Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Sehr kleine Frühgeborene
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2007
Franziska Hänsenberger-Aebi
Für die kindliche Entwicklung stellt extreme Frühgeburtlichkeit trotz aller medizinischen Fortschritte ein hohes Risiko dar. Etliche überlebende sehr kleine Frühgeborene weisen denn auch Behinderungen auf. Gerade bei organischer Risikobelastung wird immer wieder auf die kompensatorische Wirkung gelingender Mutter-Kind-Interaktionen hingewiesen. Obschon Studienergebnisse das oft auffällige Interaktionsverhalten zwischen Müttern und ihren sehr kleinen Frühgeborenen belegen, erfolgt der Kontakt zwischen Frühgeborenem und Heilpädagogischer Früherziehung häufig erst, wenn Störungen bereits manifest geworden sind. <p>Auch die Heilpädagogische Früherziehung betont seit geraumer Zeit die Bedeutung der Interaktion für ihre Arbeit. Weil aber Wissensgrundlagen zum frühesten Interaktionsverhalten von sehr kleinen Frühgeborenen fehlen, ist eine interaktionsfokussierte Begleitung hier schwer anzubieten. Vor diesem Hintergrund wurden im Rahmen einer Einzelfallstudie Interaktionen zwischen einer Mutter und ihrem sehr kleinen Frühgeborenen zum frühest möglichen Zeitpunkt, also bereits im klinischen Umfeld und während des ersten Monats nach der Entlassung des Kindes aus dem Spital, beobachtet und analysiert.
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1 Ausgangslage Ziel der Heilpädagogischen Früherziehung ist die Unterstützung und Förderung behinderter sowie entwicklungsgefährdeter Kinder von der Geburt bis zur Einschulung. Zunehmend gehören auch sehr früh Geborene 1 , die dank Intensivmedizin überlebt haben, zu ihrer Zielgruppe (Weiss u. a. 2004). Lebenserhaltung und Betreuung von früh - d. h. vor der 38. Schwangerschaftswoche - gebo- 285 VHN, 76. Jg., S. 285 -293 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Sehr kleine Frühgeborene Annäherung an eine Zielgruppe der Heilpädagogischen Früherziehung Franziska Hänsenberger-Aebi Inselspital Bern Zusammenfassung: Für die kindliche Entwicklung stellt extreme Frühgeburtlichkeit trotz aller medizinischen Fortschritte ein hohes Risiko dar. Etliche überlebende sehr kleine Frühgeborene weisen denn auch Behinderungen auf. Gerade bei organischer Risikobelastung wird immer wieder auf die kompensatorische Wirkung gelingender Mutter-Kind-Interaktionen hingewiesen. Obschon Studienergebnisse das oft auffällige Interaktionsverhalten zwischen Müttern und ihren sehr kleinen Frühgeborenen belegen, erfolgt der Kontakt zwischen Frühgeborenem und Heilpädagogischer Früherziehung häufig erst, wenn Störungen bereits manifest geworden sind. Auch die Heilpädagogische Früherziehung betont seit geraumer Zeit die Bedeutung der Interaktion für ihre Arbeit. Weil aber Wissensgrundlagen zum frühesten Interaktionsverhalten von sehr kleinen Frühgeborenen fehlen, ist eine interaktionsfokussierte Begleitung hier schwer anzubieten. Vor diesem Hintergrund wurden im Rahmen einer Einzelfallstudie Interaktionen zwischen einer Mutter und ihrem sehr kleinen Frühgeborenen zum frühest möglichen Zeitpunkt, also bereits im klinischen Umfeld und während des ersten Monats nach der Entlassung des Kindes aus dem Spital, beobachtet und analysiert. Schlüsselbegriffe: Heilpädagogische Früherziehung, sehr kleine Frühgeborene, Entwicklungsauffälligkeiten, Mutter-Kind-Interaktion Low Birth Weight Premature Infants An Approach to a Target Group for Early Intervention Summary: Despite all medical progress, an extreme premature birth constitutes a high risk for the child’s development. Thus a good number of surviving low birth weight premature infants are disabled. For children at risk for somatic impairments, successful mother-child-interactions may have compensatory effects. But despite the results of various studies that give evidence of disturbed interactive behaviour patterns between mothers and their small premature infants, early special intervention is only implemented after problems and disorders have become evident. Early intervention focuses more and more on interaction as an important component of its activities. However it is difficult to offer an interaction focused support for mothers with premature infants, as there is still a lack of basic knowledge on the earliest interaction behaviour of low birth weight premature infants. Against this background, the author observed and analysed the interactions between a mother and her very small premature infant at the earliest possible moment, i. e. shortly after birth at the clinic and during the first month after the child has been discharged from the hospital. Keywords: Early intervention, low birth weight premature infants, developmental problems, motherchild-interaction Fachbeitrag renen Kindern gelten heute in der Neonatologie 2 bereits als medizinische Routine. Anders sieht es bei sehr kleinen Frühgeborenen aus: Eine Geburt vor der abgeschlossenen 32. Schwangerschaftswoche bzw. ein Geburtsgewicht von unter 1500 Gramm gilt als wesentlicher Risikofaktor für die weitere kindliche Entwicklung. So wird denn auch in Fachpublikationen auf die signifikante Zunahme von Behinderungen bei überlebenden sehr kleinen Frühgeborenen hingewiesen (z. B. Inder u. a. 2005; Rose 2005; Wüsthof/ Böning 2005). Etliche dieser Kinder müssen dann im Vorschul- oder Schulalter wegen kognitiver oder sprachlicher Entwicklungsrückstände oder Verhaltensauffälligkeiten therapeutisch oder (heil-) pädagogisch - z. B. durch die Heilpädagogische Früherziehung - unterstützt werden (Weiss u. a. 2004; Wocadlo/ Rieger 2006). Dass der Kontakt - zumindest in der Schweiz - erst erfolgt, wenn Störungen bereits manifest geworden sind, hängt u. a. mit versicherungstechnischen Regelungen zusammen. Diese Praxis stimmt nachdenklich. Gerade nach organischer Risikobelastung wie einer Früh-geburt gehören gelungene Interaktionen zwischen Mutter 3 und Kind zu den wichtigsten Schutzbedingungen für die weitere Entwicklung des Neugeborenen. Eine interaktionsfokussierte Frühförderung unterstützt Eltern darin, Ausdrucks- und Kommunikationsweise ihrer Kinder besser zu verstehen und jeweils angemessen darauf zu reagieren (Kim/ Mahoney 2004; Weiss u. a. 2004). Allerdings finden sich in der Fachliteratur kaum detaillierte Angaben und Hilfen zur Beobachtung oder gar Beurteilung des frühesten Interaktionsverhaltens von Frühgeborenen. In den meisten Studien 4 waren die Kinder zum Zeitpunkt der Untersuchung zudem bereits mehrere Monate alt. 2 Phänomen und Personengruppe 2.1 Frühgeburt Bis zehn Prozent aller Geburten erfolgen zu früh, etwa ein bis eineinhalb Prozent aller Neugeborenen sind sogar sehr kleine Frühgeborene. Präventionsprogramme haben bisher keine wesentliche Verminderung der Frühgeburtengesamtrate bewirkt. Der Anteil sehr kleiner Frühgeborener hat allerdings markant zugenommen, mittlerweile überleben gut 90 Prozent dieser