eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 76/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Effekte der Förderung des Teil-Ganzes-Verständnisses bei Erstklässlern mit schwachen Mathematikleistungen

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2007
Marco Ennemoser
Kristin Krajewski
Aktuelle Modellvorstellungen über die Entwicklung mathematischer Kompetenzen legen eine möglichst frühzeitige und kompetenzorientierte (vs. performanzorientierte) Förderung rechenschwacher Kinder nahe. Vor diesem Hintergrund wurde in der vorliegenden Studie die Effektivität einer Förderung des zahlbezogenen Teil-Ganzes-Verständnisses bei rechenschwachen Erstklässlern überprüft. Im Anschluss an die sechs Sitzungen umfassende Intervention hatte die Trainingsgruppe (n=15) signifikant größere Leistungszuwächse zu verzeichnen als die Kontrollgruppe, die ein unspezifisches Training erhielt (n=15). Die Wirksamkeit der Förderung blieb nicht spezifisch auf das Teil-Ganzes-Verständnis beschränkt, sondern schlug sich im Sinne von Transfereffekten auch in Sachaufgaben sowie im Gesamtergebnis eines standardisierten Mathematiktests nieder.
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228 1 Theoretischer Hintergrund Die Vermittlung der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen gehört zu den zentralen Aufgaben des Grundschulunterrichts. Obwohl nach wie vor ein Mangel an einschlägigen Langzeitstudien herrscht, lässt sich aus den verfügbaren Arbeiten ableiten, dass sich Defizite in der Entwicklung dieser drei Bereiche jeweils zu einem sehr frühen Zeitpunkt manifestieren und oft über den gesamten Verlauf der Schulzeit erhalten bleiben (z. B. Shaywitz u. a. 1999; Stern 2003). Die Befunde sprechen insgesamt für möglichst frühzeitige Interventionsbzw. Präventionsmaßnahmen. Während jedoch die Forschung zum Lesen- und Schreibenlernen in den letzten 25 Jahren ein immenses Forschungsvolumen auf sich vereint und dementsprechend große Fortschritte erzielen konnte, bleibt die Erforschung der mathematischen VHN, 76. Jg., S. 228 -240 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Effekte der Förderung des Teil-Ganzes- Verständnisses bei Erstklässlern mit schwachen Mathematikleistungen Marco Ennemoser Kristin Krajewski Justus-Liebig-Universität Gießen Julius-Maximilians-Universität Würzburg Zusammenfassung: Aktuelle Modellvorstellungen über die Entwicklung mathematischer Kompetenzen legen eine möglichst frühzeitige und kompetenzorientierte (vs. performanzorientierte) Förderung rechenschwacher Kinder nahe. Vor diesem Hintergrund wurde in der vorliegenden Studie die Effektivität einer Förderung des zahlbezogenen Teil-Ganzes-Verständnisses bei rechenschwachen Erstklässlern überprüft. Im Anschluss an die sechs Sitzungen umfassende Intervention hatte die Trainingsgruppe (n = 15) signifikant größere Leistungszuwächse zu verzeichnen als die Kontrollgruppe, die ein unspezifisches Training erhielt (n = 15). Die Wirksamkeit der Förderung blieb nicht spezifisch auf das Teil-Ganzes-Verständnis beschränkt, sondern schlug sich im Sinne von Transfereffekten auch in Sachaufgaben sowie im Gesamtergebnis eines standardisierten Mathematiktests nieder. Schlüsselbegriffe: Rechenschwäche, kompetenzorientierte Förderung, Evaluation, Teil-Ganzes-Verständnis, Schulleistung Effects of Training the Understanding of Part-Whole-Relationships in First Graders with Mathematical Difficulties Summary: Current model conceptions of the development of mathematical competencies suggest an early competence-oriented (vs. performance-oriented) training for children with mathematical difficulties. Against this background, the authors of this study have investigated the effectiveness of training the understanding of number related part-whole-relationships in first graders with mathematical difficulties. After a six session specific intervention, the training group (n = 15) showed significantly higher performance gains than the control group (n = 15) who got trained in an unspecific way. The effectiveness of the specific training was not restricted to the understanding of part-wholerelationships, it also showed transfer effects on the solution of word problems as well as on the total score of a standardised mathematical test. Keywords: Mathematical difficulties, development-oriented training, evaluation, part-whole-relationship, academic performance Fachbeitrag Kompetenzentwicklung und daraus ableitbarer gezielter Interventionsmaßnahmen weit hinter diesen Entwicklungen zurück. Erst in jüngster Zeit ist eine sichtbare Zunahme des Publikationsumfangs in diesem Bereich zu beobachten. Vor dem Hintergrund der bisherigen Forschungslage lassen sich drei zentrale Herausforderungen formulieren, denen in aktuellen Arbeiten zunehmend Rechnung getragen wird: (1) die Modellierung der „normalen“ Kompetenzentwicklung, (2) eine darauf aufbauende Diagnose von Basisbzw. Vorläuferkompetenzen zum Zweck der Früherkennung und schließlich c) die Entwicklung und Evaluation gezielter Interventionsmaßnahmen (vgl. Krajewski/ Schneider 2006; Krajewski in Druck). 1.1 Notwendigkeit einer theoretischen Modellierung des mathematischen Kompetenzerwerbs Die schulische Förderpraxis ist nach wie vor durch eine überwiegend performanzbzw. produktorientierte Vorgehensweise gekennzeichnet, die auf einen erhöhten Übungsumfang setzt und im Wesentlichen den Aufbau eines umfangreichen Faktenwissens zum Ziel hat (vgl. Stern 1998). Eher problematisch erscheint hierbei, dass ein auf diese Weise erworbenes Faktenwissen kaum für den Aufbau eines konzeptuell-mathematischen Verständnisses geeignet ist, sondern allenfalls für einen begrenzten Zeitraum vorhandene Probleme kompensieren bzw. verdecken kann (Stern u. a. 2004). Wesentlich zielführender erscheint aus diesem Grund eine kompetenzbzw. entwicklungsorientierte Förderung, die genau an jenen Fertigkeiten ansetzt, welche einer kompetenten - d. h. nicht per Faktenabruf auswendig erbrachten - Rechenleistung zugrunde liegen und dabei die begrenzten Gedächtnisressourcen leistungsschwacher Kinder berücksichtigt. Unabdingbare Voraussetzung hierfür sind allerdings klare Vorstellungen darüber, wie sich der Erwerb mathematischer Kompetenzen normalerweise vollzieht. Eine theoretische Modellierung der mathematischen Kompetenzentwicklung hat dabei - in Analogie zu Modellen des Schriftspracherwerbs - dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Entwicklung mathematikspezifischer Vorläuferfertigkeiten bereits lange vor dem Schuleintritt beginnt und dass die diesbezügliche „Grundausstattung“, die die Kinder einer Jahrgangsstufe in die Schule mitbringen, über einen sehr weiten Bereich streut (Rinkens/ Hönisch 1997; Schipper 1998; Schmidt 1982; Schulz 1995). Die theoriegeleitete, d. h. auf einem entsprechenden Entwicklungsmodell beruhende Förderung relevanter Vorläuferfertigkeiten bzw. Basiskompetenzen (entwicklungsorientierte Intervention) sollte sich für frühe Interventionsmaßnahmen bei Rechenstörungen als wesentlich effektiver erweisen als die genannten performanzorientierten Ansätze. 1.2 Entwicklungsmodell mathematischer Kompetenzen Im Sinne der oben formulierten Anforderungen bietet sich als Grundlage für gezielte Fördermaßnahmen das auf der Theorie von Resnick (1989) basierende und daraus weiterentwickelte Modell von Krajewski an (in Druck; vgl. auch Krajewski/ Schneider 2006). Das in Abbildung 1 dargestellte Modell postuliert drei Ebenen, die im Entwicklungsverlauf durch den Erwerb numerischer Basisfertigkeiten (Ebene I), des Anzahlkonzepts (Ebene II) und des Verständnisses für Anzahlrelationen gekennzeichnet (Ebene III) sind. Ebene I: Entwicklung numerischer Basisfertigkeiten Auf Ebene I ist zunächst die Fähigkeit zur Unterscheidung von Mengen verortet, die in Grundzügen bereits von Geburt an vorhanden ist (Antell/ Keating 1983). Entgegen früheren Annahmen sind Säuglinge jedoch keinesfalls in der Lage, zwischen diskreten Anzahlen zu unterscheiden. Vielmehr stützen sie sich beim Vergleich zweier Mengen noch überwiegend auf deren räumliche Ausdehnung (Fläche, Umfang) Erstklässler mit schwachen Mathematikleistungen 229 VHN 3/ 2007 Marco Ennemoser, Kristin Krajewski 230 VHN 3/ 2007 (Clearfield/ Mix 1999; Simon u. a. 1995). Ein Grund dafür, weshalb sich die Annahme eines angeborenen „Zahlensinns“ in der Literatur vergleichsweise lange halten konnte, ist darin zu sehen, dass die Anzahl der Elemente üblicherweise mit ihrer Gesamtfläche korrespondiert (also z. B. zwei Punkte auch flächenmäßig „weniger“ sind als drei Punkte). Dieser Umstand führt dazu, dass Säuglinge in den meisten Versuchsanordnungen trotz einer falschen Entscheidungsgrundlage (räumliche Ausdehnung) zu einer richtigen Reaktion gelangen. Ein von der Mengenunterscheidung unabhängiger Aspekt numerischer Basisfertigkeiten Abb. 1: Entwicklungsmodell früher mathematischer Kompetenzen (aus Krajewski, in Druck) Mengenunterschiede Mengenrelationen Teil-Ganzes, Zu-Abnahme wenig zwei drei eins zwanzig acht hundert tausend fünf • vier • drei • zwei • eins • • • • • • vier • drei • zwei • eins • drei • zwei • eins • zwei • eins • eins • viel a) unpräzises Anzahlkonzept sehr viel Zählprozedur Zählprozedur b) präzises Anzahlkonzept Zahlen als Anzahlen Mengenrelationen als Anzahlen Zusammensetzung und Zerlegung von (An-)Zahlen Differenzen zwischen (An-)Zahlen } } 3 „drei“ 5 „fünf“ 2 „zwei“ • • • • • • • • • • 5 „fünf“ 3 „drei“ 2 „zwei“ Ebene I: Basisfertigkeiten Ebene II: Anzahlkonzept Ebene III: Anzahlrelationen ist der ab dem Alter von etwa zwei Jahren einsetzende Erwerb der Zählprozedur. Obwohl hier mit den Zahlworten bereits präzise numerische Begriffe erworben werden, setzen die Kinder diese noch nicht zur Beschreibung bzw. Quantifizierung von Mengen ein. Stattdessen müssen sie zunächst lernen, die in diesem Entwicklungsstadium übliche Wahrnehmung der Zahlenfolge als „undifferenziertes Wortganzes“ (Fuson 1988) zu überwinden und Zahlen als einzelne Wörter zu erkennen. Zahlwörter und Mengen sind hier noch vollkommen isoliert voneinander. Ebene II: Erwerb des Anzahlkonzepts Unterstützt durch Aktivitäten wie das häufige Abzählen von Gegenständen beginnen Kinder ab dem Alter von etwa drei Jahren zu begreifen, dass Zahlworte Mengen repräsentieren und dass umgekehrt Mengen mit Hilfe von Zahlwörtern beschrieben bzw. quantifiziert werden können (Zahlen als Anzahlen). Der zentrale Entwicklungsschritt auf Kompetenzebene II ist somit in der Verknüpfung zwischen Zahlen und Mengen zu sehen. Diese Verknüpfung erfolgt in einer ersten Phase (Ebene II a) noch sehr vage anhand grober verbaler Kategorien (unpräzises Anzahlkonzept; z. B. zwei, drei oder fünf ist „wenig“, 100 oder 1000 ist „sehr viel“). Ein Mächtigkeitsvergleich benachbarter Zahlen gelingt auf dieser Stufe noch nicht, da beide Zahlwörter in der Regel mit dem gleichen absoluten Mengenbegriff - und nur mit diesem Mengenbegriff - assoziiert werden (z. B. 21 und 22 sind „viel“). In einer zweiten Phase (Ebene II b) weicht diese unpräzise Koppelung schließlich einer exakten und differenzierten Zuordnung von Zahlwörtern zu korrespondierenden Anzahlen (präzises Anzahlkonzept bzw. Kardinalverständnis). Nun können Anzahlen in eine exakte Reihenfolge gebracht werden (Anzahlseriation), und auch ein Vergleich unmittelbar aufeinander folgender Zahlen ist problemlos möglich (z. B. 22 sind mehr als 21). Parallel zu dieser Entwicklung - und vorerst ohne expliziten Bezug zu Zahlen bzw. dem Anzahlkonzept - lernen Kinder Relationen zwischen Mengen zu verstehen. Ein erster Schritt auf diesem Weg ist die Erkenntnis, dass sich Mengen keinesfalls durch die Manipulation der räumlichen Ausdehnung verändern lassen (Zahlinvarianz; vgl. Piaget/ Szeminska 1975), sondern ausschließlich dadurch, dass man etwas hinzufügt oder wegnimmt (vgl. Resnick 1989: protoquantitatives Zu-Abnahme-Schema). Darüber hinaus begreifen Kinder im Alter von etwa vier bis fünf Jahren, dass Mengen in kleinere Teile zerlegt werden können („viele“ Dinge lassen sich in „einige“ und „einige“ zerlegen), und dass das Zusammenfügen dieser Teilmengen wieder zur ursprünglichen Gesamtmenge führt (vgl. Resnick: protoquantitatives Teil- Ganzes-Schema). Obwohl dieses mengenbezogene Verständnis des Teil-Ganzes-Schemas noch ohne konkreten Zahlbezug erworben wird, kommt ihm für die Entwicklung von Rechenfertigkeiten eine wichtige Bedeutung zu. Denn die zugrunde liegenden Einsichten bringen zugleich eine gewisse Sensibilisierung dafür mit sich, dass man mit Mengen systematisch operieren kann. Ebene III: Verständnis für Anzahlrelationen Ebene III ist im Wesentlichen durch die Verknüpfung jener Teilkompetenzen charakterisiert, die sich auf Ebene II noch relativ unabhängig voneinander entwickelt haben (Verständnis für Mengenrelationen und Erwerb des Anzahlkonzepts). So kann nun das Teil-Ganzes- Verständnis für Mengen auch auf Anzahlen übertragen werden (z. B. neun Elemente lassen sich in fünf und vier Elemente zerlegen). Dieser Übergang zum Teil-Ganzes-Verständnis mit Zahlbezug ermöglicht erste intuitive Rechenoperationen an einer Grundmenge und stellt somit einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur arithmetischen Kompetenz dar. Neben dem Verständnis, dass eine Menge in verschiedene Erstklässler mit schwachen Mathematikleistungen 231 VHN 3/ 2007 Anzahlen zerlegt und daraus wieder zusammengesetzt werden kann, reift zudem die Erkenntnis, dass Zahlen auch dazu geeignet sind, Beziehungen zwischen zwei Mengen zu modellieren bzw. zu quantifizieren (vgl. Stern 1998). So sind die Kinder nun in der Lage zu erkennen, dass sich zwei Anzahlen durch eine dritte Anzahl unterscheiden (Anzahldifferenz; z. B. fünf Elemente sind zwei mehr als drei Elemente). Erst vor diesem Hintergrund werden erste Rechenoperationen wie das Zusammenzählen der Elemente zweier Mengen oder das Hoch- und Herunterzählen eines Summanden in ihrem mathematischen Sinn verstanden (vgl. Shrager/ Siegler 1998, Fuson 1988). Während die auf den Ebenen I und II verorteten Mengen-Zahlen-Kompetenzen (numerische Basisfertigkeiten, Verständnis für Mengenrelationen, Anzahlkonzept) als mathematische Vorläuferfertigkeiten bzw. Basiskompetenzen zu bezeichnen sind, kennzeichnet Ebene III bereits den Übergang zu einem arithmetischen Verständnis der Zahlen. 