretieren (Piaget 1975, 49ff). Samer erkennt das Problem - oder mit Piaget gesprochen, die „Störung“ - nicht und reagiert auf eine Weise, die einen Erkenntnisgewinn weitgehend ausschließt. Samer und Wolfgang schlussfolgern: „Die Sanduhr geht falsch.“ Diese Äußerung führt zum Lachen der Mitschüler, was Samer und Wolfgang als Ablehnung empfinden. Wolfgang zieht sich noch mehr zurück, was vermutlich bereits ursächlich aus einem geringen Selbstwertgefühl und Versagensängsten resultiert, während Samer auf die Ablehnung mit Wut reagiert. Das Verhalten der beiden scheint unangemessen und führt sicher dazu, dass sie beim nächsten Mal als Lernpartner für leistungsstarke Schüler noch unbeliebter sein werden. Vermutlich suchen die Mitschüler in der sich anschließenden Pause auch nicht den Kontakt zu Samer. Eine Intervention der Lehrerin erscheint notwendig. In Szene zwei kommt es zu einem ähnlichen Konflikt: Die Lehrerin bittet die achtjährigen Grundschüler, zügig zu arbeiten, um den Wochenplan pünktlich in der ihnen noch verbleibenden Unterrichtszeit zu beenden. Da jedoch Samer und Wolfgang noch über einen Zeitbegriff verfügen, bei dem Geschwindigkeit und Dauer gleichgesetzt werden (Piaget 1946), gehen sie mit dieser Aufforderung anders um als von der Lehrerin erwartet: Samer erkennt bereits, dass zur Erledigung des Wochenplans verschiedene Aufgaben gehören, die mit einem Resultat, z. B. einem Bild oder einem voll geschriebenen Arbeitsblatt enden sollen. Diese Resultate entstehen nach Ablauf von Zeitstrecken, in Intervallen. Für vierbis sechsjährige Kinder bedeutet die Aufforderung „Mach schnell! “, ganz viele Resultate oder Ereignisse aufeinander folgen zu lassen (Weber 1988). Im Verständnis von Samer fordert die Lehrerin mit der Anweisung „Mach schnell! “ die Schüler auf, möglichst viele Ergebnisse zu erzielen und mehreren Aktivitäten gleichzeitig nachzugehen. Der Junge verfällt daher in ein emsiges, hektisches Treiben, was die Lehrerin und die Mitschüler als Unruhe, Störung und Auflehnung gegen den Arbeitsauftrag interpretieren, während Samer der Auffassung ist, alles richtig zu machen. Mitschüler und Lehrerin ärgern sich über sein Verhalten, sodass er sich erneut ausgeschlossen fühlen muss. Sein Handeln wird von den Mitschülern und der Lehrerin als Arbeitsverweigerung interpretiert. Sie reagieren dementsprechend, und Samer gerät immer weiter in den Teufelskreis, in dem sich Missverständnis und sozialer Ausschluss ergänzen. Eine zentrale Ursache liegt im unterschiedlichen Zeitverständnis der Kinder einer heterogenen Lerngruppe. Die Vorgabe der Lehrerin, den Wochenplan in einer Stunde fertig zu stellen, bewirkt, dass ein Kind mit Lernbeeinträchtigungen die Stunde nicht als Entwicklungszeit nutzen kann, sondern die „Störung“ verleugnet und nur „funktionelle Handlungen“ ausführt (Piaget 1975, 49ff). Dies bedeutet, dass sich Samer wie in der Szene 2 erst gar nicht der Aufgabe der Lehrerin stellen kann, sondern auf ihm vertraute Handlungsschemen zurückgreift, die er repetitiv wiederholt. Piaget spricht in diesem Zusammenhang von „funktionellen Assimilationsprozessen“. Samer handelt im Unterricht vorrangig assimilatorisch, was einen Erkenntnisprozess weitgehend verhindert. Nach Piaget wäre die Akkommodation, der Gegenspieler der Assimilation, die wesentliche Tendenz, die eine kognitive Entwicklungsstufe zu überwinden ermöglicht. Die Akkommodation meint eine Adaption des Denkschemas an die aktuelle Situation. Dadurch entsteht ein Erkenntnisgewinn, der sich im Erreichen eines höheren kognitiven Entwicklungsstandes niederschlägt. Dabei kommt es zunächst beim Auftreten von „Störungen“ zu einem Ungleichgewicht der kognitiven Strukturen. Durch die Akkommodation wird ein höheres Entwicklungsniveau erlangt (majorierende Äquilibration) (Piaget 1975, 86). Von Entwicklungsraum und Entwicklungszeit kann immer dann gesprochen werden, wenn die Schüler zur Verfügung gestellte Räume und Schüler mit Lernbeeinträchtigungen in heterogenen Lerngruppen 243 VHN 3/ 2007 Zeiten zur Entwicklung im Sinne einer Äquilibration der kognitiven Strukturen nutzen können, was dann gegeben ist, wenn Aufgaben weder Übernoch Unterforderungen darstellen und sich die Anteile von Assimilation und Akkommodation sinnvoll ergänzen. Rückwirkend kann resümiert werden, dass die beiden Unterrichtssequenzen von den Kindern mit Lernbeeinträchtigungen nicht vorrangig als Entwicklungsraum oder Entwicklungszeit genutzt werden konnten. Vielmehr führten unterschiedliche Zeitbegriffe von Lehrerin, Grundschülern und kognitiv retardierten Kindern zu Missverständnissen und sozialem Ausschluss. Kinder mit Lernbeeinträchtigungen wie Samer und Wolfgang sind aufgrund ihres präoperationalen Denkens in den ersten Schuljahren mit den Aufgabenstellungen selbst wie mit den Inhalten der Arbeitsaufträge überfordert. 2 Kognitive Entwicklungsverzögerungen als ein Bedingungsfaktor für die Entstehung einer Lernbeeinträchtigung In aktuellen Publikationen werden multifaktorielle Zusammenhänge als Bedingungsfaktoren für die Entstehung einer Lernbehinderung beschrieben (Schröder 2000). Als ein zentraler Faktor wird in Anknüpfung an die Klassiker der Lernbehindertenpädagogik die kognitive Entwicklungsverzögerung genannt. Dieser Beitrag beschränkt sich auf diesen Aspekt von Behinderungen im Lernen und greift ausschließlich auf die genetische Epistemologie zurück, um die Möglichkeiten der Nutzung von Wochenplanunterricht als Entwicklungsraum und Entwicklungszeit zu untersuchen. In „Le diagnostic du raisonnement“ (1943) schildert Bärbel Inhelder ihre Forschungsergebnisse über das Denken des geistigbehinderten Kindes. Was sie damals unter geistiger Retardierung verstand, entspricht dem heutigen Begriff von „kognitiver Entwicklungsverzögerung“ (Katzenbach 1992; Wember 1986). Im Rahmen einer empirischen Untersuchung führt Inhelder die von Piaget beschriebenen Experimente „zur Erhaltung der Substanz“ mit Kindern durch, die unterschiedliche Formen der kognitiven Entwicklungsverzögerung aufweisen (Inhelder 1943; Weber 1988; Wember 1986). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass diese Kinder die gleichen Stufen der kognitiven Entwicklung durchlaufen wie Schüler, die sich altersgerecht entwickeln. Die Entwicklungsverzögerung kommt durch eine längere Verweildauer auf den verschiedenen Entwicklungsniveaus zustande. Kinder mit einer schweren geistigen Behinderung bleiben nach Inhelder auf einem frühen kognitiven Entwicklungsniveau stehen (1943, 16ff). Die Erhebungen von Wember (1986) sowie der Beitrag von Weber (1988) bestätigen diese Ergebnisse. Inhelder beschreibt in ihren Arbeiten, wie unabhängig von organischen Schädigungen vier Faktoren die kognitive Entwicklung von Kindern mit Lernbeeinträchtigungen konstituieren. Sie nennt in diesem Zusammenhang den kindlichen Egozentrismus (1943, 40), die soziale Lebenslage (161) und die Emotionen (Piaget 1954). Da Piaget die Phase des konkret-operationalen Denkens als Abbild der sensomotorischen Phase auf einem höheren Entwicklungsniveau versteht, nennt Inhelder als vierten konstituierenden Faktor der kognitiven Entwicklung die Möglichkeiten zur Assimilation und Akkommodation in der sensomotorischen Phase (Inhelder 1943, 180). Bezüglich der Bedeutung des Egozentrismus für die sozial-kognitive Entwicklung besteht allerdings unter den Forschern Uneinigkeit. Die Untersuchungen von Sodian und die Erhebungen von Johnson widerlegen die von Piaget beschriebene Bedeutung des Egozentrismus für die sozial-kognitive Entwicklung (Sodian 1986; Johnson 1997), während die Forschungen von Wember und der Beitrag von Weber die Bedeutung des Egozentrismus für die kognitive Entwicklung von Kindern mit Lernbeeinträchtigungen untermauern (Weber 1988; Wember 1986). Ulrike Becker 244 VHN 3/ 2007 Hillenbrand und Hofmann stellen im Rückgriff auf die Forschungen von Spelke den von Piaget beobachteten Zeitpunkt der Ausbildung der Objektpermanenz erheblich in Frage. „Neuere empirische Studien der Entwicklungspsychologie lassen den Schluss zu, dass die Einsicht in die Weiterexistenz verdeckter Objekte schon mit 3,5 Monaten vorhanden ist“ (Hillenbrand/ Hofmann 2000, 68). Auch Dornes knüpft an die Untersuchungen von Spelke und anderen an und führt aus, dass die genetische Epistemologie sowie die Psychoanalyse die „Kompetenz des Säuglings“ erheblich unterschätzen (Dornes 1993; Spelke 1987). Aus den Ergebnissen der Forschungen von Inhelder und Piaget wird deutlich, dass auch Kinder mit kognitiven Entwicklungsverzögerungen Anlässe zur Assimilation wie zur Akkommodation benötigen, um in der Entwicklung ihres Denkens voranzukommen (Katzenbach 2000; Piaget 1975; Weber 1988; Wember 1986). Eine Unterforderung im Unterricht bewirkt, dass es nur zu assimilatorischen Handlungen kommt, also zu einer Stagnation in der Entwicklung des Denkens. Massive Überforderungen im Unterricht verhindern das Gelingen der Assimilation wie auch die Ausführung akkommodativer Handlungen (Piaget 1975, 86). In der Pädagogik bei Schülern mit Lernbeeinträchtigungen besteht in homogenen Lerngruppen in Sondereinrichtungen oft eine Tendenz, den Kindern Aufgaben zu geben, die sie ohne kognitive Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand selbsttätig lösen können. Diese Aufgaben entsprechen meist genau dem Entwicklungsstand dieser Schüler, weshalb sie in solchen Situationen Aufgaben und Situationen an bereits vorhandene Denkschemen assimilieren. Dies unterstützt einseitige Assimilation und verhindert Entwicklungsprozesse zugunsten einer kognitiven Entwicklung. Da Anlässe zur Anregung von Akkommodation oft fehlen, wird der Unterricht als Entwicklungszeit und Entwicklungsraum wenig genutzt (Weber 1988). In heterogenen Lerngruppen hingegen fühlen sich Schüler mit Lernbeeinträchtigungen mit den Aufgabenstellungen ihrer Mitschüler dermaßen überfordert, dass sie Widersprüche im Denken verleugnen (s. o.) und aufgrund ihrer kognitiven Entwicklungsverzögerung sozial ausgeschlossen werden. Zur Nutzung von Unterricht als Entwicklungsraum und Entwicklungszeit ist es zur Ankurbelung von Akkommodationsprozessen wichtig, diese Schüler mit Aufgaben zu konfrontieren, die „minimale Überforderungen“ beinhalten. 3 Zur Bedeutung der Raum- und Zeitvorstellung von Kindern für den Wochenplanunterricht In heterogenen Lerngruppen wird vorrangig in offenen Unterrichtsformen gearbeitet. Eine häufig gewählte Organisationsform des Unterrichts ist die bereits mehrfach erwähnte Wochenplanarbeit (Becker 2006). Durch Wochenplanunterricht wird die Freie Arbeit strukturiert: „In Integrationsklassen mit behinderten Kindern hat sich die Wochenplanarbeit besonders bewährt, da sie die Möglichkeit bietet, alle Kinder an gleichen Lerninhalten, aber mit differenzierten Lernzielen, Methoden, Medien (und Lehrerhilfen) selbständig arbeiten zu lassen“ (Bannach 2006). Das Lernen wird in dieser Organisationsform oft ganzheitlich gestaltet. Die Vielfältigkeit des Unterrichts bedingt, dass Arbeitszeiten von den Schülern selbst eingeteilt werden können, und dass sie auch die Nutzung von Räumen wie Arbeitsecken, Ateliers, Computerarbeitsplatz usw. selbst organisieren und festlegen. Die Kinder erledigen somit ihre Aufgaben zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit einer individuellen Zeitdauer. Das übergeordnete Ziel ist dabei stets die Bearbeitung des Wochenplans, was insbesondere Schüler mit Lernbeeinträchtigungen häufig aus dem Auge verlieren. Oft ist zu beobachten, dass diese Schüler sich zwar im Klassenraum in den verschiedenen Räumen mit individuell gewähl- Schüler mit Lernbeeinträchtigungen in heterogenen Lerngruppen 245 VHN 3/ 2007 ter kurzer oder langer Verweildauer bewegen, aber nur selten Wochenplanaufgaben bewältigen. Piaget hat die Entwicklung der Zeit- und Raumvorstellung von Kindern in unterschiedlichen Altersstufen untersucht. Leider fehlt es an aktuellen Erhebungen zur Entwicklung der Zeitvorstellung bei Kindern. Unter Rückgriff auf die genetische Epistemologie soll im Folgenden die Entwicklung des Raum- und Zeitbegriffes vorgestellt werden, um zu zeigen, wie eine durch präoperationales Denken geprägte Zeit- und Raumvorstellung die Mitarbeit von Kindern mit Lernbeeinträchtigungen im Unterricht heterogener Lerngruppen blockieren kann. Gestützt auf die Arbeiten von Piaget sowie den Beitrag von Weber wird darauf hingewiesen, wie man an die Raum- und Zeitvorstellung von Kindern mit Lernbeeinträchtigungen anknüpfen und ihnen damit einen Einstieg in die Mitarbeit im Unterricht ermöglichen kann, so dass sie diesen als Entwicklungsraum und Entwicklungszeit nutzen können. 3.1 Die Entwicklung der Zeitvorstellung bei Kindern Wie die eingangs geschilderten Unterrichtssequenzen zeigen, können unterschiedliche Vorstellungen von Raum und Zeit zu Missverständnissen zwischen Lehrern und Schülern oder innerhalb der Schülergruppen führen. Wenn diese Prozesse von den Lehrern nicht verstanden und entsprechend gelenkt werden, tragen sie zum sozialen Ausschluss von behinderten Kindern und zu einer sekundären Traumatisierung im Unterricht bei. Deshalb werden im Folgenden eine Auswahl von „Denkschemen“ zur Entwicklung des Zeitbegriffes sowie Aspekte der Entwicklung des Raumbegriffes aus dem Werk Piagets vorgestellt, die als besonders relevant für die Bewältigung von Wochenplanarbeit gehalten werden können und die Grundlage für die Erarbeitung von Kriterien zur effektiven Gestaltung von Wochenplanunterricht darstellen. Die beiden für die Wochenplanarbeit relevanten Denkmuster zur Entwicklung des Zeitbegriffes sind die bei Piaget dargestellten Schemen „Zeit und Bewegung“ und „Gleichzeitigkeit“ (Piaget 1946; Weber 1988). 3.1.1 Zum Erleben von Zeit und Bewegung Piaget führt aus, dass sich das Erleben von Zeit und Bewegung im Laufe der kindlichen Entwicklung erheblich verändert. So nehmen beispielsweise Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren, in der Phase des präoperationalen Denkens, zunächst „schneller“ und „länger“ als gleichbedeutend wahr. Je vielfältiger und abwechslungsreicher ein Ereignis ist, desto länger dauert es in der Wahrnehmung der Kinder an. In dieser Phase verwechseln sie eine hohe Geschwindigkeit mit einer langen Zeitdauer (Piaget 1946, 85). Beispiel 1: Ein fünfjähriger Junge antwortet auf die Frage nach der Länge seines Schulwegs: „Der Weg ist lang.“ „ Ist der Weg gleich lang, wenn du langsam läufst? “ „Nein, dann ist er länger.“ (Piaget 1946, 85). Diese Vorstellung verändert sich bei altersgerecht entwickelten Kindern mit dem Erreichen des konkret-operationalen Denkens im Alter von etwa sechs Jahren: Beispiel 2: Jana antwortet auf die Frage nach der Dauer ihres Schulweges: „Der Weg ist immer gleich lang. Es ist egal, ob ich schnell oder langsam gehe.“ (Piaget 1946, 85). Die im Beispiel 1 dokumentierten Antworten sind mit den Äußerungen von Samer vergleichbar. Die Aussagen Janas im Beispiel 2 ähneln den Äußerungen der altersgerecht entwickelten Mitschüler von Samer. Damit wird deutlich, dass sich das Zeitverständnis von Kindern, die im präoperationalen Denken verhaftet sind, erheblich vom Zeitbegriff der Kinder unterscheidet, die sich auf der Stufe des konkret-operationalen Denkens befinden: Ein Kind wird in den ersten Jahren von der Unmittelbarkeit einer Situation beherrscht und kann nicht zwischen Raum, Geschwindigkeit Ulrike Becker 246 VHN 3/ 2007 und Zeit differenzieren. Es hat keinen vom Handeln losgelösten Zeitbegriff. Seine Wahrnehmung von Bewegungen orientiert sich an Ergebnissen seiner Handlung, nicht aber an den Abläufen selbst. Spontane „Zeiturteile beruhen darauf, wie viel getan worden ist, ohne dass beides unbedingt in Beziehung zueinander gesetzt worden sein müsste“ (Piaget 1946, 81). Das Kind hat vielmehr einen primitiven Zeitbegriff, der als ein Empfinden von „Andauern, das im Verlaufe der Handlung selbst gespürt wird“ (Piaget 1946, 314), beschrieben werden kann. Kinder mit Lernbeeinträchtigung wie Samer halten bis zum Alter von etwa neun Jahren diese Zeitvorstellung aufrecht (Weber 1988) und erlangen erst dann einen Zeitbegriff, den Piaget bei altersgerecht entwickelten sechsjährigen Kindern beobachtet hat (Weber 1988). 3.1.2 Das Erleben von „Gleichzeitigkeit“ Damit Schüler in der Wochenplanarbeit ihren Lernweg in Vergleich mit dem Lernweg ihrer Mitschüler und als Teil ihrer gesamten Arbeitszeit einstufen können, müssen sie über gewisse kognitive Fähigkeiten verfügen. Die Wochenplanarbeit setzt voraus, dass die Schüler/ innen „Gleichzeitigkeit“ erfassen und unterschiedliche Teilstrecken in den Zusammenhang einer Gesamtstrecke bringen können. Wie bereits bei der Frage nach der spontanen Erfassung von Zeitspannen und Intervallen kann man auch bei der Gleichzeitigkeit feststellen, dass Kinder im Alter von sechs Jahren das gleichzeitige Losgehen und Ankommen von zwei Läufern noch anhand der Geschwindigkeit der Läufer und nicht auf der Grundlage der Beobachtung von Gleichzeitigkeit beurteilen: Beispiel: Zwei Läufer starten zu einem Waldlauf. Läufer A ist wesentlich schneller und läuft einen zusätzlichen Umweg. Beide kommen zur gleichen Zeit an. Das sechsjährige Kind ist der Meinung, dass B früher angekommen ist als A, da der andere schneller gelaufen sei und deshalb mehr Zeit benötige (Piaget 1946, 129) Die Erfassung von Gleichzeitigkeiten stellt eine wichtige Voraussetzung für den Vergleich von Teilzeiten im Verhältnis zu einer Gesamtzeit dar. Piaget spricht hier von sogenannten Einschachtelungen („emboîtements“). Kinder erfassen „Gleichzeitigkeiten“ erst allmählich (Piaget 1946, 229), auch siebenjährige Kinder, die bereits auf der konkret-operationalen Denkstufe stehen, haben damit oft noch Mühe (Weber 1988). Etwa im Alter von 8,5 bis 9,5 Jahren können Kinder die sofortige Additivität und Assoziativität erfassen (Weber 1988). Bei Schülern mit Beeinträchtigungen im Lernen wird diese Fähigkeit frühestens mit zwölf bis 13 Jahren erworben (Weber 1988). Dies ist für die Wochenplanarbeit besonders relevant, da die Kinder zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit individueller Zeitdauer an individuell gewählten Lernorten arbeiten. Beobachtet man Kinder bei der Arbeit am Wochenplan aus der Zeitperspektive, so kann man resümieren, dass alle die gleiche Zeitstrecke hinter sich bringen, jedoch in unterschiedlichen Etappen mit individuellen Geschwindigkeiten. Dies erfordert vom Kind, dass es seinen Lernweg z. T. in Partnerschaften, insbesondere aber alleine zurücklegen muss, und dass es seinen Lernweg in Relation zu den Lernwegen und Geschwindigkeiten der anderen Schüler setzen und in Bezug zur gesamten Zeitstrecke bis hin zur Fertigstellung des Wochenplans stellen kann. Da Schüler mit Lernbeeinträchtigungen im Grundschulalter noch nicht über die entscheidenden Denkschemen zum Verstehen der Zeitstrukturen eines Wochenplanes verfügen, muss der Wochenplan so gestaltet werden, dass er an das Zeitverständnis dieser Kinder anknüpft und eine „Lotsenfunktion“ im Wochenplanunterricht übernimmt. 3.2 Die Entwicklung der Raumvorstellung bei Kindern Kleine Kinder, große Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben unterschiedliche Vorstellungen vom Raum. Bei kleinen Kindern ist das Schüler mit Lernbeeinträchtigungen in heterogenen Lerngruppen 247 VHN 3/ 2007 Raumverständnis zunächst ausschließlich an bedürfnisbefriedigende Handlungen gebunden. Mit zunehmendem Alter erweitert sich die Raumvorstellung vom Lebensraum über die Vorstellung von Ländern, Kontinenten und Meeren bis hin zum Weltraum. Die Raumvorstellung ist für die Entwicklung von Kindern mit Lernbeeinträchtigung von zentraler Bedeutung, da sie eine entscheidende Voraussetzung für die Wahrnehmung der Umwelt, der Verortung des Selbst in der individuellen Lebenswelt sowie einen wichtigen Faktor der Fähigkeit zur visuellen Wahrnehmung darstellt. Kinder mit Lernbeeinträchtigungen weisen in allen drei Bereichen erhebliche Defizite auf (Schröder 2000; Weber 1988). Piagets Untersuchungen zur Entwicklung der Raumwahrnehmung sowie der Raumvorstellungen bei Kindern stellen theoretische Grundlagen für die Förderung der Schüler mit Lernbeeinträchtigungen dar. Piaget betont den Zusammenhang zwischen der Eigenaktivität des Individuums und der Entwicklung der Raumvorstellung: „Der Raum ist also das Produkt einer Interaktion zwischen dem Organismus und der Umwelt, bei der man die Organisation der wahrgenommenen Welt nicht von der eigenen Aktivität trennen kann“ (Piaget 1950, 210). Bei der Bildung des Raumbegriffs handelt es sich um die Verinnerlichung von Handlungsprozessen (Piaget 1950), d. h. um einen Vorgang, der unabdingbar an die Wahrnehmung und die Motorik gebunden ist. Der Aufbau des Raumbegriffs beginnt mit der sensomotorischen Entwicklung, die vom ersten bis zum 18. Lebensmonat andauert, zieht sich über die Phase des präoperationalen und anschaulichen Denkens bis zum konkret-operationalen Denken und erreicht mit acht bis neun Jahren ein Stadium, das mit dem Raumbegriff von Erwachsenen korrespondiert (Piaget 1950; Weber 1988): die Entwicklung des Raumbegriffs mit der Ausbildung räumlicher Relationen und Orientierungen. Später bilden sich projektive (perspektivische) und metrische Vorstellungen, die das Einschätzen von Größen bei wechselnden Entfernungen betreffen (Piaget 1950; Weber 1988). In den ersten drei Phasen der sensomotorischen Entwicklung werden etwa bis zum 8. Lebensmonat - in der Zeit der primären, sekundären und tertiären „Zirkulärreaktionen“ (Piaget 1971) - durch die Koordination der Reflexe Saugen, Sehen und Fühlen die ersten räumlichen Relationen ausgebildet. In diesen sensomotorischen Phasen dominiert ein funktioneller Raumbegriff. Für die ersten Lebensmonate beschränkt sich die Raumwahrnehmung durch den Vorrang des Saugens auf die Wahrnehmung eines oralen Raumes. Das, was das Kind beim Saugen umschließt, kann es fühlen und wahrnehmen. Piaget arbeitet heraus, wie das Gefühl des „Umschlossen- und Umgebenseins“ diese erste Raumwahrnehmung konstituiert (Piaget 1971; Weber 1988). In der 3. und 4. Phase der sensomotorischen Entwicklung führt die Koordination der Reflexe Sehen und Greifen zur Handhabung von Gegenständen, was die Voraussetzung zur Analyse der Formen und zur Bildung einer euklidischen und projektiven Raumvorstellung darstellt. Das Sehen ermöglicht eine wesentliche Erweiterung der Raumwahrnehmung. Das visuell Wahrgenommene ergänzt die Wahrnehmung von „Umgeben- und Umschlossensein“: „Im Alter von 8 - 10 Monaten hingegen kann man zahlreiche Erkundungen beobachten; sie betreffen die Lageveränderung der Gegenstände, das Wiedererkennen ihrer Formen und sogar das In-Beziehung-Setzen der Perspektiven. Die Gerade gewinnt dann die funktionelle Bedeutung einer Bahn, der Überschneidung zweier Ebenen oder nur der Form, die in der Perspektive erhalten bleibt usw. Korrelativ zu dieser Konstruktion der wichtigsten wahrgenommenen Formen ist die Konstanz der Form und der Größe sicher die wichtigste Errungenschaft dieser Periode“ (Piaget 1975, 30). „Eben in demselben Alter erweist es sich als fähig, z. B. eine verkehrt gehaltene Milchflasche umzudrehen, d. h. einem per- Ulrike Becker 248 VHN 3/ 2007 manenten Körper eine konstante Form beizumessen“ (Piaget 1971, 31). Im Stadium 5 und 6 der sensomotorischen Entwicklung kann das Kind die Beziehungen der Gegenstände zueinander erarbeiten, sodass sich die „Gruppe“ der Verlagerungen auf eine steigende Zahl aufeinanderfolgender Positionen einschließlich (im 6. Stadium) des Eingreifens nicht direkt wahrgenommener Bewegungen erweitert. Daher ist beim zwölf bis 16 Monate alten Baby „eine sehr erstaunliche Analyse der sichtbaren Verlagerungen (…), der Positionen (…), der Beziehungen zwischen Enthaltendem und Enthaltenem (…), der Rotationen und Umkehrungen von Gegenständen im Verhältnis zueinander und nicht nur bezüglich des eigenen Körpers“ (Piaget 1971, 32) zu beobachten. Piaget schreibt zum 6. Stadium dieser Entwicklung: „In diesem Stadium erscheint das geistige Bild als Verlängerung der aufgeschobenen Imitation und eben dadurch die erste skizzenhafte Vorstellung. Die so gebildete symbolische Funktion ermöglicht das Erwerben der Sprache oder des kollektiven Zeichens. Der Raum wird also von dem reinen wahrgenommenen Raum teilweise zu einem vorgestellten Raum (…)“ (Piaget 1971, 33). Die Grundlegung der Raumwahrnehmung und -vorstellung erfolgt bis zum Ende der sensomotorischen Phase. In dieser Zeit werden gemäß den Ausführungen Piagets auch bereits die Grundlagen ausgebildet, die später für den Leselernprozess von immanenter Bedeutung sind: Benachbartsein, Trennung, Reihenfolge von Handlungen, Umgebensein und Kontinuität (Piaget 1971, 24; Weber 1988). Da die Raumwahrnehmung des Kindes aber noch von einer präoperationalen Sichtweise geprägt ist, können diese räumlichen Relationen im vorschulischen Alter noch nicht uneingeschränkt genutzt werden. Erst mit zunehmendem Alter entsteht nach Eintritt in die Phase des konkretoperationalen Denkens eine objektivere Raumwahrnehmung, so dass die in der sensomotorischen Phase erworbenen räumlichen Relationen erst im Schulalter zum Lernen zur Verfügung stehen. „Die räumliche Anschauung muss also auf der ihr eigenen Ebene (…) all das rekonstruieren, was diese Wahrnehmung auf dem begrenzten Gebiet der direkten Kontakte mit dem Gegenstand zuvor bereits erobert hat. Außerdem trennt ein Abstand von mehreren Jahren diese beiden Konstruktionen voneinander, denn erst wenn ein Alter von sieben bis acht Jahren erreicht ist, führen das Maß, die Koordinierung der Perspektiven durch die Vorstellung, die Einsicht in die Proportionen usw. zur Konstruktion eines geistigen Raumes, der imstande ist, dem wahrgenommenen Raum endgültig den Rang abzulaufen (…) Die beiden Konstruktionen, die mittels der Wahrnehmung und die mittels der Vorstellung, weisen einen gemeinsamen Faktor auf und wiederholen sich also teilweise trotz ihres beträchtlichen Abstandes. Dieser gemeinsame Faktor, der so eine wesentliche Bedeutung für die Deutung der räumlichen Anschauung im Allgemeinen gewinnt, ist die Motorik. Sie bildet die Quelle der Operationen selbst, nachdem sie das leitende Element der vorgestellten Bilder und sicher auch - und das müssen wir an dieser Stelle betonen - der elementarsten räumlichen Wahrnehmungen dargestellt hat“ (Piaget 1971, 33f). Bei Schülern mit Lernbeeinträchtigungen kann man feststellen, dass diese Kinder lange einen funktionellen, an Handlungen orientierten Raumbegriff aufrechterhalten (Weber 1988). Die Erkenntnisse Piagets stellen eine theoretische Grundlage für verschiedene Ansätze zur Förderung der Raumwahrnehmung und -vorstellung von Kindern mit Lernbeeinträchtigungen dar. Solche Ansätze werden schon seit Jahrzehnten in unterschiedlichen therapeutischen und pädagogischen Institutionen realisiert, haben aber bei der Gestaltung von Wochenplänen in heterogenen Gruppen noch keine ausreichende Berücksichtigung gefunden. Damit der Wochenplan für Kinder mit Lernbeeinträchtigungen eine „Lotsenfunktion“ im offenen Unterricht übernehmen kann, ist es von zentraler Bedeutung, bei der Raumvorstellung dieser Kinder anzusetzen. Wochenplanunter- Schüler mit Lernbeeinträchtigungen in heterogenen Lerngruppen 249 VHN 3/ 2007 richt wird zum Entwicklungsraum, wenn der Wochenplan selbst den Kindern Orientierung im Klassenraum bietet und ihnen Aufgaben stellt, die ihre Bedürfnisse sowie ihren kognitiven Entwicklungsstand berücksichtigen und ihnen ermöglichen, die Arbeitsaufträge mit Neugier handelnd zu lösen. Dies untermauert die Bedeutung von Ateliers wie die Teeküche, die Leseecke, die Werkbank oder der Materialwagen zum Rechnen im Wochenplanunterricht heterogener Lerngruppen. 4 Die Berücksichtigung der Raum- und Zeitvorstellung bei der Gestaltung von Wochenplänen zur Unterstützung der Nutzung des Unterrichts als Entwicklungsraum und Entwicklungszeit 4.1 Zusammenfassung Die genetische Epistemologie versteht Entwicklung als Folge von Assimilation und Akkommodation. Für diese Entwicklungsprozesse benötigen Kinder mit Lernbeeinträchtigungen in der Schule mehr Unterrichtszeit als ihre Mitschüler/ innen. Von Entwicklungszeit kann immer dann gesprochen werden, wenn die Schüler Unterrichtszeiten für assimilatorisches und akkommodatives Handeln nutzen können. Durch minutiöse Zeitplanung des Unterrichtsablaufes setzen Lehrer aber zeitliche Normen, die der Nutzung des Unterrichts als Entwicklungszeit im Sinne von individueller Assimilation und Akkommodation entgegenstehen. Die minutiöse Zeitplanung des Unterrichtsablaufes kann daher kognitive Entwicklungsprozesse bei Kindern mit Lernbeeinträchtigungen blockieren. Die Raum- und Zeitwahrnehmung von altersgerecht entwickelten Kindern, Schülern mit Lernbeeinträchtigungen und Erwachsenen sind verschieden. In der Wochenplanarbeit im Unterricht heterogener Lerngruppen wird oft schon in den ersten Jahren der Grundschule ein Zeitbegriff vorausgesetzt, über den Kinder mit Lernbeeinträchtigungen erst im Alter von ungefähr zwölf Jahren verfügen (Weber 1988). Die Kinder mit Lernbeeinträchtigungen scheitern somit oft am Verständnis der Arbeitsaufträge im Unterricht heterogener Lerngruppen. Es kommt zu Missverständnissen zwischen Lehrer und Kind sowie im Dialog mit anderen Kindern, was den sozialen Ausschluss von Schülern mit Lernbeeinträchtigungen begünstigt. Das schulische Lernen findet in Klassenräumen statt. Der Klassenraum kann erst dann zum Entwicklungsraum werden, wenn Kinder im Klassenzimmer einen individuellen Lernweg zurücklegen können. Dies kann gelingen, wenn sie Neugier entwickeln, selbsttätig arbeiten sowie Verantwortung für ihr Lernen übernehmen. Zur Anregung dieser Prozesse benötigen Kinder mit Lernbeeinträchtigungen im Klassenraum während der Unterrichtszeit Lernanlässe, die „minimale Überforderungen“ darstellen. Die Berücksichtigung dieser Ergebnisse bei der Gestaltung von Wochenplänen kann Kindern mit Lernbeeinträchtigungen die Nutzung des Unterrichts als Entwicklungsraum und Entwicklungszeit ermöglichen. 4.2 Empfehlungen zur Gestaltung von Wochenplänen für Kinder mit Lernbeeinträchtigungen in heterogenen Lerngruppen Der Wochenplanunterricht erweist sich im Hinblick auf die soziale Integration von Kindern mit Lernbeeinträchtigungen und zur Förderung ihrer kognitiven Entwicklung als erfolgreichste Unterrichtsmethode in heterogenen Lerngruppen (Bannach 2006). Wochenplanunterricht kann die kognitive Entwicklung aller Kinder anregen und ermöglicht den Lehrern, die Kinder individuell auf ihrem Lernweg zu begleiten. Auf der Grundlage eigener Praxiserfahrung der Autorin sowie der Auseinandersetzung mit dem Werk Piagets resultieren folgende Empfehlungen für die Strukturierung von Wochenplänen von Kindern mit Lernbeeinträchtigungen in heterogenen Lerngruppen: Ulrike Becker 250 VHN 3/ 2007 1. Die Raum- und Zeitwahrnehmung von altersgerecht entwickelten Kindern, Schülern mit Lernbeeinträchtigungen und Erwachsenen sind verschieden. Diese Verschiedenheit müssen sich Lehrer zunächst vergegenwärtigen. Sie müssen sie anerkennen und in ihrer Planung berücksichtigen, um Missverständnisse und sozialen Ausschluss zu vermeiden. 2. Der Wochenplan soll Kinder mit Lernbeeinträchtigungen durch den Unterricht führen und ihre Lernprozesse strukturieren (Becker 2006). Der Wochenplan muss als Raum-, Zeit- und Soziallotse fungieren und Kinder mit Lernbeeinträchtigungen wie ein Ariadnefaden durch das Labyrinth des Unterrichts führen. 3. Ateliers, Materialkoffer und Materialwagen wirken dabei im Klassenraum als „Raumlotsen“. 4. Lernpartnerschaften dienen als „Soziallotsen“. Der Lehrer kann Lernpartnerschaften im Wochenplan für die einzelnen Aufgaben festlegen und somit garantieren, dass Kinder mit Lernbeeinträchtigungen sich nicht nur mit anderen lernschwachen Kindern zusammenfinden, sondern abwechselnd mit allen Mitschülern, insbesondere auch mit leistungsstarken, ihrer heterogenen Klasse zusammen spielen und lernen. 5. Die Arbeitsaufträge selbst, die immer visuell auf dem Wochenplanformular präsentiert werden sollten, wirken als „Zeitlotsen“. Sie geben die Aufgaben vor, die bearbeitet werden müssen, auch wenn die Kinder die Reihenfolge selbst festlegen können (Becker 2006). Aus den Ausführungen Piagets und Webers (Piaget 1946; Weber 1988) geht hervor, dass Kinder mit Lernbeeinträchtigungen Schwierigkeiten beim Erfassen von Assoziativität und Additivität haben (s. o.), sodass es zur Vermeidung von Überforderungen hilfreich ist, für Kinder mit Lernbeeinträchtigungen die Reihenfolge der Bearbeitung von Aufgaben festzulegen oder mit ihnen individuell abzustimmen. 6. Zur Anregung kognitiver Entwicklungsprozesse bei Kindern mit Lernbeeinträchtigungen sollten die Aufgaben im Wochenplan so gewählt werden, dass sie „minimale Überforderungen“ darstellen und somit den Kindern Anlässe für assimilatorisches und akkommodatives Handeln bieten. Es gilt, sowohl Unterforderungen wie Überforderungen zu vermeiden. Literatur Bannach, M. (2002): Selbstbestimmtes Lernen. Hohengehren: Schneider Bannach, M. (2006): Wochenplanunterricht. Internet unter: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wochenplanunterricht Becker, U. 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