Kinder (Wüsthof/ Böning 2005). Der Grund einer zu frühen Geburt ist meistens nicht eindeutig. Es können sowohl Dispositionen seitens der Mutter wie auch Eigenschaften seitens des Kindes dafür verantwortlich sein. Häufige biologische Gründe bei der Mutter sind Plazenta-Insuffizienz, (Schwangerschafts-)Infektionen, Mehrlingsschwangerschaften oder das Alter der Mutter; beim Kind sind es oft Missbildungen oder Blutunverträglichkeiten. Seitens der Mutter wird auch auf psychosoziale Faktoren wie Stress, Beziehungsprobleme und finanzielle Sorgen hingewiesen. Noch vor zwanzig Jahren hatten Kinder, welche bereits nach 24 Schwangerschaftswochen geboren wurden, kaum Überlebenschancen. Dank medizinischer Fortschritte verschiebt sich die Grenze kontinuierlich, vor der abgeschlossenen 23. Schwangerschaftswoche ist die Überlebenswahrscheinlichkeit allerdings auch heute noch gering. Viele ethische Fragen in der Frühgeborenenmedizin sind schwer zu beantworten - heute werden neben der Überlebensgrenze vermehrt auch Langzeitentwicklung bzw. Lebensqualität der überlebenden sehr kleinen Frühgeborenen diskutiert (Nelle u. a. 2004; Wüsthof/ Böning 2005). 2.2 Entwicklung sehr kleiner Frühgeborener 2.2.1 Organische Entwicklung In den letzten drei Schwangerschaftsmonaten stehen das allgemeine Wachstum, das zentrale Nervensystem, die Lungenfunktionen sowie die Differenzierung der Sinnesorgane im Zentrum der Entwicklung. Frühgeborenen Kindern fehlen zahlreiche dieser wichtigen intrauteri- Franziska Hänsenberger-Aebi 286 VHN 4/ 2007 nen Entwicklungswochen. Viele sehr kleine Frühgeborene haben denn in den ersten Monaten nach ihrer Geburt auch große Schwierigkeiten, sich der extrauterinen Umwelt anzupassen. Atemprobleme, die Regulation des Wärmehaushaltes, Schwierigkeiten bei Aufnahme und Verdauung der Nahrung, Herzprobleme, aber auch Blutmangel infolge ungenügender Blutproduktion oder häufiger Blutentnahmen sind Beispiele dafür. Eine gefürchtete Komplikation sind Hirnblutungen, bekannt ist auch die Häufung sensorischer, v. a. visueller Beeinträchtigungen. Sehr kleine Frühgeborene weisen gegenüber Reifgeborenen ein massiv höheres Risiko für schwere Infektionen auf. Vor allem in den ersten Lebensjahren sind diese häufig Grund für Rehospitalisationen (Sears u. a. 2004; Wüsthof/ Böning 2005). 2.2.2 Motorik Die Beurteilung der Motorik ist bei sehr kleinen Frühgeborenen schwierig - oft wird das unreife motorische Verhalten als neurologisch krankhaft fehlinterpretiert. Einigkeit scheint aber darüber zu bestehen, dass die motorische Entwicklung bei sehr kleinen Frühgeborenen gesamthaft häufig verzögert verläuft (Strassburg 2003). 2.2.3 Wahrnehmung Die Sinnesorgane sehr kleiner Frühgeborener sind zwar bereits entwickelt, aber noch nicht ganz funktionsfähig. Zentrale Wahrnehmungsstörungen sind deshalb typische Auffälligkeiten. Aufnahme und richtige Interpretation wichtiger Informationen aus der Umgebung fallen den Kindern schwer, sie sind schnell erschöpft. Weil die Kinder Umgebungsreize nicht angemessen filtern und verarbeiten können, reagieren sie auf jedes Geräusch, jeden Lichtstrahl, jede Berührung. Dadurch werden sie unruhig, schlafen schlecht, schreien und strampeln mehr und verbrauchen mehr Energie (Bradford 2003; Nöcker-Ribaupierre/ Zimmer 2004). 2.2.4 Kognition und Sprache Variabilität der Stichproben und uneinheitliche Erfassungsinstrumente erschweren die Einschätzungen der kognitiven und sprachlichen Entwicklung sehr kleiner Frühgeborener. Von vielen Autoren wird aber ein hohes Risiko für kognitive Entwicklungsdefizite erwähnt. Ebenfalls in Untersuchungen nachgewiesen werden Sprachentwicklungsstörungen. Diese wirken sich - zusammen mit anderen Lernproblemen - auch auf die Schullaufbahn sehr kleiner Frühgeborener aus. Studien zufolge besucht bis ein Viertel von ihnen später eine Sonderschule (Bradford 2003; Schneider u. a. 2004; Rose u. a. 2005; Wüsthof/ Böning 2005; Wocadlo/ Rieger 2006). 2.2.5 Sozialität und Emotionalität Die biologische Unreife sehr kleiner Frühgeborener beeinflusst ihre selbstregulatorischen Fähigkeiten und wirkt sich auf ihre emotionale Entwicklung und ihr Verhalten aus. Die Kinder gelten als hoch irritierbar und weisen signifikant häufiger Verhaltensprobleme auf (Strassburg 2003). 2.2.6 Prognosen Langfristige Vorhersagen über den späteren Entwicklungsverlauf sehr kleiner Frühgeborener sind - besonders während ihrer ersten Lebensmonate - unsicher. Einigkeit herrscht aber darin, dass extreme Frühgeburtlichkeit ein hohes Risiko für die weitere Entwicklung des Kindes darstellt. Entsprechend häufig machen sich bei sehr kleinen Frühgeborenen gesundheitliche Probleme und Entwicklungsauffälligkeiten bemerkbar. Von schweren zentralen Störungen im Sinne von Behinderungen wird bei dreissig (Bradford 2003; Wüsthof/ Böning 2005) resp. vierzig Prozent (Bucher u. a. 2003) aller sehr kleinen Frühgeborenen ausgegangen. Sehr kleine Frühgeborene 287 VHN 4/ 2007 3 Kritische Momente im Beziehungsaufbau - Beschreibungen und Erkenntnisse aus Literatur und Forschung 3.1 Kritische Ereignisse und Phasen beim Kind Auf Grund ihrer biologischen Disposition fällt sehr kleinen Frühgeborenen die Anpassung an ihre psychische und physische Umwelt schwer. Die perinatale Umstellung vom fötalen zum eigenständigen Herz-Lungen-Kreislauf stellt meist die erste große Schwierigkeit für das Kind dar. Auch die postnatale Anpassung ist kritisch: Wegen ihrer noch unreifen Wahrnehmungsfunktionen sind sehr kleine Frühgeborene berührungs-, licht- und lärmempfindlich. Oft werden sie durch kleinste Störungen irritiert und in Anspannung versetzt - unregelmäßige Atmung und Herzschlag können die Folge sein. Die Manipulationen an ihrem Körper verursachen den Kindern häufig Schmerzen, was lange unterschätzt wurde. Exzessives Schreien während der ersten drei Lebensmonate ist zwar auch bei Reifgeborenen häufig. Bei sehr kleinen Frühgeborenen beginnt die Schreiphase aber je nach nachzuholenden Entwicklungsphasen oft erst drei Monate nach der Geburt und dauert bis zum sechsten Lebensmonat an. Ihr Schreien ist häufig schrill und hochfrequent. Essverhaltensstörungen sind bei Frühgeborenen im Säuglings- und Kleinkindalter bis viermal häufiger als bei Reifgeborenen. Viele sehr kleine Frühgeborene haben Saug- oder Schluckprobleme und müssen in den ersten Wochen durch eine Sonde ernährt werden. Dieser Fremdkörper behindert das Trainieren der Sprechmuskulatur und kann so die spätere sprachliche Entwicklung gefährden. Die künstliche Ernährung belastet das Kind aber auch psychisch. Schlafstörungen sind bei sehr kleinen Frühgeborenen häufig. Die Pflege- und Fütterkadenzen sind kürzer als bei Reifgeborenen und beeinflussen das Schlafverhalten deshalb stärker. Frühgeborene finden ihren optimalen Schlaf- Wach-Rhythmus signifikant schlechter. Sehr kleine Frühgeborene zeigen oft unklares Verhalten. Ursachen dafür sind die bereits erwähnte Unfähigkeit zur Reizausfilterung, unvollständig funktionierende Reflexe, der durch Intubationen oft erschwerte Gebrauch der Stimme, aber auch das ungewöhnliche, sehr schrille Schreiverhalten. Die mehrdeutigen und dadurch schwer zu interpretierenden Signale sind häufig Grund von Unsicherheit zwischen Kind und Mutter (Sarimski 2000; Bradford 2003; Sears u. a. 2004). 3.2 Kritische Ereignisse und Phasen bei der Mutter Der Beziehungsaufbau zum Kind beginnt unter ungünstigen, erschwerten Bedingungen - eine Frühgeburt ist eine sehr große physische und psychische Belastung für die Mutter. Die Angst, das Frühgeborene könnte doch noch sterben, erschwert es der Mutter vielfach, sich bereits stark an ihr Kind zu binden. Die räumliche Trennung vom Kind infolge der lebensrettenden medizinischen Maßnahmen hemmt die intuitive Bereitschaft der Mutter, sich dem Kind zuzuwenden. Die Situation, dass es häufig entweder in der Isolette oder im Großraumbereich der Neonatologie liegt, erschwert das Beisammensein. Auch bleibt das Kind noch mehrere Wochen im Spital, nachdem die Mutter bereits entlassen worden ist. Die Fremdbetreuung des Kindes bewirkt oft eine emotionale Zerrissenheit der Mutter. Wohl sichert sie das Überleben des Kindes, erschüttert aber das Vertrauen in die eigene mütterliche Kompetenz. Gedanken über die künftige Entwicklung des Kindes machen sich die Eltern spätestens vom Moment an, wo das Überleben des sehr kleinen Frühgeborenen gesichert scheint. Ungewissheit und Sorgen sind nicht nur für sie, sondern auch für Fachleute ein großes Problem und wirken sich gerade in den ersten Monaten nach der Geburt, aber auch später stark aus. Franziska Hänsenberger-Aebi 288 VHN 4/ 2007 Wie die Bewältigung des Alltags nach der Entlassung aus der Klinik gelingen wird, ist ein weiterer verunsichernder Faktor (Sarimski 2000; Brisch 2002; Bucher u. a. 2003; Nöcker-Ribaupierre/ Zimmer 2004; Sears u.a. 2004; Wüsthof/ Böning 2005). In Anbetracht der in der Fachliteratur und in Studien erwähnten Belastungsfaktoren erstaunt es nicht, dass in Studien ein oft auffälliges Interaktionsverhalten zwischen Müttern und sehr kleinen Frühgeborenen festgestellt wird. Mütter frühgeborener Kinder berühren diese weniger häufig, schauen sie seltener an, versuchen häufiger, die Aufmerksamkeit der Kinder zu lenken, versuchen häufiger, das gemeinsame Spiel zu steuern, halten ihre Kinder in größerer Entfernung vom eigenen Körper, lächeln ihr Kind weniger an, sprechen ihr Kind weniger oder sprechen ihr Kind häufiger an. Die gegenseitige Kontaktaufnahme fällt grundsätzlich schwer. Insgesamt scheinen Beziehungen zwischen Müttern und ihren sehr kleinen Frühgeborenen problematischer zu sein als Interaktionen zwischen Müttern und Reifgeborenen (Brisch 2002; Davis u. a. 2003; Muller- Nix u. a. 2004; Schmücker u. a. 2005; Wüsthof/ Böning 2005). 4 Interaktionen zwischen Mutter und Kind - eine Einzelfallbeobachtung 4.1 Untersuchungsmotivation Eine zu frühe Geburt beeinträchtigt den Umgang der Mutter mit ihrem Kind. In Anbetracht der erschwerten Bedingungen interessiert es deshalb, in welchen Situationen Interaktionen zwischen Mutter und Kind überhaupt vorkommen können, welche Kanäle zur Kontaktaufnahme eingesetzt werden, wann und weshalb eine Interaktion als gelungen beurteilt werden kann. 4.2 Vorgehen Die Autorin versuchte, im Rahmen einer Einzelfallstudie Antworten auf die oben gestellten Fragen zu erhalten. An der Kinderklinik des Universitätsspitals Bern (INSEL) begleitete und beobachtete sie eine allein erziehende Mutter und ihr sehr kleines Frühgeborenes (Geburtsgewicht 590 Gramm; Geburtstermin 2. Tag der 27. Schwangerschaftswoche) ab dem zehnten Tage nach der Geburt (Hänsenberger-Aebi 2006). Während sechzehn Wochen filmte sie die Mutter - zuerst im klinischen, später im häuslichen Umfeld - in Interaktionssituationen mit ihrem Kind und analysierte die Aufnahmen. Weil Kategoriensysteme für die Beobachtung sehr kleiner Frühgeborener bereits von deren erstem Lebensmonat an in der Fachliteratur fehlten, wurde selbst ein Beobachtungsraster entwickelt. Die mikroanalytische Auswertung der Filmsequenzen 5 erfolgte in vier Schritten, welche die folgenden Fragen beantworten sollten: 1. In welchen Situationen finden Interaktionen zwischen Mutter und Kind statt? Welchen Anteil daran haben Hilfestellungen von Drittpersonen? 2. Wie nehmen Mutter und Kind Kontakt auf? Wie verhalten sie sich dazu? 3. Werden dem Kind Ruhe- und Erholungsphasen zugestanden? 4. Wie stimmen Mutter und Kind ihre Interaktion aufeinander ab? 4.3 Untersuchungsergebnisse 4.3.1 Interaktionssituationen Im beobachteten Beispiel fanden Interaktionen in den ersten Lebenswochen des Kindes ausschließlich beim Känguruhen - das Frühgeborene liegt dabei nackt auf der ebenfalls Sehr kleine Frühgeborene 289 VHN 4/ 2007 nackten Brust der Mutter - und beim Sondenfüttern statt. Als sich der Kreislauf des Kindes stabilisierte, nahm die Mutter vermehrt auch pflegerische Funktionen wahr. Sobald sich die Mutter ihrem Kind widmen konnte, war der Anteil der benötigten Hilfe während des ganzen Beobachtungszeitraums gering. 4.3.2 Verhaltensmerkmale Zu Beginn wandte sich die Mutter vor allem visuell und stimmlich an ihr Kind; in ihrer motorischen Stimulation war sie während des ersten Lebensmonates des Kindes zurückhaltend. Ruhige taktile Kontakte prägten die Interaktionssituation über den gesamten Beobachtungszeitraum. Das Kind nahm während der ersten Lebenswochen vor allem mit Bewegungen des Mundes sowie mit Berührungen durch seine Hände Kontakt auf. Als es nach einem Monat der Mutter nicht mehr nur auf der Brust liegen durfte, sondern von ihr in den Armen gehalten werden konnte, ermöglichte ihm dies die Ausrichtung des Kopfes zur Mutter hin. Dank der während der beobachteten Zeitspanne verbesserten Koordination seiner Saug- und Schluckbewegungen setzte das Kind vermehrt auch seine Stimme ein. 4.3.3 Ruhe- und Erholungsmomente Das Interaktionsverhalten zeichnete sich durch eine gute Ausgewogenheit von ruhigeren und aktiveren Momenten aus. Die Mutter gab ihrem Kind immer wieder Gelegenheiten zu Ruhe und Erholung. Die Aktivität des Kindes nahm wöchentlich zu; die Mutter reagierte darauf in der Regel mit einem tendenziell zurückhaltenderen Verhalten. War das Kind ruhiger, verhielt sich die Mutter dagegen eher aktiv. 4.3.4 Abstimmung der Interaktion Mutter und Kind gelang es eindrücklich, ihre Interaktionen aufeinander abzustimmen. Die Mutter gönnte ihrem Kind - wie erwähnt - nicht nur Momente der Erholung, sondern dosierte auch die eigene Aktivität: So setzte sie visuelle, taktile, stimmliche und motorische Interaktionskanäle zu Beginn nie gleichzeitig ein. Kontinuierlich erhöhte sie dann die Zeitspanne sowie die Zahl der gleichzeitig eingesetzten Kanäle. Bis zum Schluss des Beobachtungszeitraums interpretierte die Mutter die meisten Signale ihres Kindes richtig und mehrheitlich innerhalb der als optimal geltenden Reaktionszeit von maximal einer Sekunde (Keller 2003). Dass das Kind einen sehr ausgeglichenen Eindruck machte und nur sehr selten weinte, darf als Zeichen für eine gelungene Mutter- Kind-Interaktion gelten. 