1.3 Die Bedeutung früher Mengen- Zahlen-Kompetenzen für die Vorhersage späterer Mathematikleistungen Aus der Literatur lässt sich eine breite Basis empirischer Evidenz für die Bedeutung der im Entwicklungsmodell beschriebenen Kompetenzbereiche ableiten (z. B. Aunola u. a. 2004; Gersten u. a. 2005; Krajewski 2003; Weißhaupt u. a. 2006). In Untersuchungen mit rechenschwachen Schülern bzw. Dyskalkulikern konnte vielfach belegt werden, dass deren Mengen- Zahlen-Kompetenzen bis in den Sekundarstufenbereich hinein nachweisbar defizitär sind (Gaupp u. a. 2004; Geary u. a. 2000; Landerl u. a. 2004). Beispielsweise demonstrierten in einer Untersuchung von Moser Opitz (2007) selbst rechenschwache Fünft- und Achtklässler noch große Schwierigkeiten bei Operationen, die auf dem Verständnis für Anzahldifferenzen und dem Teil-Ganzes-Verständnis basieren (Ergänzen sowie Verdoppeln und Halbieren). Besonders aussagekräftig sind in diesem Zusammenhang die Befunde von Langzeitstudien, weil sie die prognostische Bedeutung früh vorhandener Mengen-Zahlen-Kompetenzen für die nachfolgende Entwicklung näher beleuchten können. So ist es im Rahmen einer groß angelegten Würzburger Langzeitstudie gelungen, die Vorhersagekraft der genannten Basiskompetenzen im letzten Kindergartenjahr für die vier Jahre später erfassten Mathematikleistungen zu belegen (Krajewski/ Schneider 2006). Die Varianzaufklärung war ungeachtet der Kontrolle weiterer relevanter Merkmale (Intelligenz, Arbeitsgedächtnis, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, soziale Schicht) substanziell und blieb in dieser Größenordnung über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg, d. h. bis zum Ende der Grundschulzeit, erhalten. Demnach erlauben die im Vorschulalter vorhandenen Mengen-Zahlen-Kompetenzen bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Prognose der zukünftigen Leistungsentwicklung im Bereich Mathematik. Ähnlich wie bei den eingangs erwähnten Querschnittstudien werden auch hier die Befunde zur „allgemeinen“ Vorhersage von Mathematikleistungen durch die gesonderte Betrachtung rechenschwacher Kinder ergänzt und erhärtet. So wurde im Rahmen einer finnischen Langzeitstudie bestätigt, dass schwache Rechner bereits vor Schuleintritt Defizite in den numerischen Basisfertigkeiten aufweisen und dass diese Schwächen in den Folgejahren immer größer werdende Leistungsrückstände in Mathematik nach sich ziehen (Schereneffekt; vgl. Aunola u. a. 2004). Und Krajewski (2003) konnte belegen, dass sich Grundschüler mit einer Rechenschwäche relativ zuverlässig bereits vor dem Schuleintritt durch die Erfassung relevanter Vorläuferfertigkeiten identifizieren lassen. Die Früherkennung potenziell von Rechenschwäche bedrohter Kinder erreichte dabei eine bessere Klassifikationsgüte als etablierte Verfahren zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC; Jansen u. a. 1999). Marco Ennemoser, Kristin Krajewski 232 VHN 3/ 2007 1.4 Förderung mathematischer Kompetenzen Aufbauend auf den oben beschriebenen Arbeiten wurde inzwischen von Krajewski u. a. ein Förderansatz für den Vorschulbereich entwickelt („Mengen, zählen, Zahlen“[MZZ]; Krajewski/ Nieding/ Schneider, in Druck). Das Programm umfasst insgesamt 24 halbstündige Sitzungen und erstreckt sich bei drei Terminen pro Woche über einen Zeitraum von acht Wochen. Die Befunde erster Evaluationsstudien (Krajewski u. a., eingereicht) sind ermutigend und belegen kurz- und langfristige Effekte des Programms, das heißt eine signifikante Überlegenheit im Vergleich mit einem mathematikspezifischen Kontrolltraining (Friedrich/ de Galgózy 2004) sowie einem allgemeinen kognitiven Training (Klauer 1989). Bei der Förderung mit „Mengen, zählen, Zahlen“ werden unter anderem folgende grundlegende Anforderungen berücksichtigt, die sich für ein Förderprogramm im Bereich Mathematik ableiten lassen: A Eine dezidiert inhaltsspezifische, d. h. auf mathematische Inhalte fokussierende Förderung In der Literatur