Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Bildung für Kellerkinder
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2007
Gotthilf Gerhard Hiller
Ökonomisch, sozial und kulturell benachteiligte Kinder und Jugendliche benötigen Bildungseinrichtungen und -programme, die sie zu einer produktiven Bearbeitung ihrer Lebensgeschichte, ihrer Lebenslage und ihrer limitierten Zukunftsperspektiven befähigen. Sie sind angewiesen auf Fachleute und Laien, die mit ihnen – durchaus im eigenen Interesse – gemeinsame Sache machen. Noch wichtiger als die Hervorbringung „gebildeter Individuen“ ist die Schaffung und der Erhalt „gebildeter Verhältnisse“. Eine politisch verantwortliche Pädagogik hat dies öffentlich wirksam zu vertreten und entsprechende Angebote zu machen.
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4 Die folgende Erzählung führt ins Zentrum der zu erörternden Fragen: Weißt du, wenn mein Sohn so reagiert wie du eben in der Klasse, dann hat er meistens ein riesiges Problem. Obwohl wir uns gut verstehen, kann er genauso sein, wie du es gerade warst. Manchmal macht er mich mit seiner Verbohrtheit richtig wütend, aber ich würde ihn niemals schlagen. Und trotzdem lasse ich nicht locker, bis ich den Grund für seine Wut erfahre. Und bei dir auch nicht. Das ist dir doch klar, oder nicht? Deinem Sohn geht es gut. Der hat doch alles. Und wir haben nichts. Nur Probleme. Da sind wir reich. Wieder tritt eine Pause ein. Langsam verschwindet die Wut aus seinem Gesicht und wird von einer bedrückenden Traurigkeit abgelöst. Auch seine zu Fäusten verkrampften Hände lösen sich. Ich lege behutsam den Arm um ihn. Er weist mich nicht zurück. Wenn du willst, dass ich dich verstehe, dann musst du mir dabei helfen. Ich soll dir helfen? Wie kann ich dir helfen? Ich, der nur ein Scheißleben, eine Scheißfamilie hat, soll einer Lehrerin helfen? Du machst dich über mich lustig. Warum glaubst du, sitze ich mit dir hier draußen und bin nicht in der Klasse, um meinen Unterricht zu halten? Um mich über die Klasse oder dich lustig zu machen? Mir ist wahrlich nicht nach Späßen zumute. Ilias dreht mir sein Gesicht zu. Als ob er sich von der Ehrlichkeit meiner Worte so besser überzeugen könnte. Meine Mutter kriegt jeden Monat Geld vom Sozialamt. Nicht viel, weil sie ja auch noch arbeitet. Und das hat sich am Freitag mein Stiefvater unter den Nagel gerissen. So, wie er es immer macht. Vom Geld als Lagerarbeiterin musste meine Mutter die Stromrechnung bezahlen. So, jetzt weißt du’s. Zufrieden? Und das hat dich so wütend gemacht, dass du in der Schule am Montag total ausflippen musstest? Ach, lassen wir’s. Das hat ja doch keinen Zweck. Soll ich jetzt gehen oder bleiben? Was willst du? 4 Das provokative Essay VHN, 76. Jg., S. 4 -9 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Bildung für Kellerkinder Gotthilf Gerhard Hiller ■ Zusammenfassung: Ökonomisch, sozial und kulturell benachteiligte Kinder und Jugendliche benötigen Bildungseinrichtungen und -programme, die sie zu einer produktiven Bearbeitung ihrer Lebensgeschichte, ihrer Lebenslage und ihrer limitierten Zukunftsperspektiven befähigen. Sie sind angewiesen auf Fachleute und Laien, die mit ihnen - durchaus im eigenen Interesse - gemeinsame Sache machen. Noch wichtiger als die Hervorbringung „gebildeter Individuen“ ist die Schaffung und der Erhalt „gebildeter Verhältnisse“. Eine politisch verantwortliche Pädagogik hat dies öffentlich wirksam zu vertreten und entsprechende Angebote zu machen. Schlüsselbegriffe: Überlebenssicherung, symbolischer Tausch, praktische Solidarität, Bildung der Verhältnisse ■ Education and Formation for Ghetto Kids Summary: Economically, socially and culturally deprived children and youths need educational