eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 76/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Entwicklungsförderliche Beziehungen verstehen und gestalten lernen - Ein hochschuldidaktisches Modell zum Erwerb heilpädagogischer Kernkompetenzen

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2007
Michael Wininger
Das Verstehen von Beziehungen stellt einen der zentralen Aspekte von Pädagogik schlechthin dar. Aus heilpädagogischer Perspektive ist ein differenziertes Verständnis von Beziehungsprozessen jedoch mit besonderen Anforderungen verbunden. Im Hinblick auf die Professionalisierung heilpädagogischen Handelns muss dem Verstehen von Beziehungen in Lehre und Forschung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Vor diesem Hintergrund ist an der Universität Wien ein hochschuldidaktisches Modell ins Leben gerufen worden, das den Defiziten herkömmlicher Lehrveranstaltungskonzepte ein Stückweit entgegenwirken soll. In Kooperation mit einer renommierten Psychotherapieeinrichtung für Kinder und Jugendliche wurde ein Projekt etabliert, in dem Studierende längerfristige pädagogische Verantwortung für sogenannte „verhaltensauffällige Kinder“ übernehmen können. In flankierenden Theorieseminaren und Gruppen-Supervisionen werden bei den Studierenden verschiedene Lernprozesse angeregt, die sich wiederum förderlich auf die Beziehungen zu den betreuten Kindern auswirken sollen. Eine knappe Darstellung des Projekts soll die Gelegenheit eröffnen, unter dem Aspekt heilpädagogischer Professionalisierung einige Fragen aufzuwerfen.
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212 212 212 1 Problemaufriss - Heilpädagogische Professionalität? In den letzten Jahren hat die Professionalisierungsdebatte auch im Bereich der Erziehungswissenschaft verstärkt Einzug gehalten. Unter anderem schlug sich dies in einer Vielzahl von Publikationen nieder, in denen sich Autorinnen und Autoren explizit mit Aspekten pädagogischer Professionalität befassen 1 . Obwohl die aktuelle Professionalisierungsdebatte über weite Strecken innerhalb der Allgemeinen Pädagogik angesiedelt ist, werden Professionalisierungsfragen auch im Rahmen von VHN, 76. Jg., S. 212 -227 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Entwicklungsförderliche Beziehungen verstehen und gestalten lernen - Ein hochschuldidaktisches Modell zum Erwerb heilpädagogischer Kernkompetenzen Michael Wininger Universität Wien Zusammenfassung: Das Verstehen von Beziehungen stellt einen der zentralen Aspekte von Pädagogik schlechthin dar. Aus heilpädagogischer Perspektive ist ein differenziertes Verständnis von Beziehungsprozessen jedoch mit besonderen Anforderungen verbunden. Im Hinblick auf die Professionalisierung heilpädagogischen Handelns muss dem Verstehen von Beziehungen in Lehre und Forschung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Vor diesem Hintergrund ist an der Universität Wien ein hochschuldidaktisches Modell ins Leben gerufen worden, das den Defiziten herkömmlicher Lehrveranstaltungskonzepte ein Stück weit entgegenwirken soll. In Kooperation mit einer renommierten Psychotherapieeinrichtung für Kinder und Jugendliche wurde ein Projekt etabliert, in dem Studierende längerfristige pädagogische Verantwortung für sogenannte „verhaltensauffällige Kinder“ übernehmen können. In flankierenden Theorieseminaren und Gruppen-Supervisionen werden bei den Studierenden verschiedene Lernprozesse angeregt, die sich wiederum förderlich auf die Beziehungen zu den betreuten Kindern auswirken sollen. Eine knappe Darstellung des Projekts soll die Gelegenheit eröffnen, unter dem Aspekt heilpädagogischer Professionalisierung einige Fragen aufzuwerfen. Schlüsselbegriffe: Heilpädagogische Professionalisierung, Hochschuldidaktik, Therapeutischer Begleiter Learning to Understand and Organise Developmentally Beneficial Relationships - A Didactical Model for Acquiring Special Educational Competencies at University Level Summary: To understand relational processes is one of the basic prerequisites of education in general. For professionals in special and therapeutic education this knowledge is even more important. In view of the professionalism of special educational action the comprehension of relationships asks for particular attention in teachings and research. Against this background the Department of Educational Sciences of the Vienna University has created a didactical model to supplement the conventional course concepts. In co-operation with a well-known child guidance clinic a project has been established, which allows the students to take over a long-term pedagogical responsibility for so-called „children with behaviour disorders“. Concomitant tutorials and supervision groups provide the opportunity to reflect the various learning processes, which should have beneficial effects on the students' relationships with “their” children. In his short account of the project, the author raises a few questions concerning professionalism in special education. Keywords: Special educational professionalism, academic didactics, therapeutic tutor Fachbeitrag einzelnen pädagogischen Teilbereichen behandelt. Demgemäß sind in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten erschienen, die sich aus schulpädagogischer, erwachsenenbildnerischer oder sozialpädagogischer Perspektive mit Fragen der Professionalität beschäftigen 2 . Bemerkenswerterweise sind Beiträge zur heilpädagogischen Professionalisierung hingegen lange Zeit ausgeblieben. Noch vor wenigen Jahren kam Lindmeier (2000, 166) nach einer Sichtung von einschlägigen Übersichtsartikeln und Sammelwerken zu der Einschätzung, dass heilpädagogische Professionalität in der aktuellen Literatur weit gehend vernachlässigt werde. Erst in der jüngsten Vergangenheit scheint sich diesbezüglich eine langsame Veränderung abzuzeichnen: Beispielsweise haben Horster, Hoyningen-Süess und Liesen (2005) einen Sammelband veröffentlicht, der sich mit der Entwicklung der Sonderpädagogik als Disziplin und Profession beschäftigt. Ebenso tangiert Dlugosch (2003) explizit Aspekte heilpädagogischer Professionalität, indem sie universitäre Bildungsprozesse im Kontext von Erziehungshilfe diskutiert. Aber ist die Spezifität heilpädagogischer Professionalität überhaupt legitimierbar? Bedarf es denn eines heilpädagogischen Diskurses über Professionalisierungsfragen? Schließlich verlangen Vertreter der Integrationspädagogik doch seit Jahren unablässig eine inhaltliche Annäherung von Allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik. Nicht zuletzt wird dabei häufig Paul Moors Satz ins Treffen geführt, dass „Heilpädagogik Pädagogik und nichts anderes“ sei (1974, 273). Beispielsweise fordert Eberwein (1998, 50) die Sonderpädagogik auf, ihren „pädagogisch nicht begründbaren Anspruch auf Eigenständigkeit… aufzugeben und sich für die Reintegration in die Allgemeine Erziehungswissenschaft zu öffnen“. Was beinhaltet also die Rede von der „heilpädagogischen Professionalität“? Reicht es im Gefolge von Moor und der Integrationspädagogik nicht aus, wenn man die Professionalisierungsdebatte weiterhin in der Allgemeinen Pädagogik forciert? Mit Lindmeier (2000) muss man einer solchen Lesart jedoch nachdrücklich widersprechen. Zwar ist die Professionalisierung heilpädagogischen Handelns „immer in erster Linie eine Professionalisierung pädagogischen Handelns“, dennoch droht ein verkürztes Verständnis der Moor’schen Programmatik den Blick auf die Spezifität heilpädagogischer Professionalität zu verstellen (Wittrock 1982; zit. n. Lindmeier 2000, 168). Worin diese begründet liegt, wird vor dem Hintergrund der strukturtheoretischen Professionalisierungstheorie deutlich. Professionskonzepte