lassen sich zahlreiche Förderansätze finden, die auf verschiedenste Inhalte abzielen und mit bestenfalls fragwürdiger theoretischer bzw. empirischer Grundlage positive Wirkungen auf mathematische Fähigkeiten postulieren. Allerdings hat bereits die Forschung im Bereich der Schriftsprachförderung konsistent gezeigt, dass Fördermaßnahmen vor allem dann wirksam sind, wenn sie spezifisch auf die jeweilige Kompetenzdomäne zugeschnitten sind (Schneider 1997). Demnach sollten Interventionen hier auf die Vermittlung grundlegender mathematischer Einsichten abzielen und sich direkt mit mathematischen Inhalten auseinandersetzen (vgl. Moser Opitz/ Schmassmann 2003; von Aster 2003). B Kompetenzorientierte Förderung Eine kompetenzbzw. entwicklungsorientierte Förderung impliziert den systematischen Aufbau relevanter Basiskompetenzen im Sinne des oben dargestellten Entwicklungsmodells. Hiervon klar abzugrenzen ist die weit verbreitete schulische Förderpraxis, die eher performanzorientiert vorgeht und lediglich auf die Produktion korrekter Lösungen fokussiert (Aufbau abrufbaren Faktenwissens; vgl. Stern 1998), während der systematische Aufbau eines konzeptuellen mathematischen Verständnisses kaum explizite Berücksichtigung findet. C Einbezug strukturorientierter Darstellungsmittel und Verbalisierung mit Hilfe einer „mathematischen“ Sprache In zahlreichen Studien konnte bestätigt werden, dass rechenschwache Schüler üblicherweise mit schwächeren Arbeitsgedächtnisleistungen ausgestattet sind (z. B. Geary u. a. 1991; Geary u. a. 2004; Gersten u. a. 2005; Swanson/ Beebe- Frankenberger 2004). Für die Konzeption von Fördermaßnahmen lässt sich daraus ableiten, dass die verwendeten didaktischen Hilfsmittel so gewählt werden müssen, dass sie die Anforderung an Gedächtnisressourcen minimieren. Aus diesem Grunde erscheint der Einbezug abstrakt-symbolischer Darstellungsmittel, die den abstrakten Zahlenraum „sichtbar“ machen und mathematische Grundideen besonders klar herausstellen, unabdingbar (vgl. Lorenz 2003; Scherer 1999; Wittmann/ Müller 2001). Didaktische Hilfsmittel sind dann als strukturfördernd zu betrachten, wenn sie quasi kontextbereinigt das mathematische „Skelett“ konkreter Handlungen wiedergeben (vgl. Aebli 1976) und damit die abstrakte numerische Struktur der jeweiligen Situation abbilden. Mit Hilfe solcher Darstellungsmittel (z. B. Mehrsystemblöcke, Zwanzigerfeld; Zahlentreppe aus dem MZZ, Krajewski u. a. in Druck) ist es möglich, den mathematischen Inhalt einer Handlung zu erkennen und Rechenoperationen konkret darzustellen. Die Anreicherung numerischer Situationen Erstklässler mit schwachen Mathematikleistungen 233 VHN 3/ 2007 mit einem alltagsnahen oder narrativen Kontext ist in diesem Zusammenhang zu vermeiden und kontraproduktiv, da sie die Gedächtniskapazität der Kinder zusätzlich belastet und dadurch die Sicht für die zugrunde liegenden mathematischen Inhalte verstellt (Hasemann/ Stern 2002). Vielmehr sollte eine Sprache verwendet werden, die mathematische Handlungen verbalisiert und das Numerische am Darstellungsmittel noch deutlicher herausstellt, sodass die Kinder es klar erkennen und selbst verbal beschreiben können (z.B. „große Anzahlen lassen sich in kleine Anzahlen aufteilen … fünf lassen sich in zwei und drei aufteilen“). Erst durch diese Verbalisierung kann Kindern die abstrakte Zahlstruktur auch bewusst gemacht werden. 2 Ziele und Fragestellungen der Evaluationsstudie Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Evaluation einer kompetenzorientierten Fördermaßnahme im Bereich Mathematik, die kurzfristig angelegt und im schulischen Kontext bei rechenschwachen Erstklässlern effektiv einsetzbar ist. 2.1 Frühe Intervention in der ersten Klasse (Sekundärprävention) Die bisherigen Ausführungen legen nahe, dass die im Entwicklungsmodell von Krajewski explizierten Basiskompetenzen eine wesentliche Grundlage für den erfolgreichen Erwerb elaborierter Rechenfertigkeiten in der Grundschule bilden. Sie zeigen darüber hinaus, dass sich Probleme in diesem Bereich bereits sehr früh stabilisieren und über viele Jahre hinweg nachweislich bestehen bleiben. Daraus lässt sich die Forderung nach einer möglichst frühen Intervention ableiten, der durch die Entwicklung vorschulischer Präventionsprogramme Rechnung getragen wird. Ungeachtet der ermutigenden Befunde erster Evaluationsstudien im Kindergartenalter liegt jedoch die zentrale Verantwortung für die Vermittlung und Förderung mathematischer Kompetenzen nach wie vor bei der Schule, wo Probleme in Mathematik auch erstmals offensichtlich zutage treten. Aus diesem Grunde ist es geboten, die Wirksamkeit kompetenzorientierter Förderansätze speziell bei leistungsschwachen Rechnern im ersten Schuljahr zu erproben. Die Annahme, dass im Kindergartenbereich bewährte Fördermaßnahmen ihre Wirksamkeit auch hier entfalten können, erscheint zwar nahe liegend, sie ist jedoch keinesfalls trivial. Denn im Gegensatz zu Kindergartenkindern haben rechenschwache Grundschüler bereits Mathematikunterricht erhalten und von diesem offensichtlich nur wenig profitieren können. Es ist durchaus denkbar, dass sich in einer solchen „Risikogruppe“ auch andere Förderansätze im Bereich Mathematik als wenig fruchtbar erweisen. 