institutions and programmes that help them to handle their life history, their actual life situation and their limited future perspectives. They rely on specialists and laypersons who make common cause with them - also in their own interest. However it is more important to generate „well-educated circumstances“ instead of „well-educated individuals“. A politically responsible pedagogy has to practice this policy in a effective way in public and it has to provide the appropriate range of resources. Keywords: Survival safeguard, symbolic exchange, practical solidarity, education of the circumstances Was wollen Sie? Was? Ach ja, ich habe das wieder falsch gesagt. Also: Was wollen Sie? Mit einer abwehrenden Bewegung streift er meinen Arm von seinem Rücken und steht auf. Das liegt an dir. Was willst du? Ich weiß nicht. Ich bleibe sitzen und starre vor mich hin. Plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Du hast heute Morgen nichts gefrühstückt. Dein Bruder auch nicht. Habt ihr gar nichts dabeigehabt? Ilias schüttelt nur den Kopf und starrt auf den Boden. Warum hast du dir nichts beim Hausmeister gekauft? Hast du kein Geld gehabt? Keine Reaktion. Natürlich, das ist der Grund. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen? Um vier. Um vier Uhr heute früh? Sicher nicht. Er presst seine Lippen zusammen. Das darf doch nicht wahr sein. Gestern Nachmittag um vier Uhr? Ich kann’s gar nicht glauben. So kann kein Mensch lernen. Nicht gestern. Gestern war Sonntag. Ich meinte aber Samstag. Da habe ich um vier Uhr ein Pizzastück am Hauptbahnhof gegessen. Das ist nicht dein Ernst. Du hast zwei Tage nichts gegessen? Was denkt sich deine Mutter eigentlich dabei? Ich werde mit ihr reden. Wenn sie für euch schon nichts Essbares zu Hause hat, dann soll sie euch wenigstens Geld mitgeben, damit ihr etwas kaufen könnt. Sie hat aber kein Geld. Wenn sie was hat, dann gibt sie es uns. Aber sie hat keins. Kapiert? So einfach ist das. Das habe ich ja versucht zu erklären. Ich meine vorhin. Warum hast du mir das nicht gleich erzählt, als du gekommen bist? Ist das so schwierig? Ich habe nichts zu essen dabei und auch kein Geld. Können Sie mir helfen? Ich glaube, zwischen Freunden sollte das doch möglich sein. Ich habe auch schon daran gedacht, aber mich dann so geschämt. […] Kurz vor Schulende teile ich den beiden erstaunten Brüdern mit, dass ich sie nach Hause fahren werde. Keine Angst. Ich werde mich nicht selbst zum Essen einladen. Aber ich will sehen, was für euch da ist. […] Ilias betritt mit mir die menschenleere Wohnung. Er geht zielsicher in die Küche und reißt die Kühlschranktür auf. Da, bitte. Nichts. Nur leere Gitter. Soll ich die vielleicht essen? Ist ja schon gut. Reg dich ab. Natürlich habe ich dir geglaubt. Eigentlich bin ich nur mitgekommen, damit ich nachschaue, was da ist und was fehlt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass überhaupt nichts zu essen im Kühlschrank ist. Und was ist mit Brot? Oder Nudeln oder Reis? Der Kleine macht sämtliche Küchenschranktüren auf und lässt sie offen stehen. Siehst du was? Ich nicht. Weil nämlich nichts da ist. Nichts. Null. Ilia, bin gleich wieder da. Lauf bitte nicht weg. Ich fahre mal schnell wohin. […] Nach einer knappen Stunde betrete ich mit voll gepackten Einkaufstüten wieder die Wohnung. Hier. Bring die Sachen in die Küche. Warst du einkaufen? Geklaut habe ich die Sachen nicht. Ilias grinst mich an. Ich grinse zurück. Meine Mutter wird bestimmt wütend. Wie soll ich das erklären? Dann lass es einfach. Ist doch auch nicht schlecht, oder? Die trifft der Schlag. Die kapiert bestimmt nicht, warum Sie uns immer helfen. Muss sie das? Wichtiger ist, dass du anscheinend etwas kapiert hast. Was meinen Sie? Du hast „Sie“ zu mir gesagt. Und sogar zwei Mal. Natürlich hab ich’s kapiert. Wollen Sie was essen? Bildung für Kellerkinder 5 VHN 1/ 2007 Dieser Text ist dem Buch „Ghettokids. Immer da sein, wo’s weh tut“ (Korbmacher 2004, 264 - 267) entnommen. Susanne Korbmacher berichtet darin unter anderem über ihre mehrjährige intensive Zusammenarbeit mit Ilias und Kostas und deren Umfeld. Die beiden, damals 12 bzw. 14 Jahre alt, sind die jüngeren Söhne einer türkischsprachigen Griechin. Ihr 19-jähriger Bruder ist drogenabhängig. Zu viert leben sie in einer Einzimmerwohnung. Als ungelernte Arbeiterin kann die Mutter auch mit drei Jobs die Familie kaum ernähren. Als kriminelles Duo schlagen sich Ilias und Kostas mit Diebstählen, Kurierdiensten und Prostitution am Münchener Hauptbahnhof durch. In gut erzählten Geschichten kommen in bisweilen verstörender Deutlichkeit jene Antinomien und Paradoxien einer Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen auf den Tisch, die extreme Belastungen und vielerlei Enttäuschungen aushalten müssen. Diese Antinomien und Paradoxien kann man nicht aufheben, man kann sie nur klug behandeln. An solchen Geschichten entzündet sich deshalb sehr schnell und vor allem sehr konkret die Frage, was Lehrerinnen und Lehrer in enger, bisweilen schwieriger Zusammenarbeit mit weiteren Fachkräften, mit Eltern und Angehörigen, aber auch mit ehrenamtlich engagierten Laien an kluger Praxis zu leisten vermögen. Ich nähere mich dieser Geschichte mit drei Fragen: Was ist Bildung für Kellerkinder? Erste Antwort: Überlebenssicherung, Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse. Tatverständigung statt Geschwätz. So kann kein Mensch lernen. Dass Kinder und Jugendliche für Schule, Unterricht und Ausbildung keinen Kopf haben, wenn ihnen das Allernötigste fehlt, diese Einsicht gehört spätestens seit Pestalozzi zu den Selbstverständlichkeiten jeder Pädagogik. Doch muss man als Lehrerin die Frage stellen: Wann hast Du das letzte Mal etwas gegessen? Noch präziser: Ist diese Frage nur an Grundschulen mit sozial schwachen Einzugsgebieten und an Sonderschulen vorstellbar? Oder soll, ja, muss man das auch als Oberstudienrat in einer Berufsschule oder als Ausbildungsmeister einen 17-Jährigen fragen, von Mann zu Mann? Oder wollen wir uns darauf verständigen, dass eine solche Frage eher in den Mund einer Sozialpädagogin gehört, die als Familienhelferin unterwegs ist, oder eines Streetworkers? Kinder und Jugendliche, die vom Angebot der Regelschulen nicht oder nur unzureichend profitieren und die nicht imstand sind, die dort an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen, sowie Jugendliche, die für eine Regelausbildung als nicht hinreichend fähig erachtet werden, brauchen Bildungseinrichtungen, in denen sich das dort tätige Fachpersonal für sie und mit ihnen zuvörderst um die Klärung und eine effiziente Bearbeitung ihrer Lebenslage kümmert. Sie brauchen sodann milieutaugliche, also nicht-bürgerliche Bildungskonzepte und -programme, die an die Lagen der jungen Menschen anschlussfähig sind und ihnen zu allererst Kenntnisse und Fertigkeiten zur Bewältigung ihres komplexen Alltags und zur nachweislich effektiven Bearbeitung ihrer praktischen Probleme vermitteln. Eine solche Bildung zielt auf Formen einer respektvollen Vergegenwärtigung ihrer Lebensgeschichten, ihrer je aktuellen Lebenslagen und ihrer realistisch in den Blick zu nehmenden, künftigen Lebenswege sowie auf die Aktivierung und Ausbildung der dafür erforderlichen Potenziale. Erst wenn sich diese Jugendlichen in unseren Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, auch in den Betrieben, ob ihrer Lebensgeschichte und Lebenslage nicht mehr zu schämen brauchen, wenn diese stattdessen erleben und erfahren