strukturtheoretischer Orientierung versuchen herauszuarbeiten, welche Handlungsprobleme von einer Profession typischerweise zu lösen sind und welche handlungslogischen Notwendigkeiten sich daraus ergeben (vgl. Oevermann 1996). Aus strukturtheoretischer Perspektive misst sich Professionalität demnach am Grad der Ausbildung spezifisch erforderlicher Reflexions-, Handlungs- und Problemlösungskompetenz. Insofern gilt es zu fragen, durch welche spezifischen Ansprüche heilpädagogisches Nachdenken und Handeln charakterisiert sind. Unter Berufung auf theoriegeschichtliche Hintergründe nimmt Lindmeier Bezug auf den heute vielfach kritisierten, aber dennoch in der Praxis weitgehend etablierten Abgrenzungsversuch, der zwischen der Allgemeinen Pädagogik als „Normalpädagogik“ und der Heilpädagogik als „Spezialbzw. Sonderpädagogik“ unterscheidet. Folgt man dieser Auffassung, so beginnt der Zuständigkeitsbereich der Heilpädagogik dort, wo Kinder und Jugendliche in pädagogischen Normsituationen nicht mehr führbar oder bildbar sind (Lindmeier 2000, 171). Ziel eines solchen Ansatzes kann es nicht sein, die Adressaten heilpädagogischer Bemühungen zu pathologisieren. Vielmehr ist der Focus auf die pädagogischen Normbedingungen zu legen, die sich unter bestimmten Voraussetzungen als unzulänglich erweisen. Nicht das Kind oder der Jugendliche fällt aus der pädagogischen Norm; sondern die „Normpädagogik“ scheitert an Entwicklungsförderliche Beziehungen verstehen und gestalten lernen 213 VHN 3/ 2007 individuell erhöhten Anforderungen und Erziehungsbedürfnissen. Folgt man diesem Verständnis von Heilpädagogik, so liegt die spezifische heilpädagogische Kompetenz in der Auseinandersetzung mit dem Aspekt des Misslingens und Scheiterns von Erziehung unter sog. „Normbedingungen“ (ebd., 171). Sonderpädagogische Kompetenz läge demnach insbesondere in der Erforschung und Etablierung von pädagogischen Voraussetzungen, die individuell erhöhten Anspruchslagen gerecht werden. Ein solcher Ansatz soll und kann die Allgemeine Pädagogik aber nicht der Verantwortung entheben, den Aspekt des Scheiterns zu thematisieren und diesen zum Anlass und Ausgangspunkt zu nehmen, pädagogische Normvorstellungen zu reflektieren und gegebenenfalls zu überdenken. Dennoch wird das Vorhandensein einer eigenständigen Heilpädagogik auch heute noch als Rechtfertigung verwendet, um sog. „Erziehungsschwierige“ aus „norm-pädagogischen“ Einrichtungen zu entfernen und quasi nach außen in den Zuständigkeitsbereich der Heilpädagogik zu delegieren. Diese wenig förderliche Tendenz scheint gleichzeitig von der Heilpädagogik gestützt, die ihr Tätigkeitsfeld durch die etablierte Aufgabenteilung gesichert sieht. Dabei gerät aus dem Blick, dass das potenzielle Scheitern von Erziehung ein originär pädagogisches Problem darstellt, das in erziehungswissenschaftlichen Zusammenhängen immer mitgedacht werden muss. Im Austausch mit der Heilpädagogik - als Expertin für den Aspekt des Misslingens von Erziehung unter Normalbedingung - liegt für die Allgemeine Pädagogik damit ein Potenzial, um den eigenen Professionalisierungsprozess voranzutreiben (vgl. Lindmeier 2000, 177). Unter dem Aspekt des Scheiterns von Erziehung stehen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen vor hohen Anforderungen. Sie sind durchwegs mit Menschen konfrontiert, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden und infolgedessen „Gefahr laufen, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung in gewichtiger Weise behindert zu werden“ (Datler 2000, 71). Der zu erziehende Mensch und sein soziales Umfeld stehen im heilpädagogischen Kontext zumeist unter erheblichem Leidensdruck. Insofern haben Heilpädagog/ innen vielfach mit Beziehungsgeflechten zu tun, die in „besonders intensiver Weise mit beunruhigend-bedrohlichen Gefühlen konfrontiert“ sind; und die sie - unter psychodynamischem Gesichtspunkt - abzuwehren versuchen (ebd.). In der Auseinandersetzung mit den psychischen Inhalten ihrer Klientel werden über weite Strecken auch auf seiten der Heilpädagoginnen und Heilpädagogen heftige Gefühle und Gedanken geweckt, die wiederum der innerpsychischen Abwehr anheimzufallen drohen. Um blindem Agieren möglichst entgegenwirken zu können, müssen Heilpädagog/ innen daher besondere Kompetenzen im Verstehen von Beziehungsprozessen entwickeln. Dabei wird mit Datler (2000, 59) die Auffassung geteilt, dass „das Verstehen von Beziehungsprozessen einen der zentralen Aspekte von Pädagogik schlechthin abgibt“. Aus heilpädagogischer Perspektive ist ein vertieftes Verständnis von Beziehungsdynamiken jedoch mit besonderen Anforderungen und Möglichkeiten verbunden (ebd.). Im Hinblick auf heilpädagogische Professionalisierung muss dem Verstehen von Beziehungsprozessen in der Lehre und Forschung somit besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Insbesondere gilt es, Lehrveranstaltungskonzepte zu entwickeln, die angehende Heilpädagog/ innen in der Entfaltung dieser Kernkompetenz unterstützen. Erfahrungsgemäß reicht die bloße Vermittlung von Theorie dazu nicht aus. Vielmehr sind Lehrveranstaltungsmodelle erforderlich, die der wechselseitigen Verwiesenheit von Theorie und Praxis gerecht werden. Studentinnen und Studenten müssen demnach erfahrungsgestützt in theoretische Zusammenhänge eingeführt und in der theoretischen Durchdringung (eigener) pädagogischer Praxis angeleitet werden (vgl. Datler/ Garnitschnig/ Schmidl 1987). Hierfür ist es aber unabdingbar, dass Universitäten und Hochschulen ihren Studierenden wissenschaftsgestützte Zugänge zu pädagogischer Praxis eröffnen. Michael Wininger 214 VHN 3/ 2007 Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren im Bereich der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft einige Kooperations- Projekte 3 entstanden, die Studierenden in begleiteter Weise Zugang zu pädagogischem Handeln ermöglichen. Auch am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien ist auf Initiative von Helga Schaukal-Kappus im Herbst 2002 ein derartiges Projekt ins Leben gerufen worden. Dieses hochschuldidaktische Modell hat sich in vielerlei Hinsicht bewährt und steht nun unmittelbar vor seinem dritten, leicht modifizierten Durchlauf. Dies soll in einem ersten Schritt zum Anlass genommen werden, um das Projekt in seinen Grundzügen vorzustellen. Im Anschluss daran wird der Autor der Frage nachgehen, inwiefern das Dargestellte Anstoß geben kann, um Konzepte heilpädagogischen Handelns zu differenzieren; und in welcher Weise damit zum Prozess der heilpädagogischen Professionalisierung beigetragen werden kann. 2 Ausgangslage und Kooperationspartner des Projekts Das Projekt „Therapeutischer Begleiter“ ist als Kooperationsprojekt zwischen den Wiener Instituten für Erziehungshilfe 4 (Child Guidance Clinics) und der Forschungseinheit „Psychoanalytische Pädagogik“ der Arbeitsgruppe „Sonder- und Heilpädagogik“ des Instituts für Bildungswissenschaft der Universität Wien entstanden 5 . Die Institute für Erziehungshilfe bilden seit Jahrzehnten einen renommierten Bestandteil des psychosozialen Versorgungsnetzwerkes der Stadt Wien. An fünf Standorten bieten sie tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie, psychologische Diagnostik und psychosoziale Beratung für Kinder und Jugendliche. Deren Eltern bzw. Erziehungsberechtigte werden darüber hinaus in regelmäßigen Kontakten beraten und betreut. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Institute sind ausgebildete Psychotherapeut/ innen und kommen aus unterschiedlichen Quellenberufen (Sozialarbeiter/ innen, Psycholog/ innen und Ärzt/ innen). In ihrer Tätigkeit sind sie immer wieder mit einem spezifischen Problem konfrontiert, das im gegenständlichen Projekt aufgegriffen und ein Stück weit entschärft werden sollte. So sind aus Sicht der Institute für Erziehungshilfe die Möglichkeiten sonderpädagogischer Beschulung und psychotherapeutischer Behandlung oftmals zu gering, um die zentralen Entwicklungsinteressen von Kindern und Jugendlichen aus problematischen Familien ausreichend abzudecken. Erfahrungsgemäß sind diese Kinder und Jugendlichen außerhalb der Unterrichts- und Therapiezeiten weitgehend auf sich alleine gestellt. Insbesondere mangelt es ihnen an Erwachsenen, die sie in der Auseinandersetzung mit Alltagsanforderungen ichstärkend und moderierend begleiten. Gerade für diese Kinder wäre kontinuierliches psychotherapeutisches Angebot von großer Wichtigkeit. Umso problematischer ist es, dass gerade ihre Therapieplätze nach der Zusage seitens der Institute für Erziehungshilfe zuweilen ungenutzt bleiben, weil die Eltern oder Erziehungsberechtigten infolge eigener Auffälligkeiten oft sogar außerstande sind, sie zu den vereinbarten Terminen zu bringen. Für die Institute für Erziehungshilfe besteht infolgedessen Bedarf an engagierten Personen, die diese Kinder im Alltag so lange fördern, bis sie selbst in der Lage sind, tragfähige Arbeitsbündnisse einzugehen. Da das Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien aus den eingangs erwähnten Gründen darum bemüht ist, seinen Studierenden wissenschaftsgestützte Zugänge zu pädagogischer Praxis zu ermöglichen, schien eine diesbezügliche Zusammenarbeit sinnvoll. Als interessierte Ansprechpartner erwiesen sich vor allem die Mitarbeitenden der Forschungseinheit „Psychoanalytische Pädagogik“, die zum Teil jahrelange Arbeitskontakte zu Vertreter/ innen der Institute für Erziehungshilfe pflegen. Sie stehen regelmäßig vor der Aufgabe, Studierende in tiefenpsychologische bzw. psycho- Entwicklungsförderliche Beziehungen verstehen und gestalten lernen 215 VHN 3/ 2007 analytisch-pädagogische Konzepte einzuführen und sie im differenzierten Verstehen von Beziehungsprozessen anzuleiten. Da die Entfaltung psychoanalytisch-pädagogischer Kompetenzen erfahrungsgestütztes Vorgehen voraussetzt (vgl. Datler 1991; Trescher 1990), lag es nahe, ein Projekt zu unterstützen, in dem Studierende in begleiteter Weise Erfahrungen mit entwicklungsgefährdeten Kindern sammeln und theoriegeleitet reflektieren können. 3 Ziele des Projekts In einer halbjährigen Projektvorlaufphase wurden zunächst die Ziele präzisiert, die mit dem gemeinsamen Projektvorhaben angestrebt werden sollten. Dieser Prozess war von dem Leitgedanken getragen, sowohl für sozial benachteiligte Kinder als auch für Studierende ein Lernumfeld zu schaffen, in dem beide Seiten durch wechselseitige Erfahrungen profitieren können. Bezogen auf die zu betreuenden Kinder und die ihnen zugeteilten Studierenden lassen sich die festgelegten Ziele wie folgt zusammenfassen: Das Projekt soll den betreuten Kindern die Möglichkeit bieten, über die Beziehung zu engagierten Erwachsenen Interesse und Wertschätzung zu erleben; durch langfristige Betreuung Verlässlichkeit und Stabilität zu erfahren; Begleitung in der Auseinandersetzung mit Alltagsproblemen zu finden; mittels stützender Zuwendung ermutigt und zur selbstständigen Entscheidungsfindung angeregt zu werden; und nicht zuletzt in unbeschwerten Stunden mit positiv besetzten Bezugspersonen Kraft und Zuversicht für künftige Entwicklungsaufgaben zu gewinnen. Gleichzeitig soll das Projekt den Studierenden die Gelegenheit eröffnen, ein vertieftes Verständnis für heilpädagogische Beziehungsprozesse zu entwickeln; die Fähigkeit zur kindzentrierten Beobachtung zu entfalten und sich für kindliches Erleben, Denken und Wahrnehmen zu sensibilisieren; Methoden der wissenschaftlichen Praxisdokumentation zu erproben; zu lernen, eigene pädagogische Praxis zu reflektieren und durch theoretische Durchdringung transparent zu machen; in konkreten pädagogischen Situationen die Fähigkeit zur adäquaten Regulierung des Nähe-Distanzverhältnisses zu entwickeln; längerfristige Verantwortung für pädagogische Prozesse zu übernehmen; Aspekte interdisziplinärer Kommunikation und Zusammenarbeit kennenzulernen; und Heranwachsenden als professionell Tätige zu begegnen, ohne in ihrem pädagogischen Handeln von Hochschulangehörigen dafür mit Zensuren bewertet zu werden. Ausgehend von diesen Zielüberlegungen verfolgt das Projekt eine doppelte Absicht: So sollen Studierende anhand von konkreter Praxis Beziehungen differenzierter verstehen lernen, und zugleich sollen sozial benachteiligte Kinder kostenlos fachkompetente Entwicklungsförderung erfahren können. Das Projekt ist damit bewusst am Schnittpunkt von Wissenschaft, Hochschuldidaktik und sozialem Engagement angesiedelt. Welche Rahmenstruktur dem Projekt zur Umsetzung dieser umfangreichen Vorhaben gegeben wurde, soll das nächste Kapitel deutlich machen. 4 Die Projektstruktur - Anforderungen an die Projektteilnehmer/ innen Pro Projektdurchlauf werden am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien zehn Praktikumsplätze für Studierende mit psychoanalytisch-pädagogischem bzw. heilpädagogischem Studienschwerpunkt ausgeschrieben. Die künftigen Projektteilnehmer/ innen müssen sich dazu verpflichten, Michael Wininger 216 VHN 3/ 2007 mindestens zwei Jahre lang einmal pro Woche mit einem sogenannten „verhaltensauffälligen“ Kind in Form einer mehrstündigen Einzelbetreuung zu arbeiten, diese Arbeit in kontinuierlicher Weise zu dokumentieren, und die eigenen Erfahrungen in begleitende bzw. vertiefende Theorieseminare und Arbeitsgruppen einzubringen. Bereits in den Projektvorlaufphasen wird für die teilnehmenden Studentinnen und Studenten zudem eine 14-tägig stattfindende, verpflichtende Supervision an den Instituten für Erziehungshilfe etabliert. Diese bietet zunächst Raum, um Ängste und Erwartungen in Bezug auf die bevorstehende Aufgabe zu thematisieren. Später stellt sie den Rahmen dar, um in schützender Atmosphäre konkrete Situationen und Problemstellungen aus der Betreuungsarbeit zu reflektieren. Neben den obligatorischen Theorieseminaren an der Universität besteht für die Projektteilnehmer/ innen darüber hinaus die Möglichkeit, an den wöchentlichen Fallkonferenzen der Institute für Erziehungshilfe teilzunehmen. Diese geben Einblick in „professionelles Fallmanagement“ und sollen das psychodynamische Verständnis von Entwicklungs- und Beziehungsprozessen vertiefen. Ferner steht es den Projektteilnehmer/ innen frei, mehrmals im Semester eigenes Fallmaterial in universitäre Diskussionsgruppen einzubringen. Des Weiteren ist es seitens der Projektleitung erwünscht, dass die Projektteilnehmer/ innen - nach Zustimmung der Erziehungsberechtigten - Kontakt zum erweiterten Helfer/ innensystem der betreuten Kinder aufnehmen. Fakultative Gespräche mit Heilpädagog/ innen, Psychotherapeut/ innen, Sozialarbeiter/ innen, Psychiater/ innen oder Lehrer/ innen sollen den Studierenden einen multiperspektivischen Zugang ermöglichen und die Bedeutung interdisziplinärer Zusammenarbeit verdeutlichen. Trotz der hohen zeitlichen und persönlichen Ansprüche finden sich immer rasch Studierende, die bereit sind, sich längerfristig im Projekt zu engagieren. Welche inhaltliche Aufgabe sie in ihrer Rolle als „Therapeutischer Begleiter“ zu erfüllen haben, wird im Folgenden umrissen. 