2.2 Entwicklungsorientierte Auswahl der Förderinhalte Grundlegend relevante Förderinhalte ergeben sich aus dem oben beschriebenen Modell der mathematischen Kompetenzentwicklung. Da die vorliegende Studie auf die Evaluation einer kurzfristigen Maßnahme abzielte, erschien eine umfassende und aufbauende Förderung (z. B. mit dem Förderprogramm „MZZ“) kaum realisierbar. Zudem hat sich bei kurzfristigen Interventionen die Konzentration auf einzelne Strategien bzw. Aufgabenformate gegenüber mehreren variierenden Aufgabentypen bewährt (Stern 1992). Vor diesem Hintergrund erschien es sinnvoll, aus vorliegenden Interventionsansätzen einen inhaltlichen Förderschwerpunkt herauszugreifen, der für die Entwicklung arithmetischer Kompetenzen eine gewisse Schlüsselfunktion einnimmt. Aus dem Entwicklungsmodell von Krajewski lässt sich ableiten, dass der Übergang zum zahlbezogenen Teil-Ganzes- Schema einen zentralen Entwicklungsschritt beim Erwerb eines konzeptuell-mathematischen Verständnisses darstellt. Somit sollte dieser Entwicklungsschritt für das geplante Fördervorhaben als besonders erfolgsträchtig gelten. Im Marco Ennemoser, Kristin Krajewski 234 VHN 3/ 2007 Hinblick auf den erwarteten Erkenntnisgewinn hatte diese Vorgehensweise gegenüber einer breiter angelegten Förderung zugleich einen weiteren Vorteil. Denn sie ermöglichte es, die Effekte einer Förderung im gewählten Inhaltsbereich (hier Teil-Ganzes-Verständnis) isoliert zu überprüfen, weil sie nicht mit anderen Förderinhalten in einem größeren „Gesamtpaket“ konfundiert sein würde (vgl. Ennemoser 2006). Somit konnte auf dem Wege der Wirksamkeitsevaluation zugleich die im Kontext des Entwicklungsmodells von Krajewski postulierte Bedeutung des zahlbezogenen Teil-Ganzes-Verständnisses überprüft werden. 3 Methode 3.1 Stichprobe und Versuchsdesign Die Ausgangsstichprobe bestand aus 128 Erstklässlern dreier hessischer Grundschulen. Zwei Monate vor Ende des ersten Schuljahres wurden mit Hilfe eines standardisierten Mathematiktests jene Kinder ausgewählt, die einen Prozentrang ≤ 25 erzielten. Daraus resultierte eine verbleibende Stichprobe von 30 „rechenschwachen“ Erstklässlern, die auf zwei Versuchsbedingungen verteilt wurden. Die Trainingsgruppe (n = 15) erhielt ein Programm zur Förderung des Teil-Ganzes-Verständnisses, während die Kontrollkinder (n = 15) zunächst mit einem Lesetraining arbeiteten 1 (Lesen mit der Hexe Susi; Forster/ Martschinke 2005). Beide Gruppen setzten sich jeweils aus neun Mädchen und sechs Jungen zusammen. Die Fördermaßnahmen erstreckten sich über einen Zeitraum von drei Wochen und umfassten insgesamt sechs Schulstunden. Nach Abschluss des Trainings wurden die Mathematikleistungen der geförderten Kinder erneut erhoben (Nachtesterhebung, Juni 2006). 3.2 Verwendete Verfahren Zur Auslese der rechenschwachen Schüler und zur Bestimmung der Trainingseffekte kam sowohl im Vorals auch im Nachtest der DEMAT 1+ zum Einsatz (Krajewski u. a. 2002). Das Verfahren differenziert gut im unteren Leistungsbereich und ist somit besonders für die Identifikation leistungsschwächerer Schüler geeignet. Mit Hilfe der neun Subtests Mengen- Zahlen, Zahlenraum, Addition und Subtraktion, Zahlenzerlegung - Zahlenergänzung, Teil-Ganzes, Kettenaufgaben, Ungleichungen und Sachaufgaben kann eine große Bandbreite mathematischer Leistungen differenziert erfasst werden. Ergänzend wurde mit der Würzburger Leise Leseprobe (WLLP; Küspert/ Schneider 1998) ein Maß zur Erfassung basaler Lesefertigkeiten herangezogen, um überprüfen zu können, inwiefern sich das Training tatsächlich spezifisch auf den Bereich mathematischer Kompetenzen auswirkt (diskriminante Trainingsvalidität). Im Rahmen der Testbearbeitung haben die Kinder die Aufgabe, innerhalb von fünf Minuten so viele Wörter wie möglich zu lesen und dabei aus jeweils vier Auswahlmöglichkeiten die zugehörigen Bilder anzukreuzen. 