eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 76/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2007
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Was ist ein Automobil?

11
2007
Gerlinde Renzelberg
Stefan Carstens
Beim folgenden Zwiegespräch handelt es sich nicht um einen Briefwechsel, sondern um die gekürzte Fassung eines Interviews, in welchem Chancen und Grenzen der Sprachförderung bei Jugendlichen mit Hör- und Sprachbehinderungen in der Berufsbildung dargestellt werden.
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67 Beim folgenden Zwiegespräch handelt es sich nicht um einen Briefwechsel, sondern um die gekürzte Fassung eines Interviews, in welchem Chancen und Grenzen der Sprachförderung bei Jugendlichen mit Hör- und Sprachbehinderungen in der Berufsbildung dargestellt werden. G. R: Herr Carstens, Sie sind Schauspieler, haben sich der Logopädie gewidmet und sind nun Leiter der Fachstelle für Pädagogische Audiologie und Sprachförderung am Berufsbildungswerk für Hör- und Sprachgeschädigte in Nürnberg. Sie werden verstehen, dass uns dieser Werdegang interessiert. Stefan Carstens: Nun, Sprache war schon immer mein Steckenpferd. In den Jahren als Schauspieler habe ich selbst auch Sprechunterricht und Schauspielunterricht gegeben und dabei größten Wert auf die Aussprache gelegt. Sprechen ist in Verbindung mit der Gestik und der Mimik unser wichtigstes Instrument in der Kommunikation. Sprechen war also mein besonderes Faible, und irgendwann habe ich für mich entschieden, zu der Schauspielerei noch die Ausbildung zum Logopäden zu machen. Während der Ausbildung habe ich hörgeschädigte Menschen kennen gelernt und mein Interesse für die Arbeit mit Hörgeschädigten entdeckt, insbesondere die Anbahnung der Lautsprache und das Fördern des Sprachverständnisses. G. R.: Sprachförderung in der Berufsausbildung, das macht aufmerksam. Die sensiblen Phasen sind längst abgeschlossen, intuitiver Spracherwerb findet nicht mehr statt. Viele Berufsbildungswerke bieten solche Förderung gar nicht an. Stefan Carstens: Ich denke schon, dass man einiges bewirken kann. Die Jugendlichen sind drei bis vier Jahre im Berufsbildungswerk. Es ist unsere Aufgabe, sie beruflich zu qualifizieren und gesellschaftlich zu integrieren. Die hörgeschädigten jungen Menschen sollen lernen, in einer lautsprachlich orientierten Umwelt zurechtzukommen. Das heißt letztlich, dass sie in einer lautsprachlich orientierten Welt ihr Brot verdienen müssen. Im Rahmen ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten sollten sie durchaus auch in der Lage sein, Was ist ein Automobil? Hör-Sprachförderung im berufsbildenden Bereich - Chancen und Grenzen Gerlinde Renzelberg im Gespräch mit Stefan Carstens Dialog Für diese Rubrik ist in jedem Heft ein Briefwechsel vorgesehen. In der Regel wird er zwischen einer Person aus der Wissenschaft und einer Person aus der Praxis geführt und bezieht sich auf Brennpunkte in Theorie, Praxis und Politik. Die Zusendung von kurzen Leserbriefen, die auf den Dialog Bezug nehmen, ist erwünscht. VHN, 76. Jg., S. 67 -72 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Lautsprache zu verstehen resp. mit Lautsprache umgehen zu können. Ich halte dies für sehr, sehr wichtig, denn sonst besteht die Gefahr, dass sie sich isolieren bzw. isoliert werden. Wir gehen bei uns in der Fachstelle davon aus, dass jeder Jugendliche gewisse Fähigkeiten mitbringt, d. h. wir arbeiten ressourcenorientiert. Ich brauche erst gar nicht anfangen zu wissen, was der Jugendliche alles nicht kann. Wichtig ist: Was kann der Einzelne, welche Fähigkeiten hat er wirklich erworben, was beherrscht er, wo sind Ansätze vorhanden? Hier versuche ich, den Einzelnen zu fördern, ihn auch zu begeistern für den Bereich Lautsprache, z. B. dass er selber ein gewisses Interesse für Lautsprache entwickelt. G. R: Um den Leserinnen und Lesern eine Vorstellung zu geben von der Einrichtung, an der Sie arbeiten, möchte ich Sie um ein paar Zahlen bitten. Wie viele junge Menschen arbeiten oder lernen am Berufsbildungswerk in Nürnberg, und wie viele Auszubildende betreuen Sie in der Fachstelle? Stefan Carstens: Wir bilden z. Zt. 240 Jugendliche aus, und bei uns an der Fachstelle werden 60 Jugendliche von meinen Kolleginnen und mir betreut. G. R: Welche personellen Ressourcen stehen Ihnen dabei zur Verfügung? Stefan Carstens: In Zeiten knapper Kassen ist es natürlich nicht so glücklich bestellt. Wir stehen im Öffentlichen Dienst, da geht es nach den Planstellen. Das heißt für unsere Fachstelle im Klartext: zwei Vollzeitstellen à 40 Stunden und eine Dreiviertel-Stelle, also eine Stelle mit 30 Stunden. Die Aufgaben sind wie folgt verteilt: Eine Kollegin - sie ist gelernte Arzthelferin -, die sich im Bereich Audiometrie sehr gut auskennt, übernimmt die gesamten Aufgaben, die mit der Hörgeräte-Versorgung einhergehen, also auch das Anschreiben von Behörden, wenn es um die Versorgungsämter und um die Korrespondenzen mit Krankenkassen geht, bei Kostenübernahme-Anträgen usw. Dann haben wir eine Kollegin, eine Logopädin, die täglich drei Stunden bei uns ist, und dann bin ich noch da. Ich habe aber neben meinen Therapien noch die Leitung der Fachstelle zu bewerkstelligen, so dass ich etwa 45 bis 50 Prozent meiner Arbeitszeit für Therapien zur Verfügung habe. G. R: Werden die Jugendlichen regelmäßig audiometriert, einmal im Jahr zum Beispiel? Stefan Carstens: Sie werden auf jeden Fall audiometriert, wenn sie mit der Ausbildung beginnen. D. h. im September jeden Jahres werden alle neuen Auszubildenden zu einer logopädischen und einer audiologischen Eingangsdiagnostik bestellt. Entsprechend den Ergebnissen wird festgelegt, bei welchen Jugendlichen ein Kontroll-Audiogramm nötig ist und in welchen Abständen kontrolliert werden muss. Ansonsten wird aus aktuellem Anlass oder bei besonderem Bedarf audiometriert. G. R: Und wie wird die Überprüfung der Hörgeräte sichergestellt? Stefan Carstens: Hier schicken wir die Jugendlichen im Bedarfsfall zu einem Akustiker, mit dem wir zusammenarbeiten. Die Kommunikation zwischen dem Akustiker und unserer Einrichtung funktioniert sehr gut, gerade, was die Terminvergabe anbelangt. Es stellt sich ja immer die Frage: Geht der Jugendliche während der Arbeitszeit oder außerhalb der Arbeitszeit? G. R: Nun aber zurück zu Ihrer spezifischen Tätigkeit. Sie haben von Ihrer Motivation bereits gesprochen. Wie ist die Motivation der Jugendlichen, der jungen Leute, die zu Ihnen kommen? Gerlinde Renzelberg, Stefan Carstens 68 VHN 1/ 2007 Stefan Carstens: Ja, dies ist eine grundlegende Frage: Mit wem haben wir, mit wem habe ich es denn überhaupt zu tun? Ich habe es mit Jugendlichen zu tun, und insofern erinnere ich mich an meine eigene Jugendzeit und frage natürlich: Was ist im Alter von 17 oder 18 Jahren wichtig? Mir ist die Disco wichtig, vielleicht die Freundin, das Handy, Autos, Klamotten. Das Internet ist mir wichtig, vielleicht ’n bisschen Ausbildung, und was dann vielleicht sonst noch so kommt. Somit stellt sich für mich immer wieder die Frage: Wie kann ich die Jugendlichen abholen, um sie für den Bereich Lautsprache zu interessieren - oder gar zu begeistern? Was sind ihre Themen, die sie interessieren, die sie beschäftigen, die sie bewegen? Der Einstieg über diese Themen ist für mich die Brücke, über die ich mit den Jugendlichen gemeinsam gehe, um sie dann an die eigentliche fachliche Arbeit heranzuführen. Und bis jetzt nehmen die Jugendlichen dies sehr dankbar an, sie kommen gerne, es macht ihnen Spaß. Für mich ist es grundsätzlich: Es muss mindestens einmal während der Therapiestunde von Herzen gelacht werden, sonst taugt die ganze Stunde nichts. Schließlich soll jeder etwas mitnehmen können - aus jeder Stunde. Das heißt für mich, dass die Jugendlichen nicht nur lautsprachlich etwas lernen, sondern auch in ihrem Gesamtverhalten. Meine Jugendlichen haben durchaus die Freiheit, sich zu äußern - sie sollen sich sogar äußern, wenn ihnen etwas nicht passt oder wenn sie irgendetwas langweilt oder wenn es Themen gibt, die sie im Moment besonders interessieren. Sie sollen die Therapie mitgestalten. Ich mache ihnen von Anfang an klar: Diese Stunden, diese Therapiestunden werden nicht etwas sein, was ich ihnen vorsetze, sondern etwas, was wir gemeinsam überlegen und was wir gemeinsam gestalten. Und ich mache den Jugendlichen immer wieder deutlich: Das hier - mein Büro - ist kein Internat, ist keine Werkstatt, mein Büro ist keine Schule. Und wenn sie mal schlechte Laune haben, sich mal abreagieren müssen, dann dürfen sie das hier auch. Sie dürfen alles sagen/ gebärden, sie müssen es notfalls nur vernünftig begründen können. G. R: Und wie wählen Sie die Jugendlichen aus, nach welchen Kriterien gehen Sie vor? Sind es psychologische oder audiometrische Tests, die den Ausschlag geben? Sind es die Hörsystemträger oder eben nicht die Hörsystemträger? Stefan Carstens: Wenn wir nach einer theoretisch erstellten Liste gehen würden, könnten wir einfach sagen: Die oder die Jugendlichen hätten es am dringendsten nötig. Dann machen wir die Rechnung allerdings ohne den Wirt - und der Wirt ist in diesem Falle der Jugendliche. Eine Therapie nützt gar nichts, wenn der Jugendliche kein Interesse daran hat. Wenn er selber kein Störungsbewusstsein hat oder wenn er selber keine Neugierde entwickelt oder kein Bedürfnis empfindet für eine Verbesserung seiner Kommunikationssituation, dann ist auch jede Art von Therapie auf Deutsch gesagt „für die Katz“. Im Weiteren sind wir sehr darauf angewiesen - und wünschen uns das auch -, dass die Werkstätten, die Schule, das Internat uns Rückmeldungen geben, denn ich selbst begegne den Jugendlichen ja immer nur in der Vier-Augen- Situation. In der Werkstatt, in der Schule, im Internat hingegen ist er immer in einer Gruppensituation und kann ganz anders beurteilt und auch beobachtet werden. Ich bekomme also von den einzelnen Bereichen die Rückmeldungen bezüglich der Jugendlichen, d. h. die Werkstatt teilt mir beispielsweise mit, dieses oder jenes Mädel, dieser und jener Junge bräuchten vielleicht …, da wäre es dringend notwendig. Darauf gehe ich ein und hole mir die Jugendlichen. Und dann stellt es sich heraus: Haben sie überhaupt Interesse, wollen sie oder wollen sie nicht? Es ist durchaus nicht selten, dass Jugendliche, die ein Training dringendst bräuchten, absolut keine Notwendigkeit sehen und es auch nicht wollen. Oft mache ich jedoch die Erfahrung, dass es eine Zeit lang dauert, bis der Was ist ein Automobil? 69 VHN 1/ 2007 Jugendliche im Rahmen der Ausbildung selbst an seine kommunikativen Grenzen stößt, also selber spürt: Ich komme hier nicht weiter! - Dann melden sie sich doch bei uns, und das ist auch in Ordnung, denn dann ist der richtige Zeitpunkt gegeben, dann sind sie auch zur Therapie bereit. Und dies ist für mich natürlich eine ganz wichtige Grundvoraussetzung. G. R: Ihre Zielstellung haben Sie uns schon genannt. Nun würde mich interessieren, mit welchem Material, mit welchem sprachlichen Material Sie arbeiten und wie Sie methodisch vorgehen. Stefan Carstens: Therapiematerial, wie wir es aus dem Bereich der Logopädie, z. B. bei der Dyslalie, kennen, oder überhaupt vorgefertigte Materialien haben wir kaum, d. h., wir müssen unser Therapiematerial selber erstellen. Themen und Materialien für die Therapie ergeben sich aus dem Alltag, aus den alltäglichen Bedürfnissen und auch aus der alltäglichen Wortwahl, z. B. „Handy“ oder „Festnetz“. Was ein Festnetz ist, können sich Gehörlose meist kaum vorstellen. Sie sagen: Telefon. Aber was der Unterschied ist, der eigentlich grundsätzliche Unterschied zwischen einem Handy - sprich einem Mobiltelefon - und einem Festnetz, das ist ihnen meistens nicht klar. Dann versuche ich, ihnen das zu zeigen, zu erklären oder besser noch zu demonstrieren. Ich nehme z. B. den Hörer meines Festnetztelefons. Da ist natürlich eine Schnur dran. Ich stehe auf, den Hörer am Ohr, und will gehen, komme natürlich nur drei bis vier Schritte weit, dann hindert mich die Schnur daran. Anschließend nehme ich das Handy und gehe damit einmal durchs Büro. Damit wird ihnen der Unterschied klar! Und diese Brücke nutze ich jetzt, z. B. um das Wort „mobil“ zu erklären. Ich habe auch die Situation erlebt, dass ein Jugendlicher ein Wort aufgeschrieben hatte, mit dem er nichts anfangen konnte, und zwar das Wort „Automobil“. „Auto“ kannte er, aber er wusste nicht, was ein „Automobil“ ist. Ich habe ihm erklärt, dass „mobil“ „beweglich“ und dass „auto“ „selber“ bedeutet, dass „Automobil“ also etwas sei, das sich selber bewege. Ich habe ihm das anhand von Pferd und Wagen erklärt: Der Wagen wurde früher von einem Pferd gezogen. Jetzt gibt es einen Wagen, der sich selber bewegt. Da „hörte“ der Jugendliche auf einmal ganz gespannt zu, da verstand er etwas, da konnte er etwas nachvollziehen. So versuche ich, die Neugier für Worte, die Neugier für Sprache zu reizen, und das gelingt eigentlich sehr oft. Die Jugendlichen kommen manchmal mit Fragen, bei denen ich mir denke: Oh, wie erkläre ich ihnen das? Da muss ich selber überlegen, aber das ist auch der Reiz der Arbeit. G. R: Wie stehen Sie eigentlich zum Einsatz kommerzieller Software? Stefan Carstens: Solche benutze ich sehr wenig. Ich habe vor 20 Jahren an einer staatlich anerkannten privaten Berufsfachschule meine Schauspielausbildung gemacht. Meine Lehrkräfte waren 70 Jahre und älter, d. h., ich habe noch von den richtig alten „Haudegen“ gelernt. Was sie mir mit auf den Weg gegeben haben, war immer wieder das Thema „Eigenwahrnehmung“. Nehme dich selber wahr, nehme deine Atmung wahr, nehme deine Stimme wahr. Ich bin all die Jahre sehr gut damit gefahren, und ich versuche dies auch unseren Jugendlichen mitzugeben. Wenn ich z. B. eine Phonationsanbahnung durchführe oder wenn ich versuche, sie die eigene Stimme überhaupt wahrnehmen zu lassen, dann ist es mir wichtig, dass sie dies wirklich am eigenen Körper erfahren. Zudem haben die Jugendlichen nicht immer und überall einen Computer dabei, auf dem sie sehen können, wie sich eine Sprechblase öffnet, wie ein Ballon sich weitet, wenn sie lauter sprechen, mehr oder weniger Kraft auf die Stimme geben. Ich arbeite lieber mit dem Körper, arbeite lieber am Körper mit dem absoluten Schwerpunkt der Eigenwahrnehmung. Gerlinde Renzelberg, Stefan Carstens 70 VHN 1/ 2007 G. R: Wie dokumentieren Sie Ihre Arbeit, auch im Hinblick auf eine diagnosegeleitete Förderung? Stefan Carstens: Ich dokumentiere richtig klassisch, wie man es in der logopädischen Arbeit macht. Ich führe ein Verlaufsprotokoll, also das Datum, dann die Dauer der Therapiesequenz, die Zielsetzung und die Methode, zusätzlich natürlich das Engagement des Jugendlichen und welche Schlüsse man daraus ziehen kann. Dann habe ich noch eine Rubrik Sonstiges, wo ich mir Notizen über den Jugendlichen mache, z. B.: „gerade Führerschein bestanden und ganz happy“, oder „Liebeskummer, ist in dieser Stunde so gar nicht richtig dabei“. Das sind für mich wichtige Dinge, auf die ich später evtl. eingehen kann. G. R: Wie viel Zeit können Sie eigentlich den Auszubildenden, dem einzelnen Auszubildenden gönnen? Stefan Carstens: Wenn es nach mir ginge, würde ich ihnen alle Zeit der Erde gönnen! Auch das ist individuell unterschiedlich. Ich habe Jugendliche, die kommen täglich zu einer Therapie-Einheit; andere zwei- oder auch dreimal in der Woche. Weniger, meine ich, ist gerade bei unserer Klientel kaum sinnvoll. Ich komprimiere lieber. Ich halte lieber sechs Wochen je drei Stunden und schalte dann eine längere Pause ein, statt über das ganze Ausbildungsjahr hinweg schleppend pro Woche eine Therapie-Einheit zu geben. Ich denke, es ist sinnvoller, intensiv zu arbeiten. G. R: In einem unserer Vorgespräche haben Sie einen sehr interessanten Ansatz erwähnt, den Sie mit stotternden Jugendlichen durchgeführt haben. Mögen Sie uns darüber berichten? Stefan Carstens: Meinen Sie die Geschichte mit dem Kabarett? Ja, einige unserer Jugendlichen - im Moment sind es zwei - haben jeweils eine stationäre Stotterer-Therapie absolviert. Ich mache jetzt die Nachbetreuung und habe festgestellt, dass die Übungsmethoden und der Hausaufgabenpool, den sie von ihrer stationären Therapie mitbekommen haben, sehr klinisch sind und wenig mit ihrem Alltag zu tun haben. Ein stupid wirkendes, sich ständig wiederholendes Üben eines weichen Stimmeinsatzes hilft dem Jugendlichen in seiner alltäglichen Kommunikation mit seinen Mitmenschen nicht weiter. Da habe ich mir überlegt: Wie kann ich die Jugendlichen dazu bringen, dass sie anfangen, mit ihrem Stottern umzugehen? Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder beherrscht das Stottern mich oder ich beherrsche das Stottern. Also habe ich den beiden gesagt: Ihr, die ihr stottert, macht doch mal ein Kabarett. Ich habe ihnen eine alte Video-Kamera gegeben und sie aufgefordert: Filmt euch mal selber! Nehmt euch mal selber auf! Spielt damit! In anderen Worten: Guck mal in die Kamera, sprich mal genau in diese Kamera hinein. Sprich fließend oder stottere, je nachdem, wie du es in dem Moment kannst. Mach es einfach, probier es aus. Im zweiten Schritt habe ich den beiden vorgeschlagen: Überlegt euch doch mal ein Kabarett, ein Stotterer-Kabarett; geht mal mit dieser Thematik etwas spielerisch, etwas humoristisch um. Ihr dürft das; ihr dürft euch über das Stottern lustig machen, denn ihr seid davon betroffen. Würde ich es tun oder überhaupt ein fließend Sprechender, dann wäre es peinlich. Aber wenn ihr beide euch als Betroffene über dieses Thema Gedanken macht und es auch noch humoristisch verarbeitet, dann ist das akzeptabel. … Wir haben uns überlegt, dass ein solches Kabarett-Programm beispielsweise heißen könnte: „Reden müsste man können! “ Die Jugendlichen würden z. B. verschiedene Situationen aus dem Alltag kreieren oder selber eine Stotterer- Therapie nachstellen - da sollten ihnen keine Grenzen gesetzt sein. Ich habe gesagt: Arbeitet daran; ich werde euch im Hintergrund begleiten. Schaut zu, dass ihr ein bisschen Material Was ist ein Automobil? 71 VHN 1/ 2007 Gerlinde Renzelberg, Stefan Carstens 72 VHN 1/ 2007 für euch zusammen bekommt, aus dem sich etwas machen lässt. Dann machen wir das bühnenreif, und ihr könnt damit auftreten. Es ist also nicht eine Trockenübung, sondern es gibt die ganz klare Zielsetzung, zu diesem oder zum nächsten Sommerfest mit einem Kabarettprogramm aufzutreten. Ihr müsst nicht, aber ihr habt die Option. Die beiden waren ganz begeistert und gingen mit sehr viel Freude, mit sehr viel Spaß an die Sache. Es ist amüsant, was sie teilweise aus dem Ärmel gezaubert haben. G. R: Worin sehen Sie die größte Effizienz Ihrer Tätigkeit an der Fachstelle? Stefan Carstens: Die größte Effizienz, die sehe ich eigentlich darin, Jugendliche aufzuwecken, ihnen zu vermitteln, dass sie selber sehr viel mehr leisten können, wenn sie es denn wollen; sie vielleicht dahin zu bringen, Interesse zu entwickeln für Dinge, mit denen sie sich bis dahin noch gar nicht auseinander gesetzt haben. Mein Grundsatz lautet: Wenn die Jugendlichen mich nicht mehr brauchen, dann habe ich gewonnen. Es ist für mich ganz wichtig, bei den Jugendlichen Eigenständigkeit, Selbstständigkeit, Eigeninitiative zu wecken; zu erreichen, dass sie möglichst aus sich selber heraus Neugierde entwickeln, dieser Neugierde auch nachgehen, Möglichkeiten und Wege finden, Dinge in die Tat umzusetzen, die sie möchten, die sie vielleicht schon immer ein bisschen interessiert haben, an deren Umsetzung sie sich aber nie gewagt haben. G. R: Welches sind Ihre Visionen, die Visionen im Hinblick auf die Arbeit, die Visionen im Hinblick auf die jungen Menschen? Stefan Carstens: Visionen? Ja, ich habe die Vision, dass die Jugendlichen, die zu uns kommen, nicht nur ihren Beruf lernen, sondern dass sie bei uns wirklich das lernen, was man gesellschaftliche Integration nennt, dass wir sie dafür gewinnen können, viel aktiver am alltäglichen Leben teilzunehmen. Dass wir sie dafür begeistern und dazu hinführen können, mit ihrer Art der Kommunikation und mit der Erweiterung ihrer Kommunikationsfähigkeit so umzugehen, dass sie sich nicht als gehörlos oder als hörgeschädigt definieren, sondern in erster Linie als Menschen sehen, die auf ihre Art durchaus in der Lage sind, sich mitzuteilen, die nicht schweigen müssen, weil sie meinen, sich nicht äußern zu können. Ich kann tagtäglich viel von diesen jungen Menschen lernen, und sie können von mir lernen. Wenn wir das beide wollen, können wir gemeinsam sehr viel erreichen. G. R: Dem ist, denke ich, nichts mehr hinzuzufügen. Ich bedanke mich für dieses Interview. Prof. Dr. Gerlinde Renzelberg Universität Hamburg Pädagogische Audiologie Sektion 2, Fakultät IV Sedanstraße. 19 D-20146 Hamburg Stefan Carstens Berufsbildungswerk für Hör- und Sprachgeschädigte Fachstelle für Pädagogische Audiologie und Sprachförderung Pommernstraße 25 D-90451 Nürnberg