Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Kennen- und Verstehenlernen unter erschwerten Bedingungen
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2007
Franziska Händenberger-Aebi
Monika H.
Sehr kleine Frühgeborene haben ein hohes Entwicklungsrisiko. Beinahe jedes dritte der vor abgeschlossener 32. Schwangerschaftswoche geborenen Kinder weist eine Behinderung im Sinne einer schwerwiegenden Beeinträchtigung auf (z.B. bis zu 30%gemäß Bucher u.a. 2003, 97; Bradford 2003, 177; Wüsthof/Böning 2005, 79). Sehr kleine Frühgeborene gehören deshalb immer häufiger zur Zielgruppe der Heilpädagogischen Früherziehung.
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159 Sehr kleine Frühgeborene haben ein hohes Entwicklungsrisiko. Beinahe jedes dritte der vor abgeschlossener 32. Schwangerschaftswoche geborenen Kinder weist eine Behinderung im Sinne einer schwerwiegenden Beeinträchtigung auf (z. B. bis zu 30 % gemäß Bucher u.a. 2003, 97; Bradford 2003, 177; Wüsthof/ Böning 2005, 79). Sehr kleine Frühgeborene gehören deshalb immer häufiger zur Zielgruppe der Heilpädagogischen Früherziehung. Der Erstkontakt zwischen Betroffenen und Fachpersonen erfolgt - zumindest in der Schweiz - meistens erst, wenn das ehemals Frühgeborene schon älter ist und Störungen manifest geworden sind. Im Kontext von Entwicklungsrisiken spielen gelungene Mutter-Kind-Interaktionen eine wichtige Rolle und können gerade bei organischer Risikobelastung wie einer Frühgeburt kompensatorisch wirken. Im Rahmen eines praxisorientierten Forschungsprojekts wurde mithilfe von Videoaufnahmen beobachtet, wie eine alleinerziehende Mutter und ihr zu Beginn der 27. Schwangerschaftswoche geborenes Kind unter diesen schwierigen Bedingungen Kontakt aufnehmen und interagieren. Im folgenden Briefwechsel blicken Früherzieherin und Mutter auf die ersten gemeinsamen Monate zurück. Burgdorf, 16. Juli 2006 Liebe Monika, danke für deine Bereitschaft, uns für einmal nicht im persönlichen Gespräch, sondern in Form eines Briefwechsels auszutauschen. Heute vor eineinhalb Jahren - auf den Tag genau! - wurde Lea geboren; sie wog damals ganze 590 Gramm! Während deiner Schwangerschaft hatte sie sich schlecht entwickelt und drohte am 16. Januar 2005 zu sterben. Notfallmäßig musste zu Beginn der 27. Woche ein Kaiserschnitt durchgeführt werden. Dein Arzt, Herr Stadlmayr, machte uns zwei Tage nach der Operation miteinander bekannt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich dir in der Cafeteria der Frauenklinik Bern meine Motivation zu meinem Forschungsprojekt schilderte und dich und deine Tochter dann von Leas zweiter Lebenswoche an begleiten durfte. Schon länger hatte ich mich darüber aufgehalten, dass der erste Kontakt der Heilpädagogischen Früherzieherin mit frühgeborenen Kindern bzw. ihren Bezugspersonen meist erst erfolgt, nachdem Entwicklungsauffälligkeiten manifest geworden sind - dies, obschon das hohe Entwicklungsrisiko und die häufigen Entwicklungsstörungen bekannt sind. In der Fachliteratur wird zudem die Bedeutung der Mutter-Kind-Interaktion für die langfristige Entwicklung von Kindern betont, die Interaktion zwischen Müttern und ihren frühgeborenen Kindern aber auch als „häufig auffällig“ beurteilt. Diesen Themen wollte ich nachgehen und hatte im Rahmen meiner Lizenziatsarbeit versucht, mit einer „frühgeborenen Mutter“ und ihrem Kind möglichst rasch nach dessen Geburt in Kontakt zu kommen. Videoaufnahmen sollten zum Verstehen beitragen, wie (auch) unter erschwerten Bedingungen Kontakt aufgenommen und Beziehungen aufgebaut werden. Dialog Kennen- und Verstehenlernen unter erschwerten Bedingungen Franziska Hänsenberger-Aebi Monika H. Burgdorf alleinerziehende Mutter einer in der 27. Schwangerschaftswoche geborenen Tochter VHN, 76. Jg., S. 159 -163 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Franziska Hänsenberger-Aebi, Monika H. 160 VHN 2/ 2007 Unser Projekt - du hast dich über einen Zeitraum von vier Monaten wöchentlichen Videoaufnahmen ausgesetzt! - ist mittlerweile ausgewertet und abgeschlossen. Auf die Ergebnisse will ich an dieser Stelle nicht nochmals eingehen - du weißt, dass dein Interaktionsverhalten sehr entwicklungsorientiert ist und dass die Art und Weise, wie du mit Lea umgehst, wohl ein wesentlicher Grund dafür ist, dass es ihr heute so gut geht. Es freut mich, dass wir nach wie vor Kontakt haben und dass ich Lea auch weiterhin sehe - aus unserer ursprünglich professionellen ist eine freundschaftliche, durch die gemeinsame Geschichte auch sehr vertrauensvolle Beziehung geworden. Dies, aber auch deine Bemerkung, dass du viele Gefühle erst jetzt zulassen und dich mit ihnen auseinandersetzen könnest, und nicht zuletzt auch meine eigenen Gedanken zu unserem Projekt sind der Grund, dass ich nochmals auf Vergangenes zu sprechen komme. Wir Früherzieherinnen wissen ja oft kaum etwas über die Vorgeschichte der von uns betreuten Kinder und Eltern, weil unsere Arbeit mit ihnen - siehe oben! - erst spät beginnt. Mehr darüber zu wissen, dürfte deshalb eine Bereicherung für die praktische Arbeit darstellen. Mutest du es dir zu, nochmals zurückzuschauen und darüber zu berichten? Solltest du befürchten, dass das Schildern dieser schwierigen Zeit zu schmerzhafte Erinnerungen bei dir weckt, so verstehe und respektiere ich dies natürlich. Ich warte deshalb gespannt auf deine Antwort. Dir und Lea herzliche Grüße! Franziska 21. September 2006 Liebe Franziska Es hat gedauert, bis ich dir antworten konnte. Ich habe gemerkt, dass ich die Auswirkungen, welche das Aufschreiben der Ereignisse auf mich haben wird, unterschätzte! Heute aber hat Lea ihre ersten selbstständigen Schritte gemacht. Dieses großartige Ereignis hat mich so sehr gerührt und aufgewühlt, dass ich am Abend nur noch weinte. Es brachen viele Ängste und Sorgen der ersten Lebenswochen von Lea aus mir heraus. Mir wurde bewusst, wie präsent diese Gefühle immer noch sind. Gleichzeitig gab es mir aber auch den Anstoß, dir, liebe Franziska, endlich zu schreiben. Die sehr frühe Geburt meines Kindes war aus medizinischen Gründen voraussehbar und doch ein großer Schock für mich. Als ich den Vater meines Kindes telefonisch informierte, meinte er bloß, ob er denn auch kommen solle zur Geburt. Da war mir klar: Mein Kind und ich müssen diese schwierige Situation alleine meistern. Im Kreißsaal wurde ich sehr gut betreut und begleitet. Ich konnte es kaum glauben: Mein Mädchen gab zwei leise Piepser von sich - dabei musste ich doch damit rechnen, die Ärzte würden mir ein totes Kind in den Arm legen. Lea wurde sofort zur weiteren Versorgung weggebracht. Mir wurde ein Foto von ihr in die Hand gedrückt. Noch nie in meinem Leben musste ich grössere Anspannung und Angst ausstehen. Als ich mein Kind zum ersten Mal sah, war ich wie gelähmt. Lea lag in der Isolette wie ein nackter, hilfloser Vogel, der aus seinem Nest gefallen war. Ich fühlte nur Mitleid mit diesem winzigen Geschöpf, das noch nicht bereit war für diese Welt. In den folgenden zwei Tagen besuchte ich Lea nur ganz kurz, zu schmerzhaft war ihr Anblick für mich. Jeder Atemzug war Schwerstarbeit für sie. Ihr ganzer Körper zog sich zusammen und streckte sich wieder, gleichzeitig zuckten ihre Arme und Beine unkontrolliert. Es war schrecklich, und ich konnte nichts für Lea tun. Am dritten Tag besuchte mich eine Ärztin der Neonatologie und fragte, warum ich Lea nicht häufiger besuche, sie brauche jetzt die Zuwendung der Mutter! Lea beanspruchte damals nur wenig medizinische Hilfe, deshalb durfte ich sie noch am selben Tag zum Känguruhen VHN 2/ 2007 161 Kennen- und Verstehenlernen unter erschwerten Bedingungen auf den Bauch nehmen. Es war mein erster Körperkontakt mit Lea, ich war überglücklich. Das Eis war gebrochen, und ich wollte mit Lea zusammen kämpfen. Nach und nach habe ich Hoffnung zugelassen. Leas Pflege wurde ausschließlich vom Pflegepersonal übernommen, worüber ich sehr froh war. Ich traute mich ja kaum, das winzige Kind anzufassen. Sorgen hat mir ein Blutgerinnsel bereitet, welches in Leas dritter Lebenswoche auftrat. Zudem war einer ihrer Lungenflügel zusammengefallen. Die Informationen durch Ärzte und Pflegende waren ehrlich - sie machten mir keine falschen Hoffnungen. Die Angst vor möglichen Spätfolgen ließ mich oft nicht schlafen. Der Tag meiner Entlassung fiel mir unsäglich schwer - so weit weg zu sein von Lea und dann noch zurückzufinden in den Alltag … Um mich abzulenken, begann ich wieder zu arbeiten. Ich besuchte Lea jeweils am späten Nachmittag. Hundert Tage wurde Lea liebevoll auf der Neonatologie betreut. Mein Mädchen entwickelte sich prächtig. Trotzdem habe ich erst eine Woche vor Leas Entlassung Babysachen gekauft, Bettchen und Wickeltisch eingerichtet. Ich wollte dieses große Glück nicht strapazieren. Diese hundert Tage waren emotional schwer beladen. Die ständige Angst um Leas Gesundheit sowie die vielen Fragen - kann ich „alte“ Mutter Lea genug bieten, wo wird Leas Zuhause sein, die finanzielle Abhängigkeit vom Kindsvater, große Existenzangst usw. - setzten mir zu. Ohne euer großes Engagement, die psychische Unterstützung sowie die Möglichkeit zu vielen Gesprächen mit dir, Franziska, und mit Herrn Dr. Stadlmayr hätte ich kaum den Mut aufgebracht, mich für mein Bauchgefühl zu entscheiden. Ihr habt mich in meinen Entscheidungen bestärkt und mir Rückhalt gegeben. Lea und ich haben euch beiden viel zu verdanken. Dann war er da, der lang ersehnte Tag, an dem ich Lea nach Hause holen durfte. Das Team der Neonatologie gab mir viele wertvolle Tipps und die Zusicherung, dass ich mich jederzeit an sie wenden dürfe. Meine größte Sorge war, Lea könnte aufhören zu atmen und ich würde nichts bemerken. Sie hat mir den Einstieg zu Hause aber leicht gemacht. Ich spürte gleich, dass sie sich von Anfang an geborgen fühlte. Lea hat immer deutlich gezeigt, was sie will. Dies gab mir Sicherheit, das Richtige zu tun. Einzig ihre starken Bauchkrämpfe beunruhigten mich, da habe ich einmal im Spital nachgefragt. Sonst lief alles gut. Ich hatte nie Angst, alles klappte wunderbar, auch die Weiterbetreuung durch den Kinderarzt. Mit der Routine wachsen auch die Sicherheit und eine gewisse Gelassenheit. Ich vertraue meinem Kind. Das sind meine ersten aufgeschriebenen Gedanken zu dieser frühen Zeit! Ich sende sie dir - mit herzlichen Grüßen! Monika mit Lea 7. Oktober 2006 Liebe Monika … Du sprichst vieles, was ich aus dem Studium als Theorie kenne, nun von der praktischen Seite her an, und es ist wertvoll, die beiden Betrachtungsweisen verknüpfen zu können. Da sind zunächst einmal Bemerkungen zu möglichen Gründen für Frühgeburten: Lea als Mangelgeburt, du als „ältere“ Mutter, deine familiären und finanziellen Sorgen, die Beziehungssituation der künftigen Eltern. Weiter sind es deine Bemerkungen zum Ereignis der frühen Geburt an sich: Obschon voraussehbar, war die Geburt dennoch ein großer Schock. Die Frage, ob Lea überhaupt lebend zur Welt kommen würde, die sofortige Trennung resp. der „Ersatz“ des Kontakts durch eine Fotografie und nicht zuletzt die große Angst, welche du durchzustehen hattest. Es sind aber auch deine Bemerkungen zur Erstbegegnung an der Isolette: Gelähmt zu sein, Franziska Hänsenberger-Aebi, Monika H. VHN 2/ 2007 162 schockiert ob des Anblickes - dieser „nackte, hilflose Vogel“ soll das erwartete Kind sein? Gefühle des Mitleids, aber auch die Schwierigkeit, sich diesem Anblick täglich auszusetzen, und nicht zuletzt dein Gefühl, nichts für Lea tun zu können … Deine treffenden Bemerkungen zum erschwerten Beziehungsaufbau zwischen Frühgeborenen und ihren Bezugspersonen sind ebenfalls typisch: Nur ganz kurze Besuche bei Lea ertragen zu können, begleitet von der Angst, sie sterbe noch weg, das Gefühl, als Mutter zu versagen - du schreibst über die Aufforderung einer Ärztin, Lea häufiger zu besuchen -, aber auch die Möglichkeit, beim Känguruhen Kontakt aufzubauen und sich nach und nach zu erlauben, Hoffnung zuzulassen. Du erwähnst die immerwährende Angst vor Komplikationen: Auch drei Wochen nach der Geburt können sie in lebensbedrohendem Maß auftreten, dann die unsichere Prognose von sehr kleinen Frühgeborenen - die Geburt hat Lea zwar überlebt, aber wie steht es um ihre langfristige Entwicklung? Schlaflose Nächte … Die ehrlichen Informationen durch Ärzte und Pflegende über Leas Gesundheitszustand, Leas kompetente Betreuung während ihres Aufenthaltes auf der Neonatologie, die Entlastung von dir, weil Leas Pflege - „Ich traute mich ja kaum, das winzige Kind anzufassen“ - von den Fachpersonen übernommen wurde. Bemerkungen zum Zurückfinden der Mutter in den Alltag kommen vor: das Gefühl der Trauer, Lea im Stich zu lassen, selber aber wieder im Alltag Tritt fassen zu wollen, die Strategie der Ablenkung durch die gewohnte Arbeit, die täglichen Besuche auf der Neonatologie - nicht nur emotional, sondern auch organisatorisch, zeitlich und finanziell belastend. Du beschreibst aber auch Erfreuliches - so über die erste Zeit zu Hause: über Lea, welche den Wechsel ins häusliche Umfeld ausgesprochen gut meistert, klare Signale sendet und dir als Mutter deutlich zeigt, was sie will - eine erfreuliche Abweichung zu vielen Beschreibungen in der Fachliteratur. Der Schluss deines Briefes beeindruckt mich besonders: Du hast Respekt, aber keine Angst vor der Zukunft. Du gewinnst rasch an Sicherheit, eine Gelassenheit stellt sich ein und nicht zuletzt ein großes Vertrauen. Beim Lesen deines Briefes, aber auch bei meiner eigenen Auseinandersetzung mit unserem Projekt kamen mir immer wieder zwei Publikationen in den Sinn. Beide Verfasser (Christoph Leyendecker und Urs Haeberlin) sind Professoren mit engem Bezug zur Heilpädagogik. Leyendecker plädiert für eine Erziehung, welche - gerade auch unter erschwerten Bedingungen! - sehr stark auf dem „Zutrauen in Künftiges“, aber auch auf der „Hoffnung auf Entwicklung“ basiert. Haeberlin stellt fest, dass „Heilpädagogik studieren eben auch heißt, mit offen bleibenden Fragen umgehen zu können“ - und dies gilt für mich auch für die heilpädagogische Arbeit. Auf dieses Fehlen endgültiger Antworten möchte ich nun zum Schluss noch zu sprechen kommen. Es geht mir um die Frage der Begleitung durch Fachpersonen. Selbstverständlich freut mich dein positives Urteil über Herrn Stadlmayrs und meine Begleitung. Es zeigt, dass neben allen medizinischen auch andere Angebote wichtig sind - ein Aspekt, auf den auch Neonatologen vermehrt hinweisen. Offensichtlich besteht Bedarf an nicht direkt involvierten Personen, welche begleiten und - gerade in Zeiten der Unsicherheit - einfach „da sind“. Ganz unabhängig davon, dass die Finanzierung eines solchen Angebots nicht gelöst ist, beginne ich mich aber mehr und mehr zu fragen, ob diese Begleitung zu den Aufgaben der Heilpädagogik gehört. Du selbst konntest ja bereits auf die sehr gute Unterstützung durch deine Eltern und deine Freundin zählen. Nicht alle Betroffenen können aber auf ihr eigenes soziales Umfeld zurückgreifen. Dies führt mich dazu, dich nun auch noch zu fragen, was genau für dich die Qualität der fachlichen Begleitung ausmachte. Gibt es Bereiche, in welchen heilpädagogische Fachpersonen mehr (oder andere) Unterstützung leisten können als Kennen- und Verstehenlernen unter erschwerten Bedingungen VHN 2/ 2007 163 Verwandte und Freunde? Eine Antwort ist wohl nicht einfach zu finden, trotzdem bitte ich dich, deine Gedanken über dieses Thema auch noch zu äußern, und bedanke mich bereits jetzt für deine Antwort. Dir und Lea wünsche ich eine gute Zeit und freue mich bereits auf unseren nächsten Kontakt! Herzlich Franziska 2. November 2006 Liebe Franziska Du fragst, wie sich die fachliche und die familiäre Begleitung unterscheiden. Da muss ich etwas ausholen … Die unerwartete Schwangerschaft stürzte mich in eine riesige Lebenskrise und belastete mich emotionell schwer. Meine Sorgen wurden noch größer, als sich abzeichnete, dass ich mein Kind nicht würde austragen können. Die Unterstützung durch meine Freundin und meine Eltern war und ist sehr groß. Trotzdem: Wir saßen alle im selben Boot und waren uns gegenseitig oft keine Hilfe. Meine Mutter und ich haben ein sehr inniges Verhältnis und verstehen uns oft ohne Worte. Sie hat in dieser Zeit am meisten gelitten. Die Sorge um Lea und mich konnte ich in ihren Augen lesen. Bei meiner Mutter wollte ich deshalb besonders optimistisch und positiv gestimmt auftreten. Das brauchte sehr viel von meiner Kraft. Durch das Projekt konnte ich zusätzlich auch Gespräche mit „außenstehenden“ Fachpersonen führen und für mich schauen. Diese Möglichkeit war ein großes Glück für mich. Ich habe mich oft geschämt, mit meinen vierzig Jahren so viele offene Fragen zu haben und mich vor der Zukunft zu fürchten. Ich fühlte sehr früh, dass Leas Vater nicht hinter mir steht und mich nicht liebt. Mein Wunsch, Lea ein harmonisches Zuhause zu bieten mit einer Mutter und einem Vater war für mich nicht möglich - zu sehr hat er mich mit seiner Gleichgültigkeit verletzt. Nebst der Angst um Lea kämpfte ich deshalb auch mit bzw. gegen mein Gewissen. In meinem Kopf drehten sich alle Gedanken nur um das Thema Familie und was Lea und ihr Vater alles verpassten, wenn ich mich nicht für „eine normale Familie“ entscheiden würde. Jedes Gespräch mit dir und Dr. Stadlmayr bot mir die Gelegenheit, meine Sorgen und Ängste bei neutralen Personen zu deponieren. Ich konnte schweren Ballast abwerfen, ohne dadurch meinen Familien- oder Freundeskreis zu belasten. Ich hatte Zeit, eine Entscheidung reifen zu lassen. Die langen und häufigen Gespräche mit euch beiden waren mein Anker und meine Stütze, v. a. aber eine Bestätigung dafür, dass ich mein Bauchgefühl zulassen und mich selbst ernst nehmen darf. Dies war eine enorme Erleichterung für mein oft „schlechtes Gewissen“. Ich durfte auch Schwäche zeigen und konnte mich - von euch begleitet und gestärkt - dem Wichtigsten widmen, dem Gedeihen von Lea. Ich danke euch beiden ganz herzlich für eure große Unterstützung und grüße euch sehr herzlich! Monika mit Lea Literatur Bradford, N. (Hrsg.) (2003): Your premature baby. The first five years. Toronto/ Buffalo: Firefly Books Bucher, H. U. u. a. (2003): Two years outcome of very pre-term and very low birthweight infants in Switzerland. In: Swiss Medical Weekly 133, 93 - 99 Wüsthof, A.; Böning, V. (Hrsg.) (2005): Früh geboren. Leben zwischen Hoffnung und Technik. München: Elsevier/ Urban&Fischer Lic. phil. Franziska Hänsenberger-Aebi Dipl. Logopädin; Dipl. Früherzieherin Alpenstraße 53 CH-3400 Burgdorf E-Mail: franziska.haensenberger@dkf.unibe.ch