3.3 Förderung Die Intervention zielte auf eine Förderung des zahlbezogenen Teil-Ganzes-Verständnisses ab, das im Entwicklungsmodell von Krajewski auf Kompetenzebene III verortet ist und vermutlich eine wichtige Rolle beim Erwerb elaborierter Rechenfertigkeiten einnimmt. Die Fördermaßnahme umfasste sechs Sitzungen à 45 Minuten und erstreckte sich über einen Zeitraum von insgesamt drei Wochen. Für die Förderkinder wurden von schulischer Seite zwei Fördertermine pro Woche in den Stundenplan integriert. Die Durchführung erfolgte durch geschulte Mitarbeiter in Kleingruppen (jeweils fünf Kinder). Schwerpunkt aller Sitzungen war es, den Kindern den abstrakten Aufbau der Zahlen bis zehn, insbesondere die Erkenntnis, dass sich größere (An-)Zahlen aus kleineren (An-)Zahlen zusammensetzen lassen, verständlich zu machen. Gemäß den postulierten Anforderungen an Förderprogramme im Be- Erstklässler mit schwachen Mathematikleistungen 235 VHN 3/ 2007 Marco Ennemoser, Kristin Krajewski 236 VHN 3/ 2007 reich mathematischer Kompetenzen wurde hierfür auf geeignete abstrakt-symbolische Darstellungsmittel zurückgegriffen (z. B. farbige Holzwürfel, Zwanzigerfeld; Zahlentreppe aus MZZ, Krajewski u. a. in Druck) und auf eine entsprechende Verbalisierung geachtet (z. B. „Sechs Dinge sind genauso viel wie vier Dinge und zwei Dinge zusammen … Sechs ist genauso groß wie vier und zwei zusammen.“). 4 Ergebnisse Die Ergebnisse der beiden Versuchsgruppen in den durchgeführten Leistungstests sind in Tabelle 1 wiedergegeben. Im Hinblick auf die Gesamtleistung im DEMAT 1 + ergab die varianzanalytische Auswertung zunächst einen signifikanten Haupteffekt der Messwiederholung (F = F [1,28] = 41.6; p < .01). Demnach konnten im Verlauf des Untersuchungszeitraums signifikante Leistungszuwächse in Mathematik erzielt werden. Darüber hinaus bestätigte sich ein signifikanter Effekt der Versuchsbedingung (F = F [1,28] = 5.52; p < .05), der jedoch hypothesenkonform durch eine signifikante Wechselwirkung moderiert wurde (F = F [1,28] = 5.67; p < .05). Die Illustration dieses Interaktionseffekts in Abbildung 2 zeigt, dass die Experimentalgruppe im Verlauf der Förderung einen signifikant größeren Leistungszuwachs in Mathematik zu verzeichnen hatte als die Kontrollgruppe. Die um Vortestunterschiede korrigierte Effektstärke lag bei d = 0.58 und bewegte sich somit im mittleren Bereich. Differenziertere Analysen auf Subtestebene ergaben, dass der beschriebene Trainingseffekt vor allem auf eine größere Leistungssteigerung Matheförderung Leseförderung Interaktion Effektstärke M S M S Gruppe x Zeit Summe Demat Vortest 16.9 (4.91) 14.3 (5.88) F(1,28) = 5.6; p < .05 0.58 Nachtest 24.4 (5.78) 17.8 (6.68) (mittel) Teil-Ganzes Vortest 1.13 (1.46) 0.93 (1.22) F(1,28) = 6.8; p < .05 0.79 Nachtest 2.13 (1.55) 0.87 (1.13) (mittel) Sachaufgaben Vortest 1.13 (1.13) 1.60 (1.40) F(1,28) = 4.5; p < .05 0.85 Nachtest 3.20 (1.01) 2.60 (1.50) (groß) Lesekompetenz Vortest 22.07 (14.35) 22.20 (14.50) F(1,28) = 0.1; p = .78 - Nachtest 23.07 (17.38) 19.90 (15.14) Tab. 1: Ergebnisse der Varianzanalyse mit Messwiederholung zur Bestimmung der Trainingseffekte Abb. 2: Vergleich der Leistungszuwächse im Gesamtwert des Demat 1+ in den beiden Versuchsgruppen mit Matheförderung (Teil-Ganzes-Verständnis) vs. Leseförderung 30 24 20 15 10 5 0 Vortest Nachtest Matheförderung Leseförderung im Bereich des Teil-Ganzes-Verständnisses sowie in den Sachaufgaben zurückzuführen war (Abb. 3 und 4). Die für den Gesamttest ermittelte Wechselwirkung konnte in den entsprechenden Subtests repliziert werden (F [1,28] = 6.84; p < .05 bzw. F [1,28] = 4.51; p < .05). Die Effektstärken betrugen d = .78 bzw. d = .81 und deuten somit auf mittlere bis große Effekte hin. In den übrigen Subtests ergaben sich nur tendenziell größere Zuwächse für die Experimentalgruppe. Der Transfer der Fördereffekte auf Sachbzw. Textaufgaben ist insofern nahe liegend, als die Aufgaben im Rahmen des Trainings überwiegend verbal vorgegeben wurden. Dennoch ist festzuhalten, dass es sich bei den DEMAT- Sachaufgaben inhaltlich um Arithmetikaufgaben handelt, die über das Teil-Ganzes-Verständnis hinausgehen und die sich zudem auf einen erweiterten Zahlenraum beziehen (bis 20; im Rahmen des Trainings lediglich bis zehn). Im Hinblick auf die diskriminante Trainingsvalidität konnte schließlich auch bestätigt werden, dass die Fördereffekte spezifisch auf den Bereich mathematischer Kompetenzen beschränkt bleiben. In der Lesekompetenz ergaben sich keinerlei signifikante Leistungszuwächse im Untersuchungszeitraum (F [1,28] = 0.13; p = .73). Darüber hinaus erwiesen sich auch der Haupteffekt der Trainingsbedingung sowie die Wechselwirkung als statistisch unbedeutsam (F = F[1,28] = 0.08; p = .77. bzw. F = F[1,28] = 0.78; p = .39). Demnach konnte die Kontrollgruppe trotz der absolvierten Leseförderung keine größeren Fortschritte im Bereich basaler Lesefertigkeiten erzielen. 