Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Diagnose Teilleistungsschwäche - ein notwendiges Übel?
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2007
Reimer Kornmann
Margarete Schwarz
Liebe Frau Schwarz, schon seit einigen Jahren arbeite ich richtig gern, wenn auch nicht übermäßig fleißig, in der deutschen Initiative für rechenschwache Kinder (IFRK), deren Bundesvorsitzende Sie sind. So lese ich auch durchweg mit großem Gewinn das ABAKÜS(S)CHEN, die Mitgliederzeitschrift der Initiative. Ich freue mich oft über die guten Informationen im fachlichen Teil, bin aber auch manchmal entsetzt, wenn betroffene Eltern über die Leidenswege ihrer Kinder berichten oder wenn sie über die Indifferenz mancher Repräsentanten von Schulbürokratie und Bildungspolitik klagen. Wichtig finde ich auch, dass die IFRK versucht, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen und dabei viele Bündnispartner zu gewinnen.
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Neckargemünd, den 5. Februar 2007 Liebe Frau Schwarz, schon seit einigen Jahren arbeite ich richtig gern, wenn auch nicht übermäßig fleißig, in der deutschen „Initiative für rechenschwache Kinder“ (IFRK), deren Bundesvorsitzende Sie sind. So lese ich auch durchweg mit großem Gewinn das „ABAKÜS(S)CHEN“, die Mitgliederzeitschrift der Initiative. Ich freue mich oft über die guten Informationen im fachlichen Teil, bin aber auch manchmal entsetzt, wenn betroffene Eltern über die Leidenswege ihrer Kinder berichten oder wenn sie über die Indifferenz mancher Repräsentanten von Schulbürokratie und Bildungspolitik klagen. Wichtig finde ich auch, dass die IFRK versucht, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen und dabei viele Bündnispartner zu gewinnen. Bei unseren verschiedenen Begegnungen hatte ich den Eindruck, dass nur wenige Chiffren genügen, um uns auch über komplizierte Sachverhalte zu verständigen. Offensichtlich orientieren wir uns an sehr ähnlichen Zielsetzungen und Handlungsprinzipien, und wenn Widersprüchlichkeiten damit verbunden sind, haben wir sie nicht zur Sprache gebracht, sondern wohl darauf vertraut, dass sie im jeweiligen Kopf auf einer höheren Ebene gelöst werden. Lassen Sie mich konkreter werden: Ich war ebenso erfreut wie verdutzt, als Sie mich vor zehn Jahren - damals kannten wir uns noch nicht näher - um die Abdruckerlaubnis eines Artikels baten. Diesen hatte ich für die Zeitschrift „Aktion Humane Schule“ geschrieben, und er trug den Titel: „Braucht eine humane Schule die Diagnose ‚Teilleistungsschwäche‘? “ (siehe ABAKÜS(S)CHEN I/ 1997, 40 - 44). In fünf provozierenden Thesen hatte ich mich mit pädagogischen und bildungspolitischen Argumenten gegen die Verwendung von diagnostischen Kategorien ausgesprochen, die bestimmten Kindern einen Sonderstatus im schulischen Bereich zuweisen. Verdutzt war ich deswegen, weil Ihre Initiative ja recht nachdrücklich für die Anerkennung eines solchen Sonderstatus, verbunden mit einem Schutz vor Diskriminierung und Benachteiligungen, kämpft. Bei der näheren Beschäftigung mit der IFRK wurde mir aber bald deutlich, dass dies nicht der alleinige inhaltliche Schwerpunkt ihrer Aktivitäten ist, sondern dass sie vor allem für eine verbesserte Unterrichtsqualität im mathematischen Lernbereich, die von einer humanen pädagogischen Grundhaltung getragen ist, eintritt. Dies zeigt sich beispielsweise in der Auswahl der Referenten und Themen für Fortbildungstagungen und für die monatlichen Gesprächskreise, in offiziellen Stellungnahmen sowie in vielen Beiträgen für das ABAKÜS(S)CHEN. Gleichwohl würde es mich interessieren, ob Sie sich erstrebenswerte und realisierbare Bedingungen vorstellen können, unter denen sich Diagnosen wie „Dyskalkulie“, „Rechenschwäche“ oder „Teilleistungsstörung“ einmal erübrigen könnten, oder ob Sie es für sinnvoller halten, mit dem Hinweis auf die besonderen 327 Dialog Diagnose Teilleistungsschwäche - ein notwendiges Übel? Reimer Kornmann Heidelberg Margret Schwarz Altbach VHN, 76. Jg., S. 327 -329 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Probleme und Schicksale der betroffenen Kinder Ressourcen einzufordern, die der Vorbeugung, Minderung und Überwindung von Rechenschwierigkeiten dienen. Vielleicht müssen dies ja auch keine gegensätzlichen Zielsetzungen sein? Für heute grüßt Sie herzlich Ihr Reimer Kornmann Altbach, 11. Februar 2007 Lieber Herr Professor Kornmann, gern habe ich nochmals Ihren schönen Aufsatz „Braucht eine humane Schule die Diagnose ‚Teilleistungsschwäche‘? “ gelesen, den Sie vor zehn Jahren für die „Aktion Humane Schule“ schrieben und uns zum Abdruck für unser ABAKÜS(S)CHEN zur Verfügung stellten. Sie entwerfen darin das Idealbild einer humanen Schule, in der Kinder nicht wegen ihrer schulischen Leistungsschwächen diskriminiert werden und daher auch nicht unter den Folgen von Diskriminierung leiden müssen. In dieser humanen Schule werden die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und -möglichkeiten der Kinder akzeptiert. Es gibt keine Zensuren, keine fest vorgeschriebenen Lehr- und Lernziele und keine einheitlichen Leistungsanforderungen. Lernziele und Methodik werden an das einzelne Kind angepasst. Jedes Kind bekommt die jeweils nötige Zeit, die es braucht, um sich den von ihm gewünschten Lerninhalt anzueignen. Das heißt: Unterrichtsqualität und Vermittlungsmethodik sind auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder abgestimmt: Es geht nicht darum, Ausleseentscheidungen herbeizuführen. In dieser Schule ist der Blickwinkel der Lehrkraft nicht defizitorientiert, sondern entwicklungsorientiert; er richtet sich auf die Kompetenzen der Kinder und wertet damit positiv. Der Mathematikunterricht ist konstruktiv ausgerichtet: Problemlösestrategien werden erprobt, Vorkenntnisse und Alltagswissen werden genutzt. So entsteht ein Klima der Sicherheit und Geborgenheit, das allen Kindern Vertrauen gibt; Vertrauen zur Lehrerin, zum Lehrer, Vertrauen zu den Mitschülerinnen und Mitschülern, Vertrauen zu den eigenen Fähigkeiten. In dieser Schule hat die Diagnose „Teilleistungsschwäche“ keinen Platz, sie wird als Schutzfunktion nicht gebraucht; das sehe ich genauso wie Sie, lieber Herr Professor Kornmann. Nur sieht leider die Wirklichkeit an unseren Schulen anders aus. Wie Sie in Ihrem Aufsatz feststellen, beinhaltet unser vertikal gegliedertes, ausleseorientiertes Schulsystem inhumane Bedingungen, die insbesondere bei leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern zu Lern- und Leistungsverweigerung, Angst und einem negativen Selbstkonzept führen können. Daher hält die IFRK immer noch daran fest, dass die Begriffe „Rechenschwäche“, „Dyskalkulie“, „Teilleistungsschwäche im mathematischen Bereich“ ein schützendes Etikett darstellen, das - bei angemessener Verwendung - nicht diffamierend wirkt und das auch rechenschwachen Kindern unter den aktuellen Bedingungen unseres Schulwesens eine Chance auf eine Schullaufbahn gibt, die ihren Begabungen entspricht. Nach unseren Erfahrungen wird die Diagnose „Teilleistungsschwäche“ von den betroffenen Kindern und ihren Eltern in der Regel mit großer Erleichterung aufgenommen; zeigt sie ihnen doch, dass Rechenschwäche nicht gleichzusetzen ist mit allgemeiner Minderbegabung, Dummheit oder gar Faulheit. Des Weiteren versucht die IFRK - ich freue mich über den lobenden Hinweis in Ihrem Brief - durch verschiedene Aktivitäten, z. B. durch Mitarbeit in Expertengruppen des Kultusministeriums, durch Veranstaltung von Fortbildungstagungen und Vorträgen und nicht zuletzt durch