können, dass Lehrerinnen und Ausbilder ihnen mit sachkundigem Rat, mit Geld und Tat bei der Lösung ihrer Probleme behilflich sind und sie trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge nicht fallen lassen, wenn sie ihnen gegen allen Augenschein vermitteln, dass sie ihnen zutrauen, ihrem Leben standhalten zu können, erst wenn sie merken, dass sie weder für Gotthilf Gerhard Hiller 6 VHN 1/ 2007 sich selbst noch für andere eine Bedrohung darstellen, erst dann können sie zu neugierig interessierten Grenzgänger/ inne/ n werden zwischen ihrem Milieu und jenen „respektablen Volks- und Arbeitnehmermilieus“ (Vester 2001); erst dann können sie sich einlassen auf das, was von ihnen in schulischen und beruflichen Bildungsgängen so fraglos selbstverständlich gefordert wird (vgl. Sennett 2002, 275 - 297). Dazu aber brauchen sie nicht nur im Bereich der beruflichen Ausbildung ein konsequentes und kontinuierliches Training, sondern auch in weiteren Lebensbereichen, weil sie anders ihre Potenziale nicht entfalten und sozialverträglich überformen können. Ob allerdings in den akademisch vorgebildeten Kollegien unserer Schulen hinreichend konkrete Vorstellungen dazu im Umlauf sind, auf welche Weise „Horizont[e] sinnstiftender Lebensdeutungen“ (EKD-Denkschrift Nr. 154, 2003) jeweils zustande kommen, zum Beispiel bei Holzfachwerkern oder bei Backwarenverkäuferinnen und Friseurinnen, dies halte ich bis auf Weiteres für eine keinesfalls befriedigend geklärte Frage. Wen brauchen Kellerkinder? Erste Antwort: Menschen, die mit ihnen auf längere Sicht gemeinsame Sache machen: Fürsprecher, Sachwalter, Mentoren, Paten. In keiner Arbeitsplatzbeschreibung von Lehrerinnen und Lehrern, selbst nicht von solchen an Sonderschulen, steht geschrieben, dass man halbwüchsige Schüler nach Unterrichtsschluss im eigenen Pkw nach Hause zu fahren, daselbst eine Inventur ihrer Lebensmittelvorräte durchzuführen und im Falle erkennbaren Mangels dieselben alsbald aus eigenen Mitteln zu beschaffen habe. Das weiß auch Ilias: „Meine Mutter wird bestimmt wütend. Wie soll ich das erklären? Die trifft der Schlag. Die kapiert bestimmt nicht, warum Sie uns immer helfen.“ Antwort Korbmacher: „Muss sie das? Wichtiger ist, dass du anscheinend was kapiert hast.“ Was ist da zu kapieren? Mit dieser Aktion hat die Lehrerin die Rolle der Unterrichtsbeamtin längst hinter sich gelassen, sie agiert im Niemandsland jenseits der eigenen Familie und diesseits einer Berufsrolle, in der sie zu einer solchen Dienstleistung verpflichtet wäre und dafür bezahlt würde. Sie handelt aus freien Stücken, sie investiert Zeit und Geld, ohne dass sie auf gleichwertige Gegenleistungen, auf einen Profit in Geldform zielt. Sozialwissenschaftlich formuliert, macht sie damit dieses „Niemandsland“ zu einem Feld, das nicht nach der Logik einer utilitaristischen Ökonomie, sondern nach der Ökonomie der symbolischen Güter oder der Ökonomie des symbolischen Tauschs funktioniert (vgl. Bourdieu 1998). Diese Frau weiß offensichtlich, dass man mit Geschenken und Gegengeschenken wechselseitige Verpflichtungen schafft, welche die Menschen dauerhaft aneinanderbinden. Aus solchen Praktiken entsteht Solidarität, die auf Erkennen und Anerkennen gegründet ist. Menschen, die so handeln, haben keine Intentionen zum Prinzip, sie handeln vielmehr nach erworbenen Dispositionen, nach verinnerlichten Spielregeln. Sie wissen, was sie tun müssen, ohne dass sie das, was zu tun ist, sich explizit als Zweck setzen müssten. Dass Kellerkinder solche Hersteller praktischer Solidarität dringend brauchen, steht für mich außer Frage. (Haupt- und Förder-)Schulen sollten deshalb ernsthaft darüber nachdenken, wie sie ihre Schülerinnen und Schüler mit wohlhabenden, gebildeten Personen und Gruppen in ihrem Einzugsbereich zusammenbringen können, damit es zur absichtlichen und freiwilligen Neuinszenierung von Formen des symbolischen Tauschs kommt. Es geht darum, eine Kultur des Schenkens attraktiv und trendy zu machen, die den gebildeten und wohlhabenden Zeitgenossen bislang kaum genutzte Chancen der Selbstfürsorge bietet: Wer in junge Menschen, die Gefahr laufen, ausgegrenzt zu werden, weil sie von allem, was man zum Leben braucht, erkennbar viel zu wenig haben, einen Teil seines Geldes investiert, wer sie teilhaben lässt an seinen kul- Bildung für Kellerkinder 7 VHN 1/ 2007 turellen Fähigkeiten, Daseinskompetenzen und Gütern und den Reichtum und Nutzen seiner sozialen Beziehungen zu ihren Gunsten mobilisiert, der handelt nicht nur präventiv insofern, als er von innerer und äußerer Verwahrlosung bedrohte Kinder und Jugendliche neu einbindet und beansprucht, wer so handelt, betreibt auch Prävention im Blick auf sich selbst: Durch die vorsätzlich interesselose Bindung an junge Menschen entschärfen sowohl der leistungsfähige, mobile und flexible Single, den die Wirtschaft allenthalben zum Ideal erhoben hat, wie auch das aus freien Stücken kinderlos bleibende Ehepaar die Dramatik ihrer Selbstisolation, die spätestens im Alter auf die einst Agilen in bedenklichen Formen der Vereinsamung zurückzuschlagen droht. Was ist Aufgabe der Professionellen? Erste Antwort: Lebenswerte Verhältnisse für alle schaffen und dabei möglichst viele zum Mitmachen anstiften und anleiten. Diese Lehrerin nutzt ihre Lebenserfahrung, ihren Sachverstand, ihre Zeit und ihr Geld, um lebenswerte Verhältnisse zu schaffen, für sich selbst und für gefährdete Kinder und Jugendliche. Es geht ihr gut, wenn es ihr gelingt, in ihrem Umfeld dafür zu sorgen, dass andere die Lust am Leben nicht verlieren. Korbmacher ist alles andere als eine larmoyante Oberstudienrätin, die beleidigt und resigniert in permanenter Trauer darob lebt, dass sie Schülerinnen und Schüler zu unterrichten hat, denen kaum einsichtig zu machen ist, dass auch sie einer Bildung bedürfen, die zuvörderst auf die „Entfaltung des ganzen Menschen“ zielt. Die allzu einseitige Fokussierung auf die „ganzheitliche Bildung“ des Individuums zum selbstständigen Menschen, „der zur Freiheit fähig ist“ und der seine Beziehung zu Gott, seine Beziehung zu den Mitmenschen und zur Mitwelt und seine Beziehung zu sich selbst in einer „perspektivenreichen Selbstthematisierung“ kultiviert (vgl. Huber 2005), diese Apotheose des bürgerlich autonomen Subjekts halte ich für eine unglückliche, im Blick auf die unteren Statusgruppen unserer Gesellschaft geradezu gefährliche Auflösung einer Antinomie, die man klüger behandeln kann. Ob wir eine gebildete Gesellschaft bleiben, die in der Lage ist, den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen standzuhalten, hängt entscheidend davon ab, ob es uns gelingt, „gebildete Verhältnisse“ zu schaffen und dauerhaft zu erhalten. Es genügt nicht, alles daran zu setzen, möglichst viele „gebildete Individuen“ hervorzubringen, die dann als selbstbewusste, selbstverantwortlich autonome Subjekte in den Rollen (straf-)mündiger und geschäftsfähiger Bürger mit Hilfe von Verträgen das gesellschaftliche Ganze organisieren. Wem es um „Bildung der Verhältnisse“ zu tun ist, geht davon aus, dass die Zielvorstellung einer wünschenswert humanen Gesellschaft eher kollektiv darzustellen ist: als ein Verbund von kommunalen Einrichtungen und Initiativen, die dauerhaft zu sozialen Netzwerken verknüpft sind. Sie gilt es zu schaffen und zu kultivieren, sie sind zu erhalten und auszubauen. Denn in ihnen sind die Potenziale an Kompetenzen und Ressourcen vorhanden, um allen Bürgerinnen und Bürgern, den Männern und den Frauen, den Kindern, Jugendlichen, Erwerbstätigen und den Alten, den Deutschen, den Aussiedlern, den Ausländern und den Flüchtlingen günstige Perspektiven zu eröffnen auf eine verantwortliche Gestaltung ihres Lebens und auf das Zusammenleben mit Angehörigen, auf Teilhabe an Erwerbsarbeit und auf bürgerschaftliche Mitwirkung. Ein solches Bildungskonzept, das zuvörderst auf den Erhalt und die Kultivierung menschenfreundlicher kommunaler Institutionen und Netzwerke zielt, ist allen subjektzentrierten Bildungsprogrammen insofern überlegen, als es die Individuen als das akzeptieren kann, was sie eben auch alle ausnahmslos sind: Mängelwesen, in irgendwelchen Bereichen inkompetent (defizitär) und deviant. Heute darf und kann man keine und keinen mehr sich selbst überlassen. Insofern sind wir alle auf die in vernetzten Einrichtungen erzeugbaren und nur Gotthilf Gerhard Hiller 8 VHN 1/ 2007 Bildung für Kellerkinder 9 VHN 1/ 2007 dort verfügbaren Potenziale und Ressourcen angewiesen. Weil dem so ist, geht es um zweierlei. Wir müssen prüfen, (1) inwieweit die vorhandenen Potenziale zur Gestaltung „gelingender Verhältnisse für alle“ falsch institutionalisiert und routinisiert sind und was sich daran in welchen Fristen ändern lässt. Und wir müssen fragen, (2) inwiefern wir andere Formen der Lebenspraxis brauchen, in denen der vorhandene Reichtum an Geld und Gütern, an Bildung und sozialen Bindungen allgemein, das heißt für alle wirksam werden kann. Ein zukunftsfähiges Bildungskonzept begnügt sich damit, Menschen aller Altersstufen und unterschiedlichster kultureller und sozialer Prägung in Verhältnissen am Leben zu halten, die ihnen günstig sind. So gesehen, fehlt es noch vielerorts an hinreichend präzisen Angeboten für Männer und Frauen aller Altersstufen aus den besser gestellten Milieus und an entsprechend sorgfältiger Anleitung, damit diese sich als Sponsoren, Mentoren, Paten für Kinder und Jugendliche in eine Lebenskunst praktischer Solidarität einüben und ihre Ressourcen dort einbringen können. Wenn man bedenkt, dass mittlerweile der Bericht über die Entwicklungen an der Börse zum selbstverständlichen Bestandteil der Tagesschau geworden ist, wenn man sich die Aggressivität der Werbung für Bausparverträge, Versicherungen und Konsumgüter auf allen Kanälen vergegenwärtigt, dann nehmen sich jene wenigen, viel leiseren Versuche der Schulen und der Jugendhilfeeinrichtungen geradewegs einfallslos und ärmlich aus, die darauf gerichtet sind, den Menschen in diesem Land andere Möglichkeiten schmackhaft zu machen. Es ist nicht wirklich befriedigend, wenn man als wohlhabender und gebildeter Mensch mit seinem Vermögen nichts anderes anzufangen weiß, als es in Immobilien, hochwertige Konsumgüter, teure Urlaubsreisen, allerlei Versicherungen und Aktienpakete zu investieren. So gesehen sind Vorhaben zu begrüßen, die zur Einübung in andere Lebensentwürfe einladen und damit dem Bürgertum Chancen zur Befreiung aus seiner autistischen Selbstsorge zuspielen. Literatur Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/ Main Huber, Wolfgang (2005): Bildung in der Informationsgesellschaft aus christlicher Sicht. Vortrag vor dem Internationalen Forum für Kultur und Wissenschaft am 29. August in Dresden Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend (2003): Perspektiven für Jugendliche mit schlechten Startchancen. Oktober Korbmacher, Susanne (2004): Ghettokids. Immer da sein, wo’s weh tut. München Sennett, Richard (2002): Respekt im Zeitalter der Ungleichheit. Berlin Vester, Michael (2001): Milieus und soziale Gerechtigkeit. In: Korte, K.-R.; Weidenfeld, W. (Hrsg.): Deutschland-TrendBuch. Fakten und Orientierungen. Bonn, 136 - 183 Prof. Dr. Gotthilf Gerhard Hiller Asternweg 8 D-72770 Reutlingen