5 Der Projektansatz - inhaltliche Aufgabenstellung und Orientierung 5.1 Anknüpfungspunkte und historische Wurzeln Das Projekt „Therapeutischer Begleiter“ schließt in mancherlei Hinsicht konzeptionell an die „Projektseminare“ an, die in den 1970er und 1980er Jahren am Institut für Heilpädagogik der Universität Frankfurt eingerichtet wurden (Leber 1975, 1977; Trescher 1978; Leber/ Trescher 1987). Laut Leber und Gerspach (1996, 508) nahmen an diesen Seminaren jeweils zehn bis zwölf Studierende teil, die sich dazu verpflichteten, einer heilpädagogischen Tätigkeit nachzugehen und diese in wöchentlich stattfindenden Seminarsitzungen nach psychoanalytischen Gesichtspunkten zu reflektieren (Datler u. a. 2002, 159). Gegenstand der Reflexion waren Praxisberichte sowie „die Interaktionen in der Projektgruppe selbst“ (Leber/ Trescher 1987, 117f). Dabei ging man von der Annahme aus, dass sich latente Themen im Hier und Jetzt der Projektgruppe reinszenieren. Ausgehend von diesem Erfahrungshintergrund nimmt das Projekt „Therapeutischer Begleiter“ darüber hinaus inhaltlichen Bezug auf Anni Bergmanns Konzept des „Therapeutischen Gefährten“. Die ehemalige Mitarbeiterin und Ko-Autorin von Margaret Mahler lebt und arbeitet als Psychoanalytikerin und Kindertherapeutin in New York. Zwischen 1976 und 1995 war sie am City University Child Center, einem therapeutischen Behandlungszentrum, tätig. Diese Einrichtung war Bestandteil des Doktorandenprogramms für Klinische Psychologie an der University of New York. Das Center sollte angehenden Psycholog/ innen die Gelegenheit bieten, Erfahrungen in der Arbeit mit psychisch Entwicklungsförderliche Beziehungen verstehen und gestalten lernen 217 VHN 3/ 2007 auffälligen Vorschulkindern und deren Familien zu sammeln. Anni Bergmann und ihre Kolleg/ innen versuchten die Möglichkeiten des Child Centers dafür zu nutzen, „eine möglichst ideale Umgebung zur Behandlung von schwer gestörten und traumatisierten Kindern aus schlechten ökonomischen Verhältnissen“ zu schaffen (Bergmann 2001, 56). Dazu entwickelte sie ein differenziertes Behandlungskonzept, das - neben der individuellen Psychotherapie - die Beschulung in einem „therapeutischen Klassenzimmer“ vorsah. Kamen Bergmann und ihre Mitarbeiter/ innen zu der Einschätzung, dass bestimmte Kinder überdies durch forcierte Außenorientierung profitieren würden, so wurde ihnen zusätzlich zu den anderen Angeboten ein sogenannter „Therapeutischer Gefährte“ zugeordnet (Bergmann 2001, 63). In der Regel waren dies Studierende, die sich freiwillig bereit erklärten, für diese Kinder eine doppelte Funktion zu übernehmen: Als therapeutische Gefährten sollten sie für die Kinder einerseits eine „Brücke … zu den Anforderungen und Möglichkeiten der Außenwelt“ darstellen und eine schützende und stützende Atmosphäre schaffen, in der die Kinder autonome Ich-Funktionen üben und entwickeln konnten (ebd., 64). Andererseits war es ihre Aufgabe, förderlichen Kontakt zum familiären Umfeld der Kinder aufrechtzuerhalten oder herzustellen. Dazu begleiteten sie die Kinder während des stationären Aufenthaltes fallweise in deren Herkunftsfamilien. Über das Ermöglichen von neuen bzw. korrektiven Erfahrungen wurde versucht, die individuelle Entwicklung der Kinder anzustoßen und zu fördern. Die intendierten Erfahrungen konnten vielfältig sein und standen meist im Zusammenhang mit verschiedenen Alltagsvollzügen. So ging man gemeinsam zum Einkaufen, besuchte Spielplätze und Parks oder bewegte sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch New York. In diesen alltäglichen Situationen sollten Kompetenzen erweitert und etwaige Ängste überwunden werden. Bergmanns Konzept des Therapeutischen Gefährten zielte damit primär darauf ab, sozialen Rückzugstendenzen entgegenzuwirken und das Selbstvertrauen der Kinder zu stärken. 5.2 Zur inhaltlichen Ausrichtung des Wiener Modells In Anlehnung an Anni Bergmanns Konzept der „Therapeutischen Gefährten“ lässt sich der inhaltliche Anspruch des Wiener Modells wie folgt skizzieren: Dem Projekt liegt ein psychodynamischentwicklungspädagogischer Ansatz zugrunde. Aufgabe der Projektteilnehmer/ innen ist es, unterstützende Bedingungen für entwicklungsgefährdete Grundschulkinder zu untersuchen und bereitzustellen, die in psychotherapeutischen und schulischen Rahmenbedingungen nicht ausreichend abgedeckt werden können (Schaukal-Kappus 2004, 52). Vor dem Hintergrund psychodynamischer Entwicklungstheorien fungieren die am Projekt Teilnehmenden für „ihre“ Kinder als unaufdringliche Begleiter und unterstützen sie in der Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Realitäten. Im Rahmen der verlässlichen Beziehung zwischen Kind und Begleiter werden Ich-Strukturen differenziert und Mentalisierungsprozesse gefördert. Insofern stehen die Projektteilnehmer/ innen „am Schnittpunkt pädagogischer, schulisch-kognitiver und psychotherapeutischer Betreuung“ (ebd., 54). Als „Therapeutische Begleiter“ verstehen sie sich als parteiische, beschützende und moderierende Beziehungspartner für ihre Kinder. Ausschließlich in der Funktion des Kindes stehend, versuchen sie ein Stück weit zur Weiterentwicklung der (Selbst-)Wahrnehmungsfähigkeit des Kindes beizutragen und es in der spielerischen Auslotung seines Entwicklungspotenzials zu unterstützen. Dazu ist es nötig, den Beziehungsprozess an den aktuellen Entwicklungsinteressen des Kindes zu orientieren. Dies setzt größtmögliche Freiheit in der Gestaltung der Beziehung zwischen Kind und therapeutischem Begleiter voraus. Folglich erhalten die Studie- Michael Wininger 218 VHN 3/ 2007 renden von der Universität und den Instituten für Erziehungshilfe keine konkreten Förder- oder Handlungsaufträge. Vielmehr sind sie aufgerufen, sich für die aktuellen Entwicklungsinteressen des Kindes zu sensibilisieren. Sie haben einen stabilen und sicheren Beziehungsrahmen zu etablieren, innerhalb dessen die Kinder Gestaltungsfreiheit und Raum für neue Erfahrungen finden. Da sich der Beziehungsprozess zwischen Kind und therapeutischem Begleiter nach Maßgabe der individuellen Entwicklungsinteressen des Kindes gestaltet, ist das Projekt geprägt durch unterschiedlichste Arbeitsweisen, Betreuungsverläufe und Settings. Abhängig von den wechselnden Bedürfnissen und Schwierigkeiten der einzelnen Kinder entstehen in der Beziehung zu ihrem Therapeutischen Begleiter bzw. zu ihrer Therapeutischen Begleiterin spezifische Aktivitäten, Rituale und thematische Schwerpunkte. Um dies zu verdeutlichen, wird im nächsten Kapitel exemplarisch ein solcher Betreuungsverlauf nachgezeichnet. Als ehemaliger Projektteilnehmer greift der Autor dazu auf Material zurück, das seiner eigenen Tätigkeit als Therapeutischer Begleiter entstammt. Das Dargestellte soll in der Folge Gelegenheit eröffnen, unter dem Aspekt heilpädagogischer Professionalisierung einige Fragen zu formulieren. 6 Jan - ein Fallbeispiel 6.1 Meine Arbeit mit Jan Gemäß den Projektvorgaben habe auch ich zwei Jahre lang mit einem sogenannt „verhaltensauffälligen“ Burschen gearbeitet und unsere Treffen kontinuierlich dokumentiert. Zum Zeitpunkt unseres ersten Zusammentreffens war Jan - wie ich ihn im Folgenden nennen möchte - zehn Jahre und sechs Monate alt. Infolge seiner chronischen Traumatisierung durch männliche Gewalt und seiner eigenen heftigen Affektdurchbrüche schien es sinnvoll, ihm eine positiv besetzte männliche Bezugsperson zur Seite zu stellen. In der Rolle eines verlässlichen und wohlwollenden Erwachsenen versuchte ich, stabile Rahmenbedingungen zu etablieren und Jan in der spielerischen Erschließung von Entwicklungspotenzialen zu unterstützen. Wie sich dies in der Arbeit mit dem Jungen konkretisierte, soll dieses Kapitel ein Stück weit nachvollziehbar machen. Vor unserem ersten Treffen vereinbarte ich mit Jans Mutter einen Termin, um ihr unser Projekt vorzustellen. Gleichzeitig bat ich sie in Bezug auf Jan um einige anamnestische Informationen. Sie war offensichtlich sehr besorgt um ihren Sohn und nutzte die Gelegenheit, um mir ihr Leid zu klagen. Unter anderem bat sie mich im Laufe unserer Unterhaltung, Jans Psychiater zu