eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 76/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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„Wie werden aus Menschen mit Behinderung Menschen ohne Behinderung?“ - eine Frage der Verantwortung?!

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2007
Barbara Ortland
Auf der erkenntnistheoretischen Grundlage einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive wird ein relationales Verständnis von Behinderung expliziert und die Frage nach dem Entstehen von Behinderungen gestellt. Als Konstituenten behindernder Prozesse werden behindernde Situationen, Bewertungsprozesse sowie Anpassungsleistungen der Beteiligten expliziert, um somit Enthinderungspotenziale zu analysieren. Durch die Fokussierung auf pädagogische Vollzüge werden Pädagogen als mehrfach behindernd Könnende in den Blick genommen, um dann die Übernahme von Verantwortung für behindernde Prozesse, Dialogfähigkeit und Reflexionskompetenz als erforderliche Kompetenzen für ,Enthinderungen“ zu generieren. Konsequenzen für die Arbeit an der Förderschule sowie für universitäre Lehre und Forschung werden abschließend aufgezeigt.
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94 In den nachfolgenden Ausführungen soll sehr grundlegend die Frage nach dem Entstehen oder Nicht-Entstehen von Behinderungen (exemplarisch Körperbehinderungen) gestellt werden. Damit wird bewusst eine Sichtweise verlassen, bei der das ,Problem‘ der Behinderung vorrangig und kausal bei Menschen z. B. mit körperlicher Schädigung verortet wird. Es soll die These zur Diskussion gestellt werden, dass die so genannten Professionellen in der Heil- und Sonderpädagogik noch zu wenig ihre Beteiligung an behindernden Prozessen in den Blick nehmen und sich somit erst in Ansätzen als potenziell Behindernde reflektieren. Möglichkeiten der Realisierung nicht behindernder Lebens-, Lern- und Arbeitsbedingungen sollten stärker in den schulischen, außerschulischen und hochschulischen Blick genommen werden. Das provokative Essay VHN, 76. Jg., S. 94 -101 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Wie werden aus Menschen mit Behinderung Menschen ohne Behinderung? “ - eine Frage der Verantwortung? ! PD Dr. Barbara Ortland Universität Dortmund Zusammenfassung: Auf der erkenntnistheoretischen Grundlage einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive wird ein relationales Verständnis von Behinderung expliziert und die Frage nach dem Entstehen von Behinderungen gestellt. Als Konstituenten behindernder Prozesse werden behindernde Situationen, Bewertungsprozesse sowie Anpassungsleistungen der Beteiligten expliziert, um somit Enthinderungspotenziale zu analysieren. Durch die Fokussierung auf pädagogische Vollzüge werden Pädagogen als mehrfach behindernd Könnende in den Blick genommen, um dann die Übernahme von Verantwortung für behindernde Prozesse, Dialogfähigkeit und Reflexionskompetenz als erforderliche Kompetenzen für ,Enthinderungen‘ zu generieren. Konsequenzen für die Arbeit an der Förderschule sowie für universitäre Lehre und Forschung werden abschließend aufgezeigt. Schlüsselbegriffe: Entstehen von Behinderungen, Enthinderungsprozesse, pädagogische Konsequenzen “How Do Humans with a Handicap Become Humans without a Handicap? ” - a Question of Responsibility? ! Summary: On the epistemologic basis of a systemic-constructivist perspective the author expresses a relational understanding of handicap and she asks about the becoming of handicap. In order to analyse ‘potentials of enabling’ (Enthinderungspotenziale), she describes hampering situations, evaluation processes as well as adaptation efforts of the individuals involved as constituents of hampering processes. By focusing on educational actions, pedagogues are considered being able to hamper the development of children, youths and adults in multiple ways. This view allows to generate the acceptance of responsibility for hampering processes, for the ability to exchange ideas and opinions and for the reflection skills as necessary competencies for ‘enabling processes’ (dt. Enthinderungen). Finally the author points out the consequences for the work at special schools as well as for research and for teaching on university-level. Keywords: Becoming of handicap, processes of enabling, pedagogical consequences VHN 2/ 2007 95 „Wie werden aus Menschen mit Behinderung Menschen ohne Behinderung? “ 1 (Körper-) Behindert - ein Wort ohne Aussagekraft? Eine systemisch-konstruktivistische Perspektive soll im Folgenden dazu dienen, das Verständnis von Behinderung in seiner Relationalität aufzuzeigen (vgl. ausführlicher Ortland 2005). Diese Form des Sehens (vgl. Dederich 2006) bietet zunächst die Einsicht, dass die Bezeichnung von z. B. Bewegungsbesonderheiten als Körperbehinderungen nicht als ein Faktum zu werten ist, sondern als eine Form der Unterscheidung, die Beobachter des Phänomens ,Bewegungsbesonderheit‘ getroffen haben. Dieser Begriff der ,Körperbehinderung‘ ermöglicht nicht ein Mehr an Verstehen eines Bewegungsablaufes oder der Lebenssituation eines so genannten körperbehinderten Menschen. Begriffliche Unterscheidungen müssen jedoch im Bemühen um einen konsensuellen Sprachgebrauch dargelegt werden: Demgemäß sollen in diesem Beitrag in Anlehnung an das Klassifizierungsmodell der ICF (2001) nur die Beeinträchtigungen der Aktivität und der gesellschaftlichen Teilhabe als Behinderungen bezeichnet werden. Für die Funktionsstörungen auf der Ebene der Körperfunktionen und -strukturen werden die Begriffe der körperlichen Schädigung bzw. der besonderen Lebensvoraussetzungen oder Ausgangsbedingungen des Lebens verwendet. Durch diese Unterscheidung wird deutlich fokussiert, dass Behinderungen durch entsprechend ungünstige bzw. behindernde Personenfaktoren und/ oder Umweltfaktoren auf den Ebenen der Aktivität und Teilhabe konstituiert werden. 2 Relationalität von Behinderung Um eine Antwort auf die Ausgangsfrage - ,Wie werden aus Menschen mit Behinderung Menschen ohne Behinderung? ‘ - zu formulieren und damit Wege der ‚Enthinderung‘ aufzuzeigen, muss zunächst genauer geklärt werden, durch welche Prozesse Behinderungen entstehen. Die genannte erkenntnistheoretische Grundlage fokussiert die Relationalität dieser Entstehungsprozesse, die Walthes in folgender Definition zum Ausdruck bringt: „Behinderung ist der nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit“ (2003, 49). Körperliche Schädigungen werden somit als Bedingungen verstanden, die Menschen in Situationen einbringen und die von den anderen im Rahmen behindernder Prozesse als Störung oder Irritation bewertet werden. Ob der Umgang mit diesen Bedingungen positiv verläuft, liegt in der gemeinsamen Verantwortung für das Misslingen oder Gelingen der Interaktions- und Kommunikationsprozesse. Ob also ein Merkmal als Behinderung erfahren wird, bestimmen sowohl die Bewertungsprozesse als auch die Anpassungsleistungen aller Beteiligten in den situativen Umgebungsfaktoren. Beispielsweise ist das Merkmal Dysarthrie, welches eine zentral bedingte Störung der Koordination des Sprachvollzugs bedeutet und sich für den betroffenen Menschen in kaum vorhandener Lautsprache realisiert, an sich noch keine Behinderung! Eine Dysarthrie wird nur dann zu einer Behinderung, wenn sich die beteiligten Gesprächspartner - trotz eines ,perfekten‘ alternativen multimodalen Kommunikationssystems im Bereich der Unterstützten Kommunikation - auf diese Form der Kommunikation nicht einlassen (Anpassungsleistungen) und nur Lautsprache als ,richtig‘ bewerten (Bewertungsprozesse). Das ,Problem‘ der nicht gelingenden Kommunikation haben in diesem Fall alle Beteiligten, wenngleich es sicherlich für den Menschen mit Dysarthrie wesentlich gravierendere Auswirkungen hat. Eine Änderung des ,Problems‘ kann allerdings vorrangig von den so genannten nicht behinderten Menschen aufgrund der variableren Kommunikationsmöglichkeiten vorgenommen werden. In diesem Beispiel schaffen die so genannten ,Nichtbehinderten‘ die Behinderung für den Menschen mit Schädigung. Im Folgenden sollen nun diese Behinderung konstituierenden Faktoren, d. h. erstens implizite bzw. explizite Bewertungsprozesse und zweitens mögliche Anpassungsleistungen, expliziert werden, um somit Rückschlüsse auf Enthinderungspotenziale zu ermöglichen. 3 Konstituenten behindernder Prozesse 3.1 Bewertungsprozesse Bewertungsprozesse können aus der Perspektive der Selbstbeobachtung oder der Fremdbeobachtung vorgenommen werden. Dass die eigenen körperlichen Voraussetzungen von den Menschen mit körperlicher Schädigung durchaus nicht als negativ bewertet werden, zeigen eindrücklich die autobiografischen Publikationen von Fredi Saal: „Da ich ‚so geboren‘ (mit einer körperlichen Schädigung, Anm. B. O.) wurde, wie andere vielleicht mit roten Haaren oder mit blauen Augen geboren wurden, habe ich mich niemals anders gefühlt als andere Leute; als ganz und gar ‚normal‘“(1994, 28). Erfolgt jedoch eine negative Bewertung als störend durch die betreffende Person selbst, werden für sie die eigene körperliche Schädigung bzw. deren Auswirkungen zu einer Behinderung. Neben dieser möglichen Selbstentwertung der eigenen körperlichen Lebensvoraussetzungen entstehen Behinderungen durch die negative Bewertung der körperlichen Schädigung durch die Umwelt. Dies kann sich sowohl in einer realen Begegnung wie auch z.B. durch gesellschaftliche Stigmatisierungsprozesse oder strukturelle Bedingungen konstituieren. Selbstbewertung und Fremdbewertung stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander, wie Saal es aufzeigt: „Doch diese anderen Leute erzählten mir immer wieder, ich sei ,behindert‘, darum nicht normal - und das sei schlimm! Und als sie es mir lange genug erzählt hatten, glaubte ich es ihnen. Schließlich waren sie in der Mehrzahl“ (1994, 28f). Einem Kausalzusammenhang zwischen körperlicher Schädigung und deren negativer Bewertung durch die betroffene Person muss deutlich widersprochen werden, denn sonst wären die Selbstaussagen von Menschen mit körperlicher Schädigung, die sich als nicht behindert erleben, nicht nur nicht zu verstehen, sondern sie würden durch professionelle Arroganz diskreditiert. 3.2 Anpassungsleistungen Anpassungsleistungen sind kontextabhängig, höchst individuell und kommen wiederum auf verschiedenen Ebenen zum Tragen, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen. In der realen Begegnung kann dies beispielsweise die erforderliche Anpassung an die besonderen Kommunikationsmöglichkeiten von Menschen sein, die sich mit Hilfsmitteln der Unterstützten Kommunikation mitteilen. Die Gesprächspartner stellen sich auf die längeren Gesprächspausen ein und unterstützen den Verlauf der Unterhaltung durch Ko-Konstruktionen. Wesentlich höhere Anpassungskompetenzen sind bei Menschen mit komplexen Schädigungen nötig, damit ein gegenseitiges Verstehen realisiert werden kann. So kann z. B. naher Körperkontakt notwendig sein, um Wohlbefinden oder Unwohlsein zu erspüren und ggf. die individuelle Bedeutsamkeit eines Lernangebotes einzuschätzen und weitere Fördermaßnahmen zu planen. Bisherige gesellschaftlich-strukturelle Anpassungsleistungen haben ein differenziertes Sonderschulsystem evoziert, das auf der einen Seite ein hoch spezialisiertes System von differenzierten Bildungs-, Förder- und Entwicklungsmöglichkeiten bietet, auf der anderen Seite aber auch mit Segregationstendenzen und Stigmatisierungsprozessen einhergeht. Integrative Systeme bieten zum jetzigen Zeitpunkt noch keine genügend flexible Alternative. Gesetzliche Grundlagen wie das SGB IX (2001) können weiterhin als normative Anpassungsleistung nur eine unhintergehbare Voraussetzung für die Realisierung von Teilhabe bieten. Deren Umsetzung erfordert jedoch ein Umdenken und eine Veränderung gewohnter Strukturen in der gesamten Rehabilitationslandschaft. Barbara Ortland 96 VHN 2/ 2007 4 Behindernde Prozesse in pädagogischen Vollzügen Nach dieser allgemeinen Darstellung behindernder Prozesse soll nun der Fokus auf die Begegnung zwischen so genannten professionellen Pädagogen und Pädagoginnen und Menschen mit körperlicher Schädigung gelegt werden. Aber selbst diese Reduktion beinhaltet noch viele verschiedene Situationen, in denen sich Bewertungsprozesse und Anpassungsleistungen realisieren und die in der Regel durch Abhängigkeitsverhältnisse determiniert sind. Exemplarisch können hier vorschulische oder schulische Lebens- und Lernfelder, die Begegnungen in der Freizeit, die Begleitung bei der Berufsausbildung oder am Arbeitsplatz oder auch Unterstützung im Alltag z. B. durch Assistenz genannt werden. Diese Beispiele ließen sich noch beliebig fortführen und verdeutlichen die grundsätzliche Schwierigkeit verallgemeinernder Aussagen über behindernde bzw. enthindernde Prozesse. Trotzdem lassen sich meines Erachtens grundlegende Faktoren behindernder Prozesse generieren, da es in der Zielperspektive um die Reduktion von negativen Bewertungsprozessen und um die Erhöhung von quantitativ und qualitativ förderlichen Anpassungsleistungen geht. Diese sind: Biografische/ individuelle Voraussetzungen: Welche Erfahrungen, Einstellungen, Vorurteile bringen beide in die Situation explizit oder implizit mit ein? Welche Rolle spielen erlebte Behinderungen z. B. im Sinne von Übertragungsphänomenen? Welche Ressourcen zur Bewältigung behindernder Erfahrungen können aktiviert werden? Wie vorurteilsfrei und offen können sich beide begegnen? Dialogfähigkeit: Welche Kommunikationswege und Verhaltensmöglichkeiten stehen beiden zum gegenseitigen Verstehen zur Verfügung? Wie variabel können und wollen sie diese an den anderen anpassen? Fremdbeobachtung/ Selbstbeobachtung in der Begegnung: Wie nehmen sie sich selbst wahr? Wie nehmen sie den jeweils anderen wahr? Wie bewusst und wie transparent sind diese Prozesse der Selbst- und Fremdbeobachtung? Wie bewerten sie Eigen- und Fremdbeobachtung? Wie bewerten sie die gegenseitigen Behinderungen? Reflexionsfähigkeit: Welche Möglichkeiten zur Reflexion behindernder Anteile am eigenen Verhalten bestehen oder können entwickelt werden? In welcher Komplexität können diese Prozesse reflektiert werden? Welche personale Unterstützung z. B. in Form von Supervision kann für die Selbstreflexion aktiviert werden? Besteht die Möglichkeit zur gemeinsamen Reflexion? Im Sinne der professionellen Ausübung der pädagogischen Tätigkeit sollten die Pädagoginnen und Pädagogen in den Bereichen der Dialogfähigkeit, der Fremd- und Selbstbeobachtung sowie der Reflexionsfähigkeit über differenzierte Kompetenzen verfügen, die in der Regel ein Kompetenzgefälle zu den Menschen mit körperlicher Schädigung konstituieren. Dies kann zwar nicht verallgemeinert werden, gilt aber sicherlich im Kontakt mit Schülerinnen und Schülern sowie mit Menschen, die über eine zusätzliche kognitive Schädigung verfügen. Das Kompetenzgefälle dient jedoch nicht zur Begründung hierarchischer Machtverhältnisse, sondern bedeutet ein Mehr an Möglichkeiten der Vermeidung oder Minimierung behindernder Prozesse und damit ein Mehr an Verantwortung für enthindernde Prozesse. Damit ist der letzte und wichtigste Faktor angesprochen: Die genannten Kompetenzen sind mit der grundsätzlichen Entscheidung zur Übernahme von Verantwortung verbunden. Grundlegende Voraussetzung ist bei allen Beteiligten die Bereitschaft, die Verantwortung für die behindernden Prozesse im gemeinsamen Umgang miteinander zu erkennen und anzunehmen. Dies wird durch das zugrunde liegende relationale Verständnis von Behinderung „Wie werden aus Menschen mit Behinderung Menschen ohne Behinderung? “ 97 VHN 2/ 2007 impliziert und als Notwendigkeit gesetzt, um Behinderungen zu vermeiden. Pädagogen und Pädagoginnen sollten allerdings diese Verantwortung als Teil ihres professionellen Selbstverständnisses definieren. Menschen mit körperlicher Schädigung kann ein vitales Interesse an der Vermeidung behindernder Erfahrungen unterstellt werden. Entscheidend erscheint mir für Pädagoginnen und Pädagogen die Perspektive, dass sie sich als Mehrfachbehindernde oder als mehrfach behindern Könnende erkennen und somit die Verantwortung für behindernde Prozesse mit übernehmen. Letztlich liegt die Verantwortung aber bei allen, die im System der Behindertenhilfe arbeiten, wenngleich sich diese auf unterschiedlichen Struktur- und Handlungsebenen mit unterschiedlicher Reichweite realisiert. Die Forderung nach Verantwortungsübernahme erfordert allerdings eine wesentlich differenziertere und breiter angelegte ethische Diskussion, die an dieser Stelle nicht geführt werden kann. Die „vierstellige Relation“ von Verantwortung, die Höffe anführt, zeigt auf, dass sich Verantwortung auf eine Zuständigkeit bezieht, „die (1) bei jemandem, (2) für etwas, (3) vor oder gegenüber jemandem und (4) nach Maßgabe von gewissen Beurteilungskriterien liegt“ (1993, 23). Auf die weiterführende Diskussion durch Dederich (2001) für die Arbeit im Rahmen der Behindertenhilfe möchte ich an dieser Stelle nur verweisen. 5 Pädagogische Konsequenzen Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem bisher Dargestellten für das pädagogische Handeln im Rahmen der beruflichen Tätigkeit mit Menschen mit körperlichen Schädigungen? Drei Säulen scheinen in ihrer Realisierung im Prozess der ,Enthinderung‘ für beide Seiten bedeutsam zu sein, um Behinderungserfahrungen zu minimieren. Allerdings sind sie für die Menschen mit körperlicher Schädigung als wünschenswerte Voraussetzungen zu bezeichnen, für die professionellen Pädagogen und Pädagoginnen als unabdingbare Voraussetzungen ihrer beruflichen Tätigkeit zu fordern. Die Ausführungen sind sowohl für schulische als auch für außerschulische Tätigkeiten leitend, sollen aber im Folgenden für den schulischen Rahmen exemplarisch dargelegt werden. Es sind: Die Übernahme von Verantwortung für behindernde Prozesse Dialogfähigkeit Reflexionskompetenz. Aus dem bisher Dargestellten ist abzuleiten, dass es sich zum einen um eine bestimmte berufliche Haltung als einem Teil eines neuen professionellen Selbstverständnisses handelt. Zum anderen muss sich diese Veränderung in bestimmten schulischen und unterrichtlichen Strukturen abbilden lassen. Die erforderlichen Strukturen lassen sich im Sinne von Operationalisierungen für die Ebenen des unterrichtlichen Handelns, der Reflexion der eigenen Tätigkeit als Lehrer oder Lehrerin sowie schulischer Strukturen wie folgt beschreiben: 5.1 Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung Der Unterrichtsalltag sollte so gestaltet sein, dass den Schülerinnen und Schülern feste Zeiten angeboten werden, in denen behindernde und nicht behindernde Erfahrungen reflektiert und kommuniziert werden können. Damit hat Kommunikationsförderung auf allen schülerangemessenen verbalen oder nonverbalen Ebenen inklusive der Förderung durch Hilfsmittel der Unterstützten Kommunikation in einem demgemäß ausgerichteten pädagogischen Handeln einen hohen Stellenwert. Die Förderung der Kommunikationsmöglichkeiten und des gegenseitigen Verstehens ist schließlich die Grundlage für einen Austausch über individuelle Erfahrungen. Um die eigene Verantwortung der Schülerinnen und Schüler für die Veränderung der sie behindernden Prozesse zu stärken, sollte der Barbara Ortland 98 VHN 2/ 2007 Austausch über diese Erfahrungen im Unterricht explizit als Themenangebot realisiert werden. Die vielfältigen diesbezüglichen Möglichkeiten in verschiedenen Unterrichtsfächern sowie die damit verbundenen Veränderungen in der Lehrer- und Schülerrolle sind bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden (vgl. Ortland 2006). Dabei sollte die Reflexion eigener Bewertungsprozesse (Wie positiv oder negativ empfinde ich meine körperliche Schädigung? ) ebenso eine Rolle spielen wie die Reflexion erfahrener Bewertungen durch die Umwelt (Welche positiven oder negativen Erfahrungen mache ich in der Begegnung mit anderen Menschen? ). Der Austausch der Schülerinnen und Schüler untereinander erlangt eine hohe Bedeutung für die gegenseitige Unterstützung, da die adultozentrische und in der Regel nicht behinderte Perspektive der Lehrerinnen und Lehrer für wirkliches Verstehen oft hinderlich ist. Die Vielfältigkeit von Bewertungen und Bewältigungsmöglichkeiten unterschiedlichster oder auch ähnlicher Situationen kann durch den Austausch der Schüler und Schülerinnen untereinander deutlich werden und förderlich wirken. Im Jugendalter können sich vor allem geschlechtshomogene Austauschmöglichkeiten z. B. in Form einer Jungen- oder Mädchen-AG positiv auf die Entwicklung und die Stärkung des Selbstwertgefühls auswirken. Zielperspektive ist die Stärkung der eigenen Ressourcen und Handlungspotenziale, um behindernde Situationen aktiv zu ändern und somit behindernde Erfahrungen zu minimieren. Die Zusammenarbeit mit Selbsthilfevereinigungen, die ähnliche Ziele verfolgen, kann für ältere Schülerinnen und Schüler unterstützend wirken und auch nach Beendigung der Schulzeit hilfreich sein. 5.2 Reflexion der eigenen Tätigkeit Für Lehrerinnen und Lehrer ist es bedeutsam, eine möglichst breit abgesicherte Grundlage zur Reflexion der eigenen Tätigkeit zu haben. Das heißt, dass sie möglichst oft versuchen sollten, unterrichtliche Entscheidungen in dialogischer Absicherung mit den Schülerinnen und Schülern zu treffen und Unterrichtsmethoden anzuwenden, die ein hohes Maß an Selbstbestimmung zulassen (z. B. offenere Methoden). Im Team sollte eigenes Handeln selbstkritisch reflektiert und diskutiert werden. Supervision sollte für alle Kolleginnen und Kollegen ein fest installiertes Schulangebot auf freiwilliger Basis sein. Die Kooperation mit den Eltern kann durch deren Perspektive neue enthindernde Verhaltensmöglichkeiten und Kommunikationswege erkennen lassen und sollte diesbezüglich produktiv genutzt werden. Dies gilt besonders für die Zusammenarbeit mit Eltern von Schülerinnen und Schülern mit komplexen Schädigungen. 5.3 Kollegium der Förderschule In einem Kollegium einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, das sich insgesamt für die Behinderungen seiner Schülerinnen und Schüler mit verantwortlich fühlt, werden sich folgende Strukturen und Inhalte finden lassen, die eine Option für konkrete Enthinderungsprozesse eröffnen: eine Haltung der gegenseitigen Wertschätzung und Offenheit trotz unterschiedlicher Professionen als Grundlage für ein akzeptierendes, kommunikatives und entwicklungsförderliches Schulklima, Zeiten für den gegenseitigen Austausch mit der Vereinbarung von Zielperspektiven und der Festlegung von Verantwortlichkeiten für eine konstante und transparente Schulentwicklung, die Diskussion individueller und gemeinsamer Verantwortung in den konkreten Handlungskontexten der Schule sowie damit verbundenen weiteren Kontexten bis hin zu gesellschaftlichen und ethischen Fragestellungen, „Wie werden aus Menschen mit Behinderung Menschen ohne Behinderung? “ 99 VHN 2/ 2007 eine konzeptionelle, im Schulprogramm verankerte Kooperation mit den Eltern, welche die Ressourcen der Eltern im Sinne des Empowerment zu stärken versucht, um so sensibel die Selbstreflexionsprozesse bei den Eltern zu unterstützen und zu einer Minimierung der Behinderung der eigenen Kinder zu führen, die kritische Reflexion systemimmanenter segregierender behindernder Prozesse mit dem Ziel einer Veränderung der schulischen Angebotsstrukturen in Richtung einer flexiblen inklusiven Schule. Dies bedeutet auch eine engere Zusammenarbeit mit den so genannten Regelschulen, da eine Veränderung des Schulsystems von beiden Seiten unterstützt werden muss. Die bisher dargelegten Implikationen dieses relationalen Verständnisses von Behinderung brauchen neue Akzente in der universitären Lehrerausbildung und ein durch einschlägige Forschung gestütztes Wissen als Handlungsmaxime. Abschließend sollen diesbezügliche Konsequenzen dargelegt werden 6 Konsequenzen für Lehre und Forschung 6. 1 Konsequenzen für die Lehre Die vordringlichste Konsequenz für die universitäre Lehre scheint mir die Vermittlung der dargelegten Perspektive auf das Phänomen Behinderung zu sein, damit die gemeinsame Verantwortung als Voraussetzung für deren Übernahme erkannt wird. Damit ist untrennbar die Förderung kommunikativer und selbstreflexiver Kompetenzen bei den angehenden Pädagoginnen und Pädagogen verbunden. Dies muss gekoppelt sein mit dem Wissen um förderliche Strukturen und innovative Maßnahmen der jeweiligen Systementwicklung, um adäquate Prozesse in den entsprechenden Handlungsfeldern implementieren zu können. Von ebenso großer inhaltlicher Bedeutung sind für angehende Lehrerinnen und Lehrer Kompetenzen einer dialogischen, kompetenzorientierten Didaktik und Methodik, um die Unterrichtsplanung gemäß den vorgestellten Leitideen dialogisch umsetzen zu können. Medizinische Grundlagen, das Wissen über verschiedene Schädigungsbilder sowie mögliche Lernbesonderheiten z. B. aufgrund von Hirnschädigungen sind dafür unabdingbare Voraussetzungen. Die Maßnahmen universitärer Ausbildung, die der Weiterentwicklung der Persönlichkeit dienen, sind im Rahmen hoher Studierendenzahlen sicherlich eine große Herausforderung und erfordern in ihrer Umsetzung kreative Lösungen und die Bereitschaft aller Beteiligten. 6.2 Konsequenzen für die Forschung Als Konsequenz aus dem Dargestellten lässt sich die Minimierung von Behinderung als Ziel von Forschungsaktivitäten für schulische und außerschulische Handlungsfelder benennen. Dazu sind folgende ausgewählte Forschungsschwerpunkte/ -themen auf der Grundlage eines relationalen Verständnisses von Behinderung evident: Biografische Forschung: Eine retrospektive Beschreibung von nicht behindernden Personen- und Umweltfaktoren aus Sicht der Betroffenen, mit dem Ziel einer weitest möglichen Generierung förderlicher Ressourcen; Erfassung subjektiver Theorien der Pädagogen und Pädagoginnen verschiedener Handlungsfelder zum Entstehen von Behinderungen als eine wichtige Voraussetzung für Veränderungsprozesse. Unterrichtsforschung: Erhebung des Ist-Standes von Unterrichtsgestaltung bei Schülerinnen und Schülern mit körperlicher Schädigung; Entwicklung von Veränderungsmaßnahmen mit dem Ziel einer dialogischen, kom- Barbara Ortland 100 VHN 2/ 2007 petenzorientierten Gesamtausrichtung des Unterrichts inklusive bestmöglicher Kommunikationsförderung; Prozessorientierte Begleitung entsprechender Unterrichtsinnovationen. Schulentwicklungsforschung: Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie Lehrer und Lehrerinnen im Fokus gegenseitig unterstützender oder behindernder Prozesse, um langfristig förderliche Strukturen der Kooperation mit Eltern zu entwickeln und deren Implementierung reflektierend zu begleiten; Prozessorientierte Begleitung von Schulentwicklung mit dem Ziel der Implementierung reflexiver und kommunikativer Arbeitsstrukturen. Zum Abschluss des Beitrages möchte ich noch einmal die Ausgangsfrage stellen: „Wie werden aus Menschen mit Behinderung Menschen ohne Behinderung? “ Meine Antwort lautet: Indem jeder seine individuelle Verantwortung für die ihm oder ihr möglichen Enthinderungsprozesse wahrnimmt. Literatur Dederich, M. (2001): Über Integrität, Achtung und Verantwortung. Eine ethische Grundlegung für die Qualitätsdiskussion. In: Behindertenpädagogik 42, 146 - 162 Dederich, M. (2006): Wozu Theorie? In: VHN 75, 99 - 109 Höffe, O. (1993): Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Ortland, B.(2005): Implikationen einer systemischkonstruktivistischen Perspektive für die Arbeit mit Menschen, die wir körperbehindert nennen. In: ZfH 56, 14 - 20 Ortland, B. (Hrsg.) (2006): Die eigene Behinderung im Fokus - theoretische Fundierungen und Wege der inhaltlichen Auseinandersetzung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Saal, F. (1994): Leben kann man nur sich selber. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch (2001): Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) Walthes, R. (2003): Einführung in die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik. München: Reinhardt World Health Organization (2001): ICF International Classification of Functioning and Disability. Beta-2-Draft, Full-Version. Genf PD Dr. Barbara Ortland Universität Dortmund Fakultät Rehabilitationswissenschaften Rehabilitation und Pädagogik bei Körperbehinderung D-44221 Dortmund Tel.: ++49 (0) 2 31/ 7 55 45 66 / ++49 (0) 2 31/ 7 55 45 70 Fax: ++49 (0 )2 31/ 7 55 62 19 E-Mail: barbara.ortland@uni-dortmund.de „Wie werden aus Menschen mit Behinderung Menschen ohne Behinderung? “ 101 VHN 2/ 2007