Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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„Kinder als Kraftquelle…“
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Ulrich Heimlich
Susanne Korbmacher
Sehr geehrte Frau Korbmacher, seit langem verfolge ich Ihre Aktivitäten im Münchener Stadtteil Hasenbergl, wo Sie ja nicht nur als Sonderschullehrerin, sondern auch mit em Verein „ghettokids e.V.“ und dem Lichttalerprojekt versuchen, Perspektiven für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Lebenssituationen zu entwickeln.
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256 256 256 München, 13. Februar 2007 Sehr geehrte Frau Korbmacher, seit langem verfolge ich Ihre Aktivitäten im Münchener Stadtteil Hasenbergl, wo Sie ja nicht nur als Sonderschullehrerin, sondern auch mit dem Verein „ghettokids e.V.“ und dem Lichttalerprojekt versuchen, Perspektiven für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Lebenssituationen zu entwickeln. Besonders mutig fand ich den Versuch, die Kinder und Jugendlichen mit ihren Fähigkeiten von der Peripherie der Stadt wieder ins Zentrum zurückzubringen. Der Auftritt in den Münchener Kammerspielen war sehr beeindruckend. Hier keimte sogar die Hoffnung auf, dass es uns irgendwann gelingen wird, die vielfältigen Segregationsprozesse in großstädtischen Lebensräumen zurückdrehen zu können. Am meisten beeindruckt hat mich allerdings, mit welcher Offenheit Sie über sich selbst in Ihrer Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen aus dem Hasenbergl berichten. Das hat mich an meine eigene Arbeit als Sonderschullehrer in einer Schule für Lernbehinderte in Gelsenkirchen erinnert, die sich ebenfalls mitten in einem Problemstadtteil befand, der durch hohe Arbeitslosigkeit und düstere Zukunftsperspektiven gekennzeichnet war. Diese Arbeit fordert die ganze Person, gerade diese Kinder registrieren mit großer Empfindsamkeit, wer es ernst mit ihnen meint und sich für sie einsetzt. Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen kennengelernt, die an den Belastungen ihrer Aufgabe verzweifelt sind oder gar resigniert haben. Häufig haben sich die Vorstellungen vom Lehrerberuf, die sie in der Lehrerausbildung entwickelt hatten, als illusionär erwiesen. Umso größer war die Enttäuschung, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht auf die bestens vorbereitete Freiarbeit oder den Gesprächskreis eingehen konnten. Sicher können Sie sich vorstellen, wie überrascht ich war, als ich Sie in dem Dokumentarfilm „Planet Hasenbergl“ an einer Stelle sagen hörte, dass die Kinder Ihre Kraftquelle sind. Wie kann das möglich sein, so habe ich mich gefragt, dass man bei all der Belastung, die der Beruf mit sich bringt, und bei all der Problematik sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher aus einer solchen Arbeit Kraft und Energie ziehen kann? Ich denke, dass sich diese Frage auch viele angehende Sonderschullehrkräfte stellen. Deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie die Zeit finden könnten für eine Antwort und dieses „Geheimnis“ lüften könnten. Ich würde Ihre Antwort auch gern mit den Studierenden in meinen Seminaren diskutieren. Gerade zu Beginn des Studiums weise ich immer gern auf Ihre Arbeit hin, um von Anfang an die Anforderungen dieser Arbeit deutlich zu machen und gleichzeitig zu zeigen, dass man sie erfolgreich bewältigen kann. Viele Grüße Ulrich Heimlich Dialog „Kinder als Kraftquelle …“ Ulrich Heimlich München Susanne Korbmacher München VHN, 76. Jg., S. 256 -259 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel München, 18. Februar 2007 Sehr geehrter Herr Prof. Heimlich, vielen Dank für Ihren freundlichen Brief. Ich weiß gar nicht, womit ich Ihr überschwängliches Lob verdient habe, denn alles, was ich bisher be-ruflich oder privat initiiert habe, ist für mich nicht nur eine professionelle Selbstverständlichkeit, sondern auch menschliche Notwendigkeit. Warum sind Sie über meine Äußerung, dass die Kinder und Jugendlichen meine „Kraftquelle“ sind, so erstaunt? Ist es wirklich verwunderlich, dass der wesentlichste Inhalt meines Berufslebens - nämlich die Kids - im Mittelpunkt meines Interesses stehen und somit nicht nur „Energienehmer“, sondern auch „Energiegeber“ sind? Sind Lehrkräfte nicht oft in der gleichen Situation wie Eltern, deren physischer und psychischer Kraftaufwand nicht selten zwar von ihren Kindern überstrapaziert wird, die jedoch alle Anstrengung sofort vergessen, wenn es den Kindern gut geht, sie lachen, wenn sie eine glückliche Kindheit haben, sich emotional, sozial und schulisch altersgemäß entwickeln? Mich zumindest kann es regelrecht glücklich machen, wenn ich die Kids erreiche, wenn meine „Maßnahmen“ greifen, wenn Unmögliches plötzlich möglich erscheint. Und besonders die anscheinend „schwierigen“ Kinder und Jugendlichen haben die Gabe, mich in einen Zustand von „Flow“ zu versetzen, denn bei ihnen sind schon kleinste Erfolge riesige Schritte in die richtige Richtung, an denen ich mehr oder weniger beteiligt bin. Seit nunmehr über 20 Jahren arbeite ich als Sonderschullehrerin am Sonderpädagogischen Förderzentrum München Nord in dem sogenannten sozialen Brennpunkt „Hasenbergl“, einem Münchner Stadtteil mit schlechtem Ruf und „ghettoähnlichen Strