Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte (1/07)
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Inklusion und Exklusion im Kontext „prekärer Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen“ – Projektskizze
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73 VHN 1/ 2007 Inklusion und Exklusion im Kontext „prekärer Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen“ - Projektskizze Dr. Kirsten Puhr Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Forschungsanliegen Im Forschungsprozess wird untersucht, wie a) Jugendliche mit und ohne Hauptschulabschluss und b) Menschen, die ohne Erwerbsarbeit ihr Leben gestalten, „individuelle Lebensführung“ und „soziale Teilhabe“ thematisieren. Der Fokus der Forschungsarbeit ist die Vielfalt und Fragilität möglicher Bedeutungen „prekärer Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen“ für individuelle Lebensführungen und soziale Beziehungen vor dem theoretischen Hintergrund der Paradoxie von Inklusion und Exklusion. Über narrative Interviews werden dafür Selbst- Vorstellungen initiiert. Jugendliche und Erwachsene stellen sich selbst und einer Interviewerin in einer Szene mit dem thematischen Rahmen „prekäre Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen“ vor. Thematischer Rahmen Obwohl in unserer Gesellschaft die Exklusion aus dem Arbeitsmarkt sozialstrukturell und moralisch nicht gerechtfertigt ist und der Gleichheitsanspruch Inklusionsmöglichkeiten für alle Menschen fordert, muss zur Kenntnis genommen werden, dass faktisch mehr als vier Millionen Menschen von einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Einerseits sind 4.535.000 Menschen in Deutschland ohne anerkannte Erwerbsarbeit, davon 15,8 % unter 25 Jahren (vgl. Statistisches Bundesamt im April 2006). Andererseits werden „prekäre Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen“ als des-integrierende Bedingungen für sozialen Zusammenhalt und gesellschaftliche Teilhabe (vgl. Kronauer 2002) sowie als Kontext für individuelle Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit verstanden (vgl. Mathern 2003). Zugleich jedoch werden die Einschränkungen der Teilhabemöglichkeiten individualisiert, etwa als ungenutzte Chancen „gering Qualifizierter“ (BMWA 2005) im Zusammenhang mit „geringen schulisch erworbenen Basiskompetenzen“ (vgl. Pisa 2001) oder im Kontext der Veränderungen des Arbeitslosenrechts mit der gesteigerter Pflicht zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit (vgl. SGB II). Theoretischer Bezug Angesichts des begrenzten Angebots an Ausbildungsplätzen und der anhaltend hohen Erwerbslosenzahlen wäre von einer zeitlich-biografischen, sozialen und sachlich-inhaltlichen Kontingenz von Mustern individueller Lebensführung sowie sozialer Teilhabe auszugehen (vgl. Luhmann 1997) und damit auch von der Kontingenz der Konzepte „Ausbildung“ und „Erwerbsarbeit“. Damit steht nach Engler die Gesellschaftsstruktur zur Disposition, „die auf berufsmäßigen Erwerb als Regelfall individueller Existenzsicherung aufbaut“ (Engler 2005, 113). Engler schließt daran zwei zentrale gesellschaftliche Fragen an: 1. Wie lassen sich die Existenzgrundlagen des Gemeinwesens und des Einzelnen sichern, wenn nicht durch Arbeitsleistung? 2. Wie können Menschen diszipliniert werden, wenn nicht durch Organisation von Arbeit? (vgl. ebd., 115) Damit verbunden formuliert er als Aufgabe für die/ den Einzelnen den „Bau eines sozialen, zeitlich, räumlichen Netzes ohne vorgegebenes Zentrum, Mut zu a-zentrischer Existenz, die sich neue Mittelpunkte erst noch schaffen muss“ (ebd., 56). Aktuelle Forschungsprojekte In dieser Rubrik stellt die VHN laufende Forschungsprojekte zu heilpädagogischen Fragestellungen in Kurzform vor. Für das Einholen weiterer Informationen durch interessierte Leserinnen und Leser geben die Autoren eine E-Mail-Adresse an. Wir bitten unsere Leserschaft um die Zusendung solcher Kurzberichte über laufende Forschungsprojekte. Forschungsperspektiven Im Zentrum der Forschung steht die Frage nach möglichen Bedeutungen „beruflicher Inklusion und Exklusion“ unter Berücksichtigung verschiedener Formen der Lebensführung, auch solcher der „Nicht- Erwerbsarbeit“. Dabei soll die Perspektive nicht auf Beeinträchtigungen individueller Potenziale und Ressourcen sowie Ausgrenzung von sozialer Teilhabe und Orientierungslosigkeit reduziert werden. Es sind zwei analytische Perspektiven zu verfolgen. Zunächst werden lebensweltliche Deutungen und Konstruktionen sozialer Netze mit Hilfe narrativer Interviews erhoben und als Muster „individueller Lebensführung“ sowie „sozialer Teilhabe“ rekonstruiert. Dabei scheint von besonderem Interesse, welche Selbst-Vorstellungen Menschen im Kontext „prekärer Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen“ entwickeln, um „die Existenz auch ohne Lohnarbeit zu sichern und die persönliche Würde zu wahren“ (Engler 2005, 1). In einem zweiten Analyseschritt werden Lebensformen jenseits bezahlter Erwerbsarbeit nach der Qualität der Teilhabe an Wohlstand, Beschäftigung und Bürgerstatus untersucht. Die Analyse von sozialer, institutioneller und rechtlicher Inklusion und Exklusion als besondere Art von Wechselbeziehungen ermöglicht es, qualitative Unterschiede von Teilhabe als Verschiebungen von Inklusion am Arbeitsmarkt an den Dimensionen gesellschaftlichen Lebens (Konsum, Interessenvertretung, gesellschaftlich anerkannter Status, materielle Sicherheit) sowie im Hinblick auf die soziale Einbeziehung in Netzwerke und soziale Interdependenzen zu charakterisieren. Entsprechend dem theoretischen Hintergrund der Paradoxie von „Inklusion“ und „Exklusion“ werden Muster „individueller Lebensführung“ und „sozialer Teilhabe“ analysiert, die als soziale Einbindung und Ausgrenzung zugleich zu charakterisieren sind. Die beiden paradoxen Formen Ausgrenzung und Zugehörigkeit lassen sich mit Kronauer als „ausschließende Inklusion“ und „einschließende Exklusion“ verstehen (vgl. Kronauer 2002, 119). Als „ausschließende Inklusion“ bezeichnet er die Einbindung über Erwerbsarbeit bei eingeschränkten Lebenschancen und sozialen Rechten. „Einschließende Exklusion“ meint die Teilhabe an politischen und sozialen Bürgerrechten bei Ausgrenzung von Erwerbsarbeit sowie den damit verbundenen beschränkten Lebenschancen und Ressourcen der Interessenvertretung. Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Forschungsprozess Im Jahre 2005 wurden 20 narrative Interviews geführt, 18 davon konnten transkribiert werden. Für 2006 sind ca. 20 weitere narrative Interviews geplant, davon sind elf realisiert und für drei weitere Termine verabredet (Stand August 2006). Im Forschungsprozess werden einerseits gezielt Frauen und Männer unterschiedlichen Alters angesprochen, die ihr Leben aktiv ohne anerkannte Erwerbsarbeit gestalten. Menschen, die in Erwerbsloseninitiativen, im Rahmen von Freiwilligenarbeit bzw. durch informelle Arbeiten oder Eigenarbeit tätig sind, werden nach ihrer Lebensführung und sozialen Teilhabe befragt. Mit Hilfe dieser Fälle „einschließender Exklusion“ werden spezifische Qualitäten gesellschaftlicher Arbeit im Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion analysiert. Andererseits werden Jugendliche einbezogen, die sich an den „in der Schulzeit entwickelten und nicht selten auch in den Bildungsangeboten genährten Hoffnungen auf eine qualifizierte Vollbeschäftigung“ (Freidemann/ Schroeder 2000, 79) orientieren und damit an „eine(r) trügerische(n) Zukunftsperspektive“ (ebd.). Das betrifft insbesondere Jugendliche, die Schülerinnen und Schüler an Sekundar- und Förderschulen waren, von denen aufgrund ihres Schulabschlusses und ihrer aktuellen institutionellen Verortung in berufsvorbereitenden Maßnahmen, überbetrieblichen Ausbildungsgängen und Arbeitsprojekten vermutet wird, dass ihre Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen systematisch eingeschränkt sind. Anhand dieser Fälle „ausschließender Inklusion“ werden Wechselbeziehungen von Inklusion und Exklusion im Kontext der Risiken des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes analysiert. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei kirsten.puhr@paedago gik.uni-halle.de Lebensalltag und Identitätsarbeit körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen Bettina Bretländer Universität Dortmund Wie sehen der Lebensalltag und die daraus resultierende Identitätsarbeit körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen unter so genannten postmodernen Lebensbedingungen aus? Aktuelle Forschungsprojekte 74 VHN 1/ 2007 Dieser Frage konnte in umfassender Weise im Rahmen des Forschungsprojektes „Geschlecht und Behinderung: Prozesse der Herstellung von Identität unter widersprüchlichen Lebensbedingungen“ nachgegangen werden, das in der VHN (Heft 3/ 2004) bereits vorgestellt wurde (vgl. Bretländer/ Schildmann 2004, 271 - 281). Dem Forschungsprojekt war ein zweistufiges Untersuchungsdesign zugrunde gelegt: Die erste Untersuchungseinheit umfasste eine landesweite (NRW) schriftliche Befragung 15bis 18-jähriger körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen mittels eines halbstandardisierten Fragebogens (N = 106) mit dem Ziel der explorativen Erfassung des Lebensalltags und ausgewählter Identitätsaspekte. Im Rahmen der zweiten Untersuchungseinheit wurde eine Teilgruppe (N = 26) der Gesamtstichprobe mittels leitfadengestützter Interviews befragt, um vertiefende Erkenntnisse über Lebensalltag und Identitätsarbeit körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen zu gewinnen. Wie bereits in o. g. VHN-Beitrag erwähnt, war letztgenannte Untersuchungseinheit Inhalt meiner Dissertation unter dem Titel „Lebensalltag und Identitätsarbeit körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen“, mit deren Veröffentlichung im Frühjahr/ Sommer 2007 zu rechnen ist und deren Inhalte hier in Kürze vorgestellt werden sollen. Die Dissertation umfasst drei Schwerpunkte: Theoriegrundlagen, Methodengrundlagen und Ergebnisse der empirischen Untersuchung. Auf der Ebene der Theoriegrundlagen werden zum einen der Stand der Forschung (Körperbehindertenpädagogik, Frauenforschung in der Behindertenpädagogik), zum anderen identitätstheoretische Grundlagen für die eigene empirische Untersuchung dargelegt: das Identitätsverständnis der Integrativen Therapie (Petzold 1992), das Konzept der Patchwork-Identitäten (Keupp u. a. 1999) sowie das Modell der Person als „dynamisches System vielfältiger Selbste“ (Bilden 1998), ein feministisch-kritischer Ansatz der Herstellung von Geschlechtsidentitäten (Bilden 1991, 1999). Die methodischen Grundlagen erläutern das komplex gestaltete Untersuchungsdesign sowohl der (quantitativ angelegten) schriftlichen als auch der (qualitativ ausgerichteten) mündlichen Befragung (Leitfaden-Interviews; siehe o. g. Forschungsprojekt). Der dritte Schwerpunkt beinhaltet die Präsentation und Reflexion der empirischen Ergebnisse: Im Sinne einer triangulären Forschungspraxis werden die Untersuchungsergebnisse (Interviewbefragung) auf qualitativer Datenbasis mit denen der quantitativen Datenerhebung in Beziehung gesetzt. Als besonders relevant erscheinen die Themenschwerpunkte strukturelle Alltagsbedingungen körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen und Reflexion der damit einhergehenden Identitätsarbeitsprozesse: • typische Tagesabläufe körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen, die sich je nach Lebenskontext (Familie, Internat) strukturell voneinander unterscheiden; • Krankenhausaufenthalte/ medizinische Eingriffe und ihre Alltagssowie Identitätsrelevanz für körperbehinderte Mädchen/ junge Frauen; • schulische Lernbedingungen körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen, die - sowohl in Regelals auch in Sonderschulen - durch Bildungsbenachteiligung gekennzeichnet sind (wenngleich verbunden mit unterschiedlichen bildungspolitischen Ausgangslagen); • Übergang Schule - Beruf, der sich für die befragten körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen als persönlich relevantes und politisch brisantes Thema herausstellt. Daneben - und auch in Verbindung damit - wird der Auseinandersetzungsprozess körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen mit ihrem Körper, ihrer körperlichen Schädigung und sozialen Behinderungsaspekten deutlich. Untersucht wird vor allem die Frage, mit welchen schädigungs- und behinderungsspezifischen Erfahrungen sich körperbehinderte Mädchen/ junge Frauen in ihrem Alltag auseinander setzen (müssen) und in welcher Weise sich diese auf die Identitätsarbeit (bzw. das Selbstbild/ -gefühl) auswirken. Interessant sind auch die Ergebnisse zu dem Fragenkomplex, mit welchen Real-Selbstbildern und Ideal-Selbstbildern sich körperbehinderte Mädchen/ junge Frauen identifizieren bzw. welche sie repräsentieren (wollen). Der Umgang mit gängigen Normalitäts- und auch Schönheitsstandards, der dabei zu beobachten ist, wird hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Identitätsarbeit kritisch reflektiert. Die Auseinandersetzung körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen mit Fremdbilderwartungen und deren Auswirkungen auf Selbstbild/ Identitätsarbeit wird auf der Grundlage des empirischen Materials im Rahmen von Beziehungserfahrungen mit den eigenen Müttern und Vätern sichtbar. Aktuelle Forschungsprojekte 75 VHN 1/ 2007 Eine letzte Ergebnisebene umfasst Identitätsarbeitsleistungen körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen aus retrospektiver und prospektiver Sicht der Befragten. Typische Lebenserfahrungen (z. B. widersprüchliche) drücken sich besonders nachdrücklich in selbst konstruierten Lebenstiteln der Befragten aus, z. B. „Ein ganz besonderes, total verrücktes Leben“. Auch der Blick in die eigene Zukunft (in zehn Jahren) lässt auf zu erwartende schwierige und widersprüchliche Lebensbedingungen/ -strukturen schließen, deren sich die Mädchen/ jungen Frauen bereits im Alter von 15 - 19 Jahren bewusst sind oder die sie zumindest schon erahnen. Die im Rahmen der Dissertation vorgestellten Untersuchungsergebnisse werden abschließend unter zwei ausgewählten identitätstheoretischen Fragestellungen reflektiert: Auf der Grundlage des Modells der „Fünf Säulen der Identität“ (Petzold 1992) wird dargelegt, wie die Identitätssäulen körperbehinderter Mädchen/ junger Frauen unter besonderer Berücksichtigung sowohl Identität stärkender (Ressourcen) als auch Identität schwächender Faktoren (Risiken) konkreter zu charakterisieren sind. Vor diesem Hintergrund wird kritisch reflektiert, ob Pluralismus und Individualismus, welche die (post-)moderne Gesellschaft kennzeichnen, körperbehinderten Mädchen/ jungen Frauen eine vielfältige und an eigenen Idealen orientierte (Geschlechts-)Identitätsentwicklung eher ermöglichen (Bilden 1998, Keupp u. a. 1999) und erleichtern oder vielmehr erschweren. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei bettina.bretlaender@ uni-dortmund.de Behinderung - (K)ein Komisches Phänomen? Eine Analyse komischer Konstruktionen von Behinderung und ihrer Bewertung vom Mittelalter bis heute Claudia Gottwald Universität Dortmund Fragestellung Im Rahmen der Promotion beschäftige ich mich mit der komischen Darstellung behinderter Menschen aus historischer Perspektive. Es geht darum zu betrachten, wann Behinderung als komisch gesehen und wie diese Sichtweise begründet wird. In diesem Zusammenhang soll analysiert werden, welche Kontinuitäten und Umbrüche im Verlauf verschiedener Epochen erkennbar sind und welche Kontextfaktoren dabei eine Rolle spielen. Zentral ist auch die Frage, was das Lachen über Behinderung bzw. seine Tabuisierung über die Stellung behinderter Menschen in einer Gesellschaft aussagt. Folgende Fragen stehen im Mittelpunkt des Forschungsprozesses: - Wann wird Behinderung im Verlauf der Geschichte bis heute als komisch repräsentiert? Welche Kontextfaktoren und welche Rahmenbedingungen spielen dabei eine Rolle? - Wann und warum wird das Lachen über Behinderung abgelehnt, tabuisiert oder verboten? Wie wird das Lachen über Behinderung bewertet und reflektiert? - Warum wird Behinderung (nicht) als etwas Komisches empfunden? - Wie wird und wurde die komische Darstellung bewertet? - Was sagt dies über eine Gesellschaft bzw. die Stellung behinderter Menschen in ihr aus? - Was ist das Komische? Welche Theorien sind hier relevant? - Welche Zusammenhänge zwischen der Wahrnehmung des Komischen und Behinderung gibt es? Mein Interesse für die Zusammenhänge von Komik und Behinderung wurde geweckt, als mir auffiel, dass aktuell eine Vielzahl (körperbehinderter) Zeichner komische Illustrationen und Cartoons bzw. Karikaturen über Behinderung veröffentlicht, während Behinderung allgemein weiterhin eher als tragisches oder bemitleidenswertes Phänomen oder als Thema von Medizin und Pädagogik betrachtet wird. Nach wie vor aber scheint das Lachen über Behinderung ein ambivalentes: eines, bei dem einem buchstäblich das Lachen im Halse stecken bleiben kann. Deutlich wurde durch erste Recherchen zu diesen Fragen jedoch auch, dass das Lachen über Behinderung bzw. über Deformationen und Abweichungen bereits seit der Antike (z. B. bei Aristoteles, Cicero und Plinius) immer wieder benannt und diskutiert wird. Zielsetzung Im Sinne eines interdisziplinären, d. h. sowohl behinderungsspezifischen als auch kulturwissenschaftlichen bzw. kulturtheoretischen Zugangs soll die Frage nach den Zusammenhängen, Ambivalenzen, Be- Aktuelle Forschungsprojekte 76 VHN 1/ 2007 Aktuelle Forschungsprojekte 77 VHN 1/ 2007 wertungen und Tabus in Bezug auf die Darstellung behinderter Menschen als Objekte von Komik im Verlaufe der Geschichte seit dem Mittelalter betrachtet und analysiert werden. Wie der Titel der Arbeit andeutet, beschäftige ich mich mit dem Diskurs über das Komische in Zusammenhang mit Behinderung aus historischer Perspektive. Es geht nicht darum, moralisch zu bewerten, ob über Behinderungen gelacht werden darf oder nicht, und auch nicht darum, unterschiedlichste Ansätze zum Ursprung des Komischen - so genannte Komiktheorien - einer Bewertung zu unterziehen. Ich möchte eine eher epistemologische Perspektive einnehmen und analysieren, wie und warum Behinderung in unterschiedlichen historischen Epochen als komisch empfunden wird. Es geht mir also um die Frage, wann und wie (z. B. eher verspottend, auslachend, aggressiv usw.) über Behinderung gelacht wird und wie sich dieses Lachen legitimiert bzw. wann und warum das komische Lachen über den abweichenden Körper zumindest zeitweise ein gesellschaftliches Tabu darstellt. Forschungsmethodik Wissenschaftstheoretische Grundlage der Arbeit bildet die Diskurstheorie, aus der die Diskursanalyse als methodischer Ansatz hervorgegangen ist. Da die Analyse schriftlicher Quellen aus unterschiedlichen Epochen in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wird, um den historischen Wandel und dessen Bedeutung in Zusammenhang mit der sozialen Situation behinderter Menschen zu fokussieren, betrachte ich das Thema in Hinblick auf seine Kontinuitäten bzw. seinen Wandel und seine (diskursiven) Umbrüche. Ziel eines diskursanalytischen Vorgehens ist die „Hinterfragung gesellschaftlicher Ontologisierungen“, in diesem Fall der Behauptung: Behinderung darf (nicht) komisch sein. Diese Sichtweise entspricht meiner Forschungsperspektive, da es mir wie oben erläutert nicht um eine abschließende moralische Bewertung des Lachens über Behinderung, sondern um die Analyse dieser Konstruktion in Bezug auf ihre Funktion für eine Gesellschaft geht. Historische Diskursanalyse kann so zeigen, dass Wirklichkeiten historisch gemacht sind (weil sie relativ sind) und in bestimmten wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen stehen (vgl. Landwehr 2001, 172). Dabei gehe ich davon aus, dass Diskurse die Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern herstellen; mit den Worten von Reiner Keller sind Diskurse „Praktiken der Deutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion“ (Keller 2001, 123). Welche Erkenntnisse die dargestellte Perspektive erwarten lässt, hängt aber nicht zuletzt davon ab, was Aussagen über das Komische über eine Gesellschaft zum Vorschein bringen können. Philosophen und Soziologen, die sich mit dem Komischen beschäftigen, schätzen dessen Aussagekraft hoch ein. So konstatiert bspw. Peter L. Berger: „Die Komische Erfahrung bietet eine spezielle ‚Diagnose‘ der Welt. Sie ‚sieht hindurch‘ durch die Fassaden der ideologischen und soziologischen Ordnung und enthüllt andere Wirklichkeiten, die dahinter warten“ (Berger 1998, 44). Wenn Komik oder das komische Lachen ein Bestandteil des gesellschaftlichen Umgangs mit oder eine Reaktionsform auf Behinderung ist, dann gilt es meines Erachtens, dies historisch zu verdichten und zu rekonstruieren. Jenseits von moralisch korrektem und/ oder politisch und pädagogisch gewolltem Denken kann die Analyse komischer Repräsentationen die gesellschaftlich-normative Sichtweise auf Behinderung näher beleuchten. Deutlich machen die Analysen dann aber auch, dass Behinderung nicht ist, sondern kulturell hergestellt wird. Weitere Informationen sowie Literaturhinweise können eingeholt werden bei claudia.gottwald@unidortmund.de