5 Diskussion und Schlussfolgerungen Als Hochrisikofaktor erhöht eine sehr frühe Geburt die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsabweichung. Eine gelungene Mutter- Kind-Interaktion kann Auswirkungen von Risikofaktoren mildern, manchmal gar kompensieren. Der Aufbau der Beziehung zwischen einer Mutter und einem sehr früh geborenen Kind beginnt unter erschwerten Bedingungen - einerseits weil das Kind biologisch unreif ist und unklare Signale aussendet, andererseits weil die Mutter durch die Situation ohnehin stark belastet ist. Besonders brisant ist dies, weil sich nicht nur gelungene, sondern auch misslungene Mutter-Kind-Interaktionen als Vorläufer späterer Bindungsfähigkeit und -qualität langfristig auswirken. Mutter-Kind-Interaktionen beginnen spätestens mit der Geburt des Kindes und beeinflussen v. a. seine kognitive und psychosoziale Entwicklung. Der kognitive Entwicklungsstand der Kinder ist ein wichtiger Grund für die Zuweisung zur Heilpädagogischen Früherziehung. Früherzieher/ innen müssten ein Interesse daran haben, so früh wie möglich, d. h. bereits kurz nach der Geburt des sehr kleinen Frühgeborenen, mit dem Kind und seinen Bezugspersonen in Kontakt zu kommen, um diese zu begleiten und zu unterstützen. Die Früherzieherin müsste sich für eine solche Unter- Franziska Hänsenberger-Aebi 290 VHN 4/ 2007 stützung und Begleitung allerdings auf ein (noch) fremdes, klinisches Terrain begeben, benötigte das Einverständnis und die Unterstützung der medizinischen Fachpersonen und wäre dadurch auch von deren Wohlwollen abhängig. Dass in der Schweiz bisher während der frühesten postnatalen Entwicklungsphase sehr kleiner Frühgeborener kaum interdisziplinäre Projekte zwischen Medizin und Heilpädagogik - dies ganz im Gegensatz etwa zur Zusammenarbeit zwischen Medizin und Psychologie - durchgeführt wurden, mag auch damit zusammenhängen, dass heilpädagogisch motivierte Begleitungen in einem klinischen Umfeld nicht einfach zu organisieren sind, administrativen Bewilligungsaufwand erfordern und auch (noch) nicht finanziert werden. Möglicherweise fehlen aber auch Ideen, wie eine solche heilpädagogische Begleitung gestaltet werden könnte. Es gibt aber auch positive Seiten: Solange die Früherzieherin Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bezugspersonen, der sehr kleinen Frühgeborenen und der Fachpersonen nimmt, sich an klinikinterne Vorgaben, ethische Richtlinien, Bestimmungen des Datenschutzes und formale Auflagen hält, hat sie durchaus Möglichkeiten, ihr fachspezifisches Wissen einzubringen. Allerdings muss sie dazu bereit sein, selbst die Initiative zu ergreifen und ihre Dienste anzubieten. In Ermangelung empirischer Erfahrungen kann dabei ein theoriegeleitetes Vorgehen sinnvoll sein: Ausgehend von bestehendem, umfassendem Wissen zu Interaktionskompetenzen termingeborener Kinder lassen sich Ähnlichkeiten oder Abweichungen im Verhalten sehr kleiner Frühgeborener erkennen und einordnen. Wichtig ist auch das Wissen um die Heterogenität der beobachteten Personengruppe: In Anbetracht des aktuellen Forschungsstandes eignet sich im Moment ein einzelfallorientiertes Vorgehen (noch) besser - der Anspruch, bereits in dieser Phase generalisierende Aussagen zu formulieren, kann auch eine