kontaktieren. Bei diesem Besuch erhielt ich einige weitere wichtige Informationen, sodass ich zu Projektbeginn von folgender Situation ausgehen konnte: Jan lebte gemeinsam mit seiner Mutter und seinen beiden älteren Schwestern in einer kleinen Wohnung am Stadtrand von Wien. Etwa ein Jahr vor unserem ersten Treffen hatten seine Mutter und seine Schwestern den alkoholkranken und gewalttätigen Vater aus der gemeinsamen Wohnung „geworfen“. Als daraufhin der Kontakt jäh abbrach, ließen Jans Schulleistungen stark nach. Sowohl in der Schule als auch zu Hause zeigte er sich zunehmend teilnahmsloser und dysphorischer. Jan wurde deshalb einem Kinder-Psychiater vorgestellt und auf dessen Anraten in eine sonderpädagogisch betreute Kleinklasse überwiesen. Dort saß er dann oft stundenlang in sich versunken in seiner Schulbank und verweigerte jegliche Mitarbeit. Gelegentlich sprang er aber ohne äußeren Anlass auf, um wie besinnungslos auf den nächstbesten Mitschüler einzuschlagen. Neben der Heftigkeit seiner Impulsdurchbrüche gestaltete sich auch sein Essverhalten zunehmend problematisch. Seine bestehenden Gewichtsprobleme verstärkten sich markant. Weil er deshalb immer häufiger gehänselt wurde, begann er soziale Situationen zu vermeiden. Darüber hinaus idealisierte er seinen Vater zusehends, während er sich gegenüber Frauen (Mutter, Schwestern, Lehrerin usw.) betont aggressiv und entwertend zeigte. Entwicklungsförderliche Beziehungen verstehen und gestalten lernen 219 VHN 3/ 2007 Zu Hause eskalierte die Situation immer häufiger. Im Zuge von Konflikten zerstörte Jan wiederholt Teile des Mobiliars. Fallweise sperrte er sich ohne erkennbaren Auslöser in sein Zimmer ein, um Löcher in die Wände zu schlagen oder sein Bettzeug zu zerschneiden. Jans Mutter fühlte sich aufgrund der körperlichen Überlegenheit ihres Sohnes hilflos und bedroht. Gemeinsam mit den anderen Familienmitgliedern schien sie der Verzweiflung nahe. Zu den vereinbarten Psychotherapieterminen konnte sie Jan nur noch selten bewegen. Die Schilderungen der Mutter und des Psychiaters machten mich einerseits neugierig, andererseits verunsicherten sie mich. So begann ich mich in Überlegungen zu verstricken, wie ich Jan wohl am besten für mein Vorhaben gewinnen könnte. Schließlich lud ich ihn zu einem unverbindlichen Treffen ein. Überraschenderweise willigte er sofort begeistert ein und bat mich, das Schachbrett seines Vaters mitbringen zu dürfen. So starteten wir unsere gemeinsame Arbeit mit einer Partie Schach - dem Lieblingsspiel seines Vaters. Doch bereits nach wenigen Zügen brach Jan das Spiel ab. Er habe keine Lust zum Spielen, meinte er. Vielmehr wolle er mit mir kämpfen, um zu sehen, ob ich stark genug sei. Etwas überrascht bat ich ihn um kurze Bedenkzeit und legte schließlich einige Regeln für einen gemeinsamen Ringkampf fest. Entgegen unserer Vereinbahrung ging Jan aber sofort ungebremst auf mich los. Um ihn und mich zu schützen, sah ich keine andere Möglichkeit, als ihn zu Boden zu drücken und festzuhalten. Nachdem ich ihn kurz darauf wieder losließ, begannen seine Attacken erneut. Erst nachdem ich ihn das dritte Mal zu Boden drücken konnte, ließ er sichtlich erleichtert von mir ab. Mit befreitem Lächeln stellte er fest: „Gut, dass du so stark bist! “ Offensichtlich beruhigt, dass ich in der Lage war, ihn (aus-)zu halten, wollte er wissen, ob ich ihn auch nächste Woche wieder treffen könnte. Außer Atem, aber ebenfalls erleichtert, bot ich ihm an, dass ich nicht nur nächste Woche, sondern zwei Jahre lang einmal pro Woche für zwei Stunden Zeit für ihn finden könnte. Nachdem er sich misstrauisch versichert hatte, ob ich mein Angebot auch wirklich ernst meine, stimmte er freudig zu. „Das wird super! “ meinte er, „wir können dann gemeinsam richtige Männersachen unternehmen! “ Wir einigten uns darauf, dass sich Jan von Woche zu Woche überlegen solle, wie er die gemeinsame Zeit nützen möchte. Bereits nach wenigen Terminen schuf er ein Ritual, das er beinahe ein Jahr lang einforderte: Ich holte ihn zunächst zu Hause ab. Gemeinsam schlenderten wir zu „unserem“ Baum mitten auf einem großen, freien Areal. Unterwegs plauderten wir etwas über die Geschehnisse der vergangenen Woche. Am Baum angekommen, initiierte Jan verschiedene Rollenspiel-Situationen. In erstaunlicher Weise gelang es ihm dabei, seine aktuellen Probleme und Bedürfnisse auf symbolischer Ebene anklingen zu lassen. Beispielsweise verlangte er anfangs oft, dass ich mich vor ihm verstecke. Sobald ich mich verborgen hatte, begann er jedes Mal hektisch nach mir zu suchen, und nachdem er mich gefunden hatte, brach er in freudiges Geschrei aus. Ein anderes seiner Lieblingsspiele war das „Agentenspiel“. Wir beide waren Superagenten, die man im Dschungel ausgesetzt hatte. Ich sollte der erfahrene Lieutenant sein, der seinem Agentenlehrling beibringt, wie man im Urwald überlebt. Jan meinte, dass sich der Agentenlehrling ohne seinen Vorgesetzten im Dschungel sofort verlaufen würde und dass ihn dann die wilden Tiere fressen würden. In spielerischer Weise thematisierte er so seine Angst, ohne den Vater orientierungslos und existenziell bedroht zu sein. Zwischen unseren Spielen rasteten wir unter dem Baum und sprachen über die Inhalte der vorangegangenen Spielsequenz. Gelegentlich nutzte Jan die Pausen, um mir in der Manier eines Quizmasters diverse Fragen zu stellen. „15.000 Euro, wenn du weißt, wie Frauen schwanger werden! “, bot er mir beispielsweise im Spiel. Oder: „10.000 Euro, wenn du weißt, wie man erkennt, ob ein Mädchen in einen Buben verliebt ist! “ Michael Wininger 220 VHN 3/ 2007 Mit der Zeit wurden die Spielsequenzen kürzer und die Phasen, in denen wir plaudernd zusammen saßen, länger. Gelegentlich wollte sogar der „Agentenlehrling“ den „Lieutenant“ ein Stück weit durch den Dschungel führen. Mit zunehmendem Vertrauen konnte Jan nach und nach auch darauf verzichten, seine Fragen spielerisch zu verpacken. Manchmal erzählte er mir auch von seinem Vater, wobei er diesen anfangs meist als unverwundbaren und grandiosen Heroen darstellte. Zunächst erntete ich heftigen Unmut, als ich es wagte, Elemente seiner Geschichten in Frage zu stellen, später aber versuchten wir gemeinsam, behutsam Wunsch und Wirklichkeit zu trennen. Nach dem ersten gemeinsamen Jahr vereinbarten wir im Sommer eine vierwöchige Urlaubspause. Als wir uns im Herbst wieder trafen, freute sich Jan auf den bevorstehenden altersbedingten Schulwechsel. In der neuen Klasse wurde er aber wegen seines beachtlichen Körperumfanges rasch zum Außenseiter. Nachdem ihn zwei ältere Schüler auf dem Heimweg verprügelt hatten, verweigerte er die Schule gänzlich. Darüber hinaus geriet er immer häufiger in panikartige Zustände, wenn er die Wohnung verlassen sollte. Da er für mehrere Wochen nicht zu bewegen war, vor die Tür zu gehen, sahen wir uns gezwungen, unsere Treffen in Jans Zimmer abzuhalten. Neben dem äußeren Rahmen änderten sich auch die Inhalte, die Jan einbrachte. So kippte er auch in Bezug auf seinen Vater immer öfter in heftige Entwertung, Wut und Enttäuschung. Ebenso konfrontierte er auch mich in zunehmendem Maße mit haltlosen Beschuldigungen und Vorwürfen. Anfangs war ich irritiert und gekränkt, dass mir Jan - nachdem ich ihm so viel Zeit und Zuwendung geschenkt hatte - plötzlich mit offener Empörung und Ablehnung begegnete. Erst als ich seine Verhaltensänderung in der Supervision unter dem Aspekt der Übertragung verstehen lernte, entspannte sich die Situation zwischen uns wieder langsam. Mit Hilfe der Supervisionsgruppe wurde deutlich, dass Jans heftige Gefühle weniger mir als vielmehr seinem Vater galten. Vor dem Hintergrund seiner Verlusterfahrung schien Jan - zunächst unbewusst - mit der Frage beschäftigt, ob auch ich ihn plötzlich und ohne Vorwarnung verlassen werde. Um sich davor zu schützen, abermals verlassen zu werden, schien er unbewusst bestrebt, unsere Beziehung zu testen oder sogar von sich aus zu zerstören. Diese Gedanken ließen mich wieder ein Stück mehr an emotionaler Distanz gewinnen, wodurch es mir möglich wurde, die Aspekte von Wut und Trennungsangst stellvertretend für Jan zu verbalisieren. Dies führte dazu, dass auch Jan selbst in weiterer Folge zusehends darüber sprechen konnte, wie wütend er auf seinen Vater sei und wie sehr es ihn enttäusche, dass dieser ihn allem Anschein nach einfach vergessen habe. Nach einiger Zeit gelang es uns wieder, gemeinsam nach draußen zu gehen. Wir lernten einige Burschen aus der Wohnhausanlage kennen, mit denen sich Jan später auch gelegentlich alleine zum Fußballspielen traf. Über den durch mich gestützten Peer-Kontakt gewann er merklich an Sicherheit, was sich auch in unseren weiteren Treffen widerspiegelte. So wollte er diese „kindischen Spiele“ an unserem Baum nicht mehr spielen. Vielmehr wollte er nur mehr „coole Männersachen“ unternehmen. Statt zu unserem Platz gingen wir von nun an beispielsweise ins Billardlokal, ins Freibad oder in den Baumarkt. Auch die neuen „coolen Männersachen“ unterbrachen wir in der gewohnten Weise, um uns längeren Gesprächen zu widmen. Gegen Ende unserer gemeinsamen Zeit wurde Jan wieder einmal von zwei Klassenkollegen mit dem Verprügeln bedroht. Daraufhin rief er mich an und bat mich, ihn tags darauf von der Schule abzuholen. Er bestand darauf, dass ich zur vereinbarten Zeit vor der Schule auf ihn warte. Außerdem musste ich unbedingt eine dunkle Sonnenbrille tragen. Ohne lange nachzufragen, gewährte ich ihm diesen Wunsch und fand mich zur angegebenen Zeit vor der Schule ein. Wie erwartet, stellte er mich den beiden Widersachern stolz als seinen „Bodyguard“ und Entwicklungsförderliche Beziehungen verstehen und gestalten lernen 221 VHN 3/ 2007 Freund vor. Sein Plan zeigte Wirkung, und er hatte bis zum Schulschluss keinen Ärger mehr mit den beiden Jungen. Obwohl eine solche Aktion natürlich nicht ganz unproblematisch ist, hat sie in dieser Situation Jans Bedürfnis nach Schutz und konkreter Unterstützung entsprochen. Sein Vorgehen kann demnach als Ausdruck davon verstanden werden, dass er bestehende Beziehungen (wieder) als hilfreich erleben und für seine Zwecke nutzen konnte. Die letzten Treffen dienten dazu, das bevorstehende Ende der Betreuung zu thematisieren und Perspektiven zu entwerfen. Trotz der sorgfältigen Planung und Gestaltung unseres Abschiedes zeigte sich Jan bei unserem letzten Treffen gekränkt und verleugnend. Da ein abrupter Beziehungsabbruch vor dem Hintergrund seiner lebensgeschichtlichen Erfahrungen problematisch schien, ließ ich es ihm offen, mich gelegentlich telefonisch oder postalisch zu kontaktieren. Nach unserem letzten Treffen telefonierten wir noch einige Wochen regelmäßig miteinander und schrieben einander E-Mails. Mit der Zeit meldete sich Jan jedoch seltener. Nachdem ich fast drei Monate lang keine Nachricht von ihm erhalten hatte, meldete er sich ein letztes Mal bei mir. In diesem Gespräch erzählte er mir freudig, dass sich sein Vater wieder bei ihm gemeldet habe. Dieser sei schwer krank gewesen und hätte angeblich deshalb nichts von sich hören lassen können. Nachdem es ihm jetzt wieder besser gehe, träfen sie einander gelegentlich im Stadion, um gemeinsam die Heimspiele ihrer favorisierten Eishockeymannschaft zu verfolgen. Auch in der Schule klappe es wieder einigermaßen. Zwar gebe es noch vereinzelt handfeste Auseinandersetzungen mit seinen Mitschülern, aber dennoch sitze er wieder gerne und regelmäßig in seiner Klasse. Jans Sozialarbeiterin teilte mir mit, dass sich auch die Beziehung zu seiner Mutter zunehmend entspanne. Zu den vereinbarten Psychotherapieterminen fahre der Junge mittlerweile selbstständig. 6.2 Ein Interpretationsversuch An das kasuistische Material möchte ich in der gebotenen Knappheit einige interpretative Überlegungen anschließen. Diese sollen in groben Zügen nachzeichnen, wie sich für mich der begleitende Verstehensprozess vollzogen hat. Infolge der langjährigen Gewalterfahrungen könnte man Jan als chronisch traumatisiertes Kind verstehen. Traumatische Erfahrungen wie wiederholte Gewalt im engsten Familienkreis haben insbesondere für Heranwachsende besonders schwerwiegende Folgen. Meist erschüttern sie das Vertrauen in zwischenmenschliche Beziehungen und in die eigenen Fähigkeiten zutiefst. So schien auch Jan positiv getönte Beziehungen ängstlich zu besetzen und daher zusehends zu verunmöglichen. Vom Wiederholungszwang getrieben, reinszenierte er fortwährend Beziehungsabbrüche, die ihn in seiner negativen Erwartungshaltung und Selbstsicht bestätigten. So hatten sowohl die Regelschule wie auch die Großmutter bereits mit ihm „abgeschlossen“, und auch seine Mutter stand unmittelbar davor, verzweifelt „das Handtuch zu werfen“. Zwischen den väterlichen Alkohol- und Gewaltexzessen gab es aber auch viele positive Situationen und Anlässe, die Jan mit seinem Vater verbanden. Sie pflegten gemeinsame Interessen, und im Falle innerfamiliärer Streitigkeiten unterstützten sie sich meist gegenseitig und verschworen sich gegenüber den anderen (weiblichen) Familienmitgliedern. Der jähe Beziehungsabbruch zum Vater könnte daher als neuerliche Traumatisierung verstanden werden, die auf Basis alter Verletzungen in mehrfacher Hinsicht massive Destabilisierung auslöste. Das plötzliche Verschwinden des Vaters führte möglicherweise zu einer akuten Überforderung von Jans individuellen Anpassungs- und Kompensationsmöglichkeiten, wodurch bislang erworbene psychische Strukturen destabilisiert und brüchig wurden. Jans negatives Selbstkonzept führte zu der unbewussten Einschätzung, dass er ohne Unterstützung des Vaters psychisch nicht überleben Michael Wininger 222 VHN 3/ 2007 würde. Die abrupte Trennung vom Vater löste daher existenzielle Ängste aus, die ihn immer wieder panikartig überfielen. Seine Impulsdurchbrüche in der Schule könnten als Versuch interpretiert werden, den drohenden Ich-Zerfall abzuwehren und einen letzten Rest an Koheränzerleben und Selbstwert aufrechtzuerhalten. Über die Identifikation mit der Aggression des Vaters schien Jan diesen darüber hinaus unbewusst in sich präsent halten zu wollen. Erschwerend kam hinzu, dass Jan seinen Vater just in jener Zeit verlor, als er sich in besonderer Weise mit Fragen der männlichen Geschlechtsrollenidentität zu beschäftigen begann. Jenseits von männlicher Gewalt und Aggression standen ihm diesbezüglich aber offensichtlich kaum positiv besetzte Identifikationsmodelle zur Verfügung. Insofern sah er sich gezwungen, die Suche nach männlicher Identität über die Negation des vermeintlich Weiblichen zu forcieren. Folglich begegnete er den Frauen in seiner Umgebung mit betonter Entwertung und Ablehnung. Überdies schien diese Haltung durch seine subjektive Wahrnehmung begünstigt, derzufolge seine Mutter und seine Schwestern für das Verschwinden des Vaters verantwortlich zeichneten. Zu Projektbeginn schien Jans Situation also von einer tiefen Sehnsucht nach männlicher Zuwendung und Identifikation bestimmt. Ausgehend von seinen traumatischen Erfahrungen hatte er aber gleichzeitig große Angst vor zwischenmenschlicher Nähe und weiteren Beziehungsabbrüchen. Dies würde den Umstand ein Stück weit erklären, dass Jan mein Beziehungsangebot begierig angenommen hatte, dieses aber gleichzeitig sofort einer misstrauischen und handfesten Überprüfung unterziehen musste. Erst als er sich davon überzeugt hatte, dass ich bereit und fähig war, ihn und seine Aggression (aus-)zuhalten, konnte