5 Diskussion Die Ergebnisse sprechen insgesamt dafür, dass die Förderung des zahlbezogenen Teil-Ganzes- Verständnisses bei rechenschwachen Erstklässlern eine effiziente Maßnahme zur Förderung der Mathematikleistung darstellt. Die Wirksamkeit blieb nicht spezifisch auf den Bereich des Teil-Ganzes-Verständnisses beschränkt, sondern es ergaben sich darüber hinaus auch Transfereffekte auf die Leistung in den Sachaufgaben des DEMAT 1+, deren arithmetische Anforderungen über das bloße Verständnis des Teil- Ganzes-Schemas hinausgehen. Die Effektivität der Förderung schlug sich auch im Gesamtergebnis des DEMAT 1+ nieder. Dabei konnten mittlere bis starke Effekte beobachtet werden, die belegen, dass die bewirkten Veränderungen sich auch in einer Größenordnung bewegen, die durchaus praktisch bedeutsam ist. Dies ist insbesondere in Anbetracht der relativ kurzen In- Erstklässler mit schwachen Mathematikleistungen 237 VHN 3/ 2007 Abb. 3: Vergleich der Leistungszuwächse im Subtest Teil-Ganzes-Verständnis in den beiden Versuchsgruppen mit Matheförderung (Teil-Ganzes-Verständnis) vs. Leseförderung Abb. 4: Vergleich der Leistungszuwächse im Subtest Sachaufgaben in den beiden Versuchsgruppen mit Matheförderung (Teil-Ganzes-Verständnis) vs. Leseförderung 2,5 2 1,5 1 0,5 0 Vortest Nachtest Matheförderung Leseförderung 3,5 3 2,5 2 1,5 1 0,5 0 Vortest Nachtest Matheförderung Leseförderung terventionsdauer beachtlich. Durch den Einbezug eines nicht mathematikspezifischen Kontrolltrainings, das keinerlei vergleichbare Effekte erzielte, konnte schließlich sichergestellt werden, dass die beobachteten Leistungssteigerungen nicht lediglich eine Folge von unspezifischen Zuwendungseffekten sind. Insgesamt betrachtet liefern die Befunde Evidenz für die Wirksamkeit von Maßnahmen, die sich explizit an der Kompetenzentwicklung orientieren. Sie sprechen somit auch für die Bedeutsamkeit und - zumindest in den betreffenden Teilen - für die Gültigkeit aktueller Entwicklungsmodelle. Für die sonderpädagogische Praxis erwächst hieraus die Forderung, im Rahmen spezifischer Interventionsmaßnahmen nicht primär auf die Produktion richtiger Lösungen abzuzielen, sondern den Fokus vielmehr auf die Vermittlung jener Basiskompetenzen zu legen, die für eine elaborierte, d. h. nicht lediglich auswendig abgerufene Lösung notwendig sind. Um welche Kompetenzen es sich hierbei handelt, lässt sich schlüssig aus inzwischen verfügbaren Entwicklungsmodellen ableiten (Krajewski, in Druck; Krajewski/ Schneider 2006). Die gleiche Argumentation trifft auch auf den Bereich der Diagnostik zu, da die bisher verfügbaren Testverfahren überwiegend curricular und damit produktorientiert sind. Entsprechend geeignete Verfahren befinden sich derzeit in Vorbereitung (Ennemoser, in Vorb.). Ein Nachteil der vorliegenden Studie ist darin zu sehen, dass aufgrund der anschließenden mathematikspezifischen Förderung der Kontrollgruppe und fehlender Zusagen keine Followup-Erhebungen möglich waren. Aus diesem Grunde muss bislang offen bleiben, ob die Effekte tatsächlich über einen längeren Zeitraum hinweg Bestand haben, oder ob es sich lediglich um kurzfristige Leistungssteigerungen handelt, die nach einem gewissen „Vergessensintervall“ wieder verblassen. Auch ist im Hinblick auf den eher geringen Stichprobenumfang eine gewisse Zurückhaltung bei der Generalisierung der Befunde geboten. Um diese offenen Fragen zu beantworten, sind Studien notwendig, in denen - unter Rückgriff auf größere Stichproben - die Kompetenzentwicklung der Schüler im Anschluss an die Förderung über einen längeren Zeitraum verfolgt wird. Im weiteren Forschungsverlauf ist auch die hier vorgenommene Beschränkung auf das Teil-Ganzes-Verständnis zu berücksichtigen. So bleibt zu prüfen, inwiefern die Wirksamkeit des Trainings durch die Kombination mit anderen Förderinhalten gesteigert werden kann. Darüber hinaus kann schließlich auch noch nicht beantwortet werden, ob das hier gewählte Vorgehen auch bei rechenschwachen Schülern der höheren Grundschulklassen noch zu ähnlichen Erfolgen führt. Anmerkung 1 Im Anschluss an die Studie erfolgte eine mathematikspezifische Förderung. Literatur Aebli, H. 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