Fachperson rasch überfordern. Die Analyse von Interaktionsbeobachtungen ist schwierig - Interpretationen sind subjektiv, und zudem kann vieles übersehen werden. Deshalb darf der Einsatz technischer Hilfsmittel nicht gescheut werden, auch wenn das klinische Umfeld bereits sehr technologisiert ist. Eine Aufzeichnung kann zur Analyse mehrmals angeschaut werden, und mit geeigneter Software lassen sich bedeutungsvolle Sequenzen (z. B. Interaktionen unter Einbezug des Kopfes, der Hand oder der Stimme) herausarbeiten, quantifizieren und im zeitlichen Ablauf darstellen. Auch für die Fachperson sind die Eindrücke im klinischen Umfeld intensiv - Filmaufnahmen und die zeitlich verschobene Auswertung helfen bei der Wahrung der Objektivität. Manche Mütter können sich die Filme nicht sofort nach der Aufnahme anschauen - zu belastend sind die Eindrücke. Die Aufnahmen halten Geschehenes für später fest und können so die Basis für wichtige Erinnerungen und deren Verarbeitung sein. Gesammelte Filme sind mehr als einzelne Momentaufnahmen. Sie können eine ganze Entwicklungsphase dokumentieren und sind dadurch als Grundlage für Beratungen äußerst wertvoll. Zusammen mit den Bezugspersonen macht sich die Früherzieherin auf die Suche nach gelungenen Interaktionen. Hypothesen zu deren Gelingen oder Misslingen können an anderen Sequenzen überprüft werden. Im Laufe der Zeit entsteht so bei den Bezugspersonen und auch bei der Fachperson ein Grundstock an Wissen über die Entwicklung dieses individuellen Kindes und ein Verständnis für die Bedeutung seiner spezifischen Verhaltensweisen. Eingangs wurde anhand eines Einzelfalls beschrieben, wie interaktionsfokussierte Früherziehung aussehen könnte. Auch wenn es zur Generalisierung weiterer Studien bedarf, zeigt bereits das geschilderte Beispiel, dass eine solche Begleitung und Unterstützung möglich ist, wenn die Früherzieherin nicht nur über das fachliche Rüstzeug verfügt, sondern auch bereits sehr früh mit sehr kleinen Frühgeborenen und Sehr kleine Frühgeborene 291 VHN 4/ 2007 deren Bezugspersonen in Kontakt kommt: Beginnt die Begleitung schon in der Klinik, kann ungünstiges Interaktionsverhalten früher erkannt und die Mutter bei Bedarf unterstützt werden. Anmerkungen 1 Geburtstermin vor der abgeschlossenen 32. Schwangerschaftswoche; Geburtsgewicht unter 1500 Gramm 2 Zweig der Kinderheilkunde, der sich mit Neugeborenen befasst 3 Wird der Begriff Mutter in den Ausführungen zum theoretischen Rahmen verwendet, versteht er sich im Sinne von primärer Bezugsperson. Die rezipierten Studien und das Praxisbeispiel hingegen berichten über Erfahrungen, die im Mutter-Kind-Kontext erfasst wurden; hier hat der Begriff biologische Bedeutung. 4 In diesem Beitrag wird nur ein kleiner Teil der bearbeiteten Fachliteratur genannt. Ein vollständiges Verzeichnis - es enthält auch Angaben zu den im Beitrag erwähnten Studien - kann bei der Autorin (franziska.haensenberger@dkf.unibe.ch) angefordert werden. 5 eingesetzte Software: INTERACT® (www.man gold-international.com) Literatur Bradford, N. (Hrsg.) (2003): Your premature baby. The first five years. Toronto/ Buffalo: Firefly Book Brisch, K.H. (2002): Psychotherapeutische Intervention für Eltern mit sehr kleinen Frühgeborenen: das Ulmer Modell. 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Stadlmayr Effingerstraße 102 CH-3010 Bern Tel.: ++41 (0) 76 422 77 78 E-Mail: franziska.haensenberger@dkf.unibe.ch Sehr kleine Frühgeborene 293 VHN 4/ 2007