er sich mit der Zusammenarbeit einverstanden erklären. Durch das Schaffen gemeinsamer Rituale drückte Jan vermutlich sein Bedürfnis nach Kontinuität und Verlässlichkeit aus. Gleichzeitig machte er möglicherweise die Erfahrung, dass er die Beziehung zu seinem Therapeutischen Begleiter aktiv mitgestalten konnte und seiner erwachsenen Umwelt damit nicht passiv ausgeliefert war. Das Einfordern von ritualhaften Abfolgen könnte man als Akt der Sequenzierung im Dienste der Selbstregulation verstehen. Indem Jan die einzelnen thematischen Elemente durch Pausen trennte, konnte er steuern, wie lange und intensiv er sich mit bestimmten Inhalten auseinandersetzen wollte. Er schuf sich sozusagen „verdaubare Portionen“, die ihm die gefahrlose Annäherung an verschiedenste Themen erlaubten. Darüber hinaus boten ihm die ritualisierten Spielsequenzen die Möglichkeit, seine Ängste und Probleme auf spielerischer Ebene zu thematisieren. In der symbolischen Suche nach dem Vater brachte er beispielsweise seine tiefe Hoffnung auf Wiedervereinigung und väterliche Führung zum Ausdruck. Jan hat den Therapeutischen Begleiter für sich als „väterlichen Freund“ nützen können, indem er dessen Unterstützung in der Bewältigung konkreter Alltagsprobleme einforderte. So machte er ihn je nach Bedürfnislage zum „Bodyguard“, Billardlehrer oder zur Informationsquelle für Aufklärungsfragen. Der Umstand, dass ihm ein Erwachsener ohne äußere Verpflichtung derart viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete, gab ihm vermutlich neues Selbstvertrauen. Beispielsweise fragte er mich wiederholt lustvoll danach, wie viel Geld ich denn für unsere gemeinsamen Treffen bekäme. Nachdem ich ihm immer zur Antwort gab, dass ich dafür keinen Cent bekomme und auch nichts erwarte, stellte er jedes Mal voller Stolz fest: „Du kommst also gerne zu mir! “ Gestärkt durch diese Erfahrung, fiel es ihm anscheinend wieder leichter, Freundschaften mit Gleichaltrigen einzugehen und zu pflegen. Durch das neu gewonnene Selbstvertrauen wurde Jan deutlich autonomer. Dadurch gelang es ihm, einige seiner Trennungs- und Verlustängste zu bewältigen, und es wurde ihm möglich, sich zusehends von dem idealisierten Bild seines Vaters zu lösen und eine realistischere Einschätzung zu gewinnen. Entwicklungsförderliche Beziehungen verstehen und gestalten lernen 223 VHN 3/ 2007 Über das Vorhandensein eines männlichen Vorbilds wurde es für Jan vermutlich weniger notwendig, seine Identitätsfindung vorwiegend über die Negation seiner weiblichen Umgebung voranzutreiben. Damit war der Grundstein dafür gelegt, dass sich auch die innerfamiliären Beziehungen wieder langsam entspannen konnten. Natürlich sind die beschriebenen Fortschritte nicht nur dem Projekt zu verdanken. Vielmehr befand sich Jan parallel zur therapeutischen Begleitung in psychotherapeutischer Behandlung, in der viele der Entwicklungsschritte angebahnt, gestützt und fortgeführt wurden. Insofern kann das Angebot von Therapeutischen Begleiter/ innen immer nur als ergänzende Maßnahme verstanden werden, die in enger Verzahnung und Abstimmung mit dem psychotherapeutischen Prozess zur Anwendung kommt. Damit die beiden Angebote sinnvoll ineinander greifen können, bedarf es aber des kontinuierlichen Austauschs zwischen den Psychotherapeut/ innen und den Therapeutischen Begleiter/ innen. Die wöchentlichen Fallkonferenzen in den Instituten für Erziehungshilfe bieten dafür den Rahmen. 7 Ein Ausblick - Das Projekt als Ausgangspunkt zur Theorieausweitung? Die Arbeit des Therapeutischen Begleiters ist keine professionelle Berufstätigkeit im engeren Sinn. Vielmehr stellt sie eine ehrenamtliche Tätigkeit im Dienste universitärer Bildungsprozesse dar. Kind und Therapeutischer Begleiter schließen ein informelles Bündnis, das auf beiderseitiger Freiwilligkeit basiert. In gewisser Hinsicht kommt die Relation von Kind und Begleiter damit mehr einer Freundschaftsals einer Arbeitsbeziehung gleich. Dadurch treten im Projekt familial getönte Beziehungswünsche und Übertragungstendenzen in den Vordergrund. Die bisherigen Projekterfahrungen werfen aber dennoch in mehrfacher Weise Fragen auf, die Anstoß für neue Überlegungen zur Professionalisierungsthematik geben können. Exemplarisch dafür sollen einige Aspekte erwähnt werden. Aufgabe der Therapeutischen Begleiter/ innen ist die Erforschung und Etablierung von pädagogischen Voraussetzungen, die individuell erhöhten Anspruchslagen gerecht werden. Insofern kann ihre Tätigkeit im engeren Sinn als heilpädagogische Tätigkeit verstanden werden. Dennoch lässt das oben dargestellte Fallmaterial gewisse Nähen und Ähnlichkeiten zu psychotherapeutischem Handeln erkennen. Im Anschluss an die dargestellte Kasuistik könnte man sich daher fragen, inwiefern Überschneidungen, aber auch charakteristische Differenzen zu psychotherapeutischen Handlungskonzepten auszumachen sind. Dies erscheint mir nicht zuletzt deshalb als sinnvoll, weil die eigene subdisziplinäre Identität über die Kontrastierung zu angrenzenden Gegenstandsbereichen an Kontur gewinnen kann. In diesem Sinn soll zunächst eine Überschneidung thematisiert werden, die im Hinblick auf die heilpädagogische Professionalisierung als besonders relevant erscheint: Sowohl Psychotherapeut/ innen als auch Therapeutische Begleiter/ innen haben einen Beziehungsraum zu etablieren, der primär von den behandelten bzw. begleiteten Kindern inhaltlich und thematisch auszugestalten ist. Damit dies möglich wird, muss ein stabiler und schützender Rahmen geschaffen werden, innerhalb dessen die Kinder größtmögliche Gestaltungs- und Ausdrucksfreiheit erhalten. Dies kann aber nur gelingen, wenn die Therapeutischen Begleiter/ innen die unreflektierte Verfolgung eigener Impulse tendenziell zu vermeiden lernen. Insofern müssen Therapeutische Begleiter/ innen den schwierigen Spagat vollziehen, sich einerseits emotional zu involvieren und einzubringen, sich aber andererseits in der inhaltlichen Gestaltung der unmittelbaren Begegnung zurückzuhalten. Die Projekterfahrungen haben gezeigt, dass dies für angehende Heilpädagog/ innen anfänglich meist äußerst schwierig ist. Pädagogischer (Über-)Eifer und Michael Wininger 224 VHN 3/ 2007 mangelnde Erfahrung verführen leicht zum vorschnellen Intervenieren und verstellen den differenzierten Blick auf das Kind und die aktuelle Beziehungsdynamik. Je mehr es aber gelingt, weniger unmittelbar verändern, sondern vielmehr beobachtend verstehen zu wollen, desto mehr wächst auch die Fähigkeit und Bereitschaft der Kinder, den angebotenen „Beziehungsraum“ auszugestalten und für ihre Weiterentwicklung zu nutzen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen stellt die Fähigkeit zur wohlwollenden Zurückhaltung (vgl. Datler 2005) unseres Erachtens eine zentrale heilpädagogische Kernkompetenz dar. Dieser Aspekt scheint im gegenwärtigen Professionalisierungsdiskurs noch nicht benannt oder gar eingehender behandelt zu werden. Im Sinne des Fortschrittes heilpädagogischer Professionalität gälte es daher, die Frage zu verfolgen, wie man angehende Heilpädagog/ innen in der Entfaltung dieser Kompetenz anleiten und unterstützen kann. Neben den beschriebenen Ähnlichkeiten in den Anspruchslagen von Psychotherapeut/ innen und Therapeutischen Begleiter/ innen bestehen in den jeweiligen handlungsleitenden Konzepten aber auch markante Differenzen. Während sich der psychotherapeutische Prozess im Rahmen klar begrenzter räumlich-situativer Settings entfaltet, treten Therapeutische Begleiter/ innen in verschiedenen kindlichen Lebensbereichen in Erscheinung. In der Absicht, den betreuten Kindern entwicklungsförderliche Beziehungserfahrungen zu ermöglichen, übernehmen sie Aufgaben und Rollen, die sie in konkreten Alltagssituationen agierend ausfüllen. Ziel ist es dabei nicht, einen entscheidenden Beitrag zur Selbstaufklärung der Kinder zu leisten. Im Sinne Winnicotts (2002) soll vielmehr ein „intermediärer (Beziehungs-) Raum“ entstehen, in dem die Kinder zur spielerisch-lustvollen Auslotung von Realitätskonstrukten und Entwicklungspotenzialen ermutigt werden. Die Beziehung zwischen Kind und Therapeutischem Begleiter soll ein psychosoziales Entwicklungs-Moratorium darstellen, in dem die Kinder ihre Konzeptualisierungen von Selbst und Welt gefahrlos erproben und differenzieren können. Therapeutische Begleiter/ innen sind daher in einem hohen Ausmaß gefordert, die Rollenangebote ihrer Kinder aufzugreifen und in bedachter Weise ein Stück weit zu agieren. In loser Anlehnung an die Terminologie Sandlers (1976) müssen Therapeutische Begleiter/ innen also die Fähigkeit und Bereitschaft zur Rollenübernahme entwickeln und gleichsam in der Lage sein, reflexive Distanz herzustellen. Aufgrund der gebotenen Kürze können diese Gesichtspunkte hier natürlich nicht weiter verfolgt werden. Sie sollen lediglich deutlich machen, dass das vorgestellte kasuistische Material in mancher Hinsicht über bestehende Konzeptualisierungen hinausweist. Es wirft damit Fragen und Probleme auf, die eventuell Anstoß zu neuen Überlegungen geben können. Wenn das Verstehen von Beziehungsprozessen zu den zentralen Aufgaben von heilpädagogischer Praxis zählt, so haben Forschung und Lehre heilpädagogische „Beziehungsprozesse (und die) damit verbundenen Verstehensleistungen (bzw. offenen Probleme) zu dokumentieren und zu publizieren“ (Datler 2000, 74f). Im Kontext heilpädagogischer Professionalisierung ist das vorgestellte Praxiskonzept daher von doppelter Relevanz. Es unterstützt angehende Heilpädagog/ innen im Erwerb nötiger Kompetenzen und dokumentiert gleichzeitig konkrete heilpädagogische Begegnungen und Beziehungsprozesse. Insofern bleibt zu hoffen, dass auch anderenorts ähnliche Initiativen verwirklicht und der fachöffentlichen Diskussion zugeführt werden können. Anmerkungen 1 vgl. bspw. Steinhardt 2005; Dewe/ Ferchoff/ Radtke 1992; Hornstein/ Lüders 1989; Apel/ Horn/ Lundgren/ Sandfuchs 1999; Heil 2000; Wagner 1998; Giesecke 1999; Datler u. a. 2002 2 vgl. bspw. die Beiträge im Sammelband von Combe/ Helsper 1999 Entwicklungsförderliche Beziehungen verstehen und gestalten lernen 225 VHN 3/ 2007 3 Im Fachbereich Grundschulpädagogik der Universität Kassel fand im Mai 2004 unter dem Titel „Lernbegleitung und Patenschaften“ eine zweitägige Konferenz statt, bei der neben dem gegenständlichen Projekt elf weitere einschlägige Initiativen vorgestellt wurden. 4 Zu Projektbeginn unter der ärztlichen Leitung von Dr. Elisabeth Brainin. Die gegenwärtige Leiterin, Dr. Barbara Burian-Langegger, hat dieses Engagement seit 2002 weitergeführt und entscheidend zur Etablierung und Weiterentwicklung des Projekts beigetragen. 5 Im ersten Durchlauf waren überdies Mitarbeiter/ innen des Sonderpädagogischen Zentrums Galileigasse maßgeblich an der Entwicklung und Umsetzung des Projektvorhabens beteiligt. Besonderer Dank gilt Hanna Dohnal und Gerhard Gutschi, die das Projekt mit großem persönlichem Einsatz und ihrem langjährigen Erfahrungshintergrund bereichert und unterstützt haben. Literatur Apel, H. J.; Horn, K.-P.; Lundgren, P.; Sandfuchs, U. (Hrsg.) (1999): Professionalisierung pädagogischer Berufe im historischen Prozeß. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Bergmann, A. (2001): Die Anwendung der Erkenntnisse aus der Mutter-Kind-Beobachtung in der Therapie von Vorschulkindern. In: Brainin, E. (Hrsg.): Kinderpsychotherapie. Symposion „50 Jahre Institute für Erziehungshilfe“. Wien: Literas Universitätsverlag, 55 - 79 Combe, A.; Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt: Suhrkamp Datler, W. (1991): „Ubiquitäre Heilpädagogik“ und die Entfaltung psychoanalytisch-pädagogischer Basiskompetenzen an der Universität. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 60, 237 - 247 Datler, W. (2000): Das Verstehen von Beziehungsprozessen. Eine zentrale Aufgabe von heilpädagogischer Praxis, Lehre und Forschung. In: Bundschuh, K. (Hrsg.): Wahrnehmen - Verstehen - Handeln: Perspektiven für die Sonder- und Heilpädagogik im 21. Jahrhundert. Klinkhardt: Bad Heilbrunn, 59 - 77 Datler, W. (2005): Abstinenz, Zurückhaltung und die Frage nach dem Latenten. Anmerkungen zum Prozess des psychoanalytischen Verstehens. In: Bittner, G. (Hrsg.): Menschen verstehen. Wider die „Spinnweben dogmatischen Denkens“. Würzburg: Königshausen und Neumann, 86 - 102 Datler, W.; Garnitschnig, K.; Schmidl, W. (1987): Erfahrungsgestützte Einführung in Theorie. In: Csanyi, G. (Hrsg.): Hat das Studium noch Sinn? Und wie! In: Zeitschrift für Hochschuldidaktik 11, 441 - 478 Datler, W.; Datler, M.; Sengschmied, I.; Wininger, M. (2002): Psychoanalytisch-pädagogische Konzepte der Aus- und Weiterbildung. Eine Literaturübersicht. In: Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 13. Gießen: Psychosozial-Verlag, 141 - 171 Dewe, B.; Ferchoff, W.; Radtke, F. (1992): Erziehen als Profession. Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Feldern. Opladen: Leske & Budrich Dlugosch, A. (2003): Professionelle Entwicklung und Biografie. Impulse für universitäre Bildungsprozesse im Kontext schulischer Erziehungshilfe. Klinkhardt: Bad Heilbrunn/ Obb. Eberwein, H. (1998): Integrationspädagogik als Element einer allgemeinen Pädagogik und Lehrerausbildung. In: Hildeschmidt, A.; Schnell, I. (Hrsg.): Integrationspädagogik. Weinheim: Juventa, 345 - 362 Giesecke, H. (1999): Die pädagogische Beziehung. Pädagogische Professionalität und die Emanzipation des Kindes. 2. Aufl. Weinheim: Juventa Heil, Stefan (2000): Universitäre Lehrerausbildung und pädagogische Professionalität im Spiegel von Lehrenden. Eine qualitative empirische Untersuchung. Weinheim: Dt. Studienverlag Hornstein, W.; Lüders, C. (1989): Professionalisierungstheorie und pädagogische Theorie. Verberuflichung erzieherischer Aufgaben und pädagogischer Professionalität. In: Zeitschrift für Pädagogik 35, 749 - 769 Horster, D.; Hoyningen-Süess, U.; Liesen, C. (Hrsg.) (2005): Sonderpädagogische Professionalität. Beiträge zur Entwicklung der Sonderpädagogik als Disziplin und Profession. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Leber, A. (1975): Psychoanalytische Projektseminare in der Ausbildung von Heilpädagogen an der Hochschule. In: Iben, G. (Hrsg.): Heil- und Son- Michael Wininger 226 VHN 3/ 2007 Entwicklungsförderliche Beziehungen verstehen und gestalten lernen 227 VHN 3/ 2007 derpädagogik. Einführung in Problembereiche und Studium. Kronberg/ Ts: . Scriptor, 154 - 162/ Wiederabdruck in: Leber. A. (Hrsg) (1980): Heilpädagogik. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 391 - 402 Leber, A. (1977): Zur Definition von Gruppenverfahren in Hochschule und Kirche. Psychoanalytische Gruppenverfahren im Bildungsbereich - Didaktik oder Therapie? In: Gruppentherapie und Gruppendynamik 12, 242 - 254 Leber, A.; Gerspach, M. (1996): Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik in Frankfurt am Main. In: Plänkers, Th. u. a. (Hrsg.): Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Tübingen: Edition diskord, 489 - 541 Leber, A.; Trescher, H.-G. (1987): Psychoanalyse in der Ausbildung von Pädagogen. In: Chancen der Gruppe. Erfahrungen aus dem pädagogischen Alltag. Mainz: Grünewald, 113 - 122 Lindmeier, Ch. (2000): Heilpädagogische Professionalität. In: Sonderpädagogik 30, 166 - 180 Moor, P. (1974): Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. 3. Aufl. Bern: Hans Huber Oevermann, U. 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