eine gute Zusammenarbeit mit der Aktion Humane Schule, zu einer verbesserten Unterrichtsqualität im Fach Mathematik an unseren Schulen beizutragen. Das ist, bildungspolitisch gesehen, die Methode der kleinen Schritte, wenn man so will, und sie mag den Anschein erwecken, als identifizierten wir uns dadurch und stützten wir damit das vertikal gegliederte, auf Selektion ausgerichtete, inhumane Grundkonzept unseres Schulsystems. Reimer Kornmann, Margret Schwarz 328 VHN 4/ 2007 Ich versichere Ihnen jedoch, lieber Herr Professor Kornmann, dass sich unser Bild von der Schule der Zukunft durchaus mit dem Ihrigen deckt. Die IFRK wird sich daher auch weiterhin bemühen, die Verantwortlichen in der Bildungspolitik auf Missstände an unseren Schulen hinzuweisen, Missstände, die sich nur durch eine konsequente Reform des gesamten Schulsystems, den bildungspolitisch großen Schritt, wirklich beheben ließen. Dass sich dieses Modell realisieren lässt, das zeigen uns die „guten PISA-Länder“: In Schweden, Norwegen, Finnland verzichtet die Schule so lange und so weit wie möglich auf Noten und die vertikale Gliederung des Schulsystems, und sie erzielt damit sogar bessere Ergebnisse als die deutsche Schule. In den nordischen Schulen wird damit eine Pädagogik der Anerkennung praktiziert, die frei ist von Angst, Häme und Spott. Ihre Grundprinzipien lauten: 1. Wir dürfen kein Kind beschämen. 2. Wir dürfen kein Kind zurücklassen. In diesen Schulen - hätten wir sie denn in Deutschland - wären Diagnosen wie „Dyskalkulie“ oder „Teilleistungsschwäche“ überflüssig. Auch unsere Anstrengungen, die Bemühungen der IFRK für eine verbesserte Förderung rechenschwacher Kinder, könnten wir uns dann sparen. Das ist leider nur eine schöne Wunschvorstellung! Bekam ich doch - es ist noch gar nicht lange her - auf meine diesbezügliche Anfrage anlässlich einer Expertensitzung im Baden- Württembergischen Kultusministerium die Antwort, eine grundlegende bildungspolitische Reform sei schlichtweg zu teuer, nicht finanzierbar. Momentan lautet unsere Devise daher immer noch: Nicht verzagen, nicht aufgeben: Wir müssen weiterhin daran arbeiten, die Dyskalkulie in Schule und Öffentlichkeit bekannt zu machen, Eltern und Lehrkräfte zu sensibilisieren. Es gilt weiterhin, Verwaltungsvorschriften und Erlasse einzufordern, die den schulischen Umgang mit der Rechenschwäche-Problematik regeln. Und wir müssen weiterhin ein Auge darauf haben, dass genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, die der Vorbeugung, Minderung und Überwindung von Rechenschwierigkeiten dienen. Durch diese Methode der kleinen Schritte können wir zumindest den Schulalltag für rechenschwache Kinder ein Stück weit erträglicher und damit humaner gestalten. Ich hoffe sehr und rechne fest damit, dass Sie uns dabei als unser langjähriger und verehrter Förderer weiterhin - wie schon in der Vergangenheit - mit Ihrer hohen Fachkompetenz unterstützen! Mit herzlichen Grüßen aus Stuttgart Ihre Margret Schwarz Neckargemünd, den 4. März 2007 Liebe Frau Schwarz, Ihre Ausführungen fand ich so prägnant, stimmig und überzeugend, dass ich dem nichts mehr - weder hinterfragend noch bestärkend - hinzufügen kann und möchte. So möchte ich in dem von Ihnen beschriebenen Sinne auch künftig gern in der Initiative mitarbeiten und ihr viele engagierte und einflussreiche Unterstützerinnen und Unterstützer wünschen. Mit herzlichen Grüßen Ihr Reimer Kornmann Prof. i. R. Dr. Reimer Kornmann Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Sonderpädagogik Postfach 10 42 40 D-69032 Heidelberg Tel.: ++49 (0) 62 21-47 74 17 E-Mail: kornmann@ph-heidelberg.de Margret Schwarz Badstraße 25 D-73776 Altbach Tel.: ++49 (0) 71 53-2 74 48 E-Mail: MargretSchwarz@gmx.de Diagnose Teilleistungsschwäche 329 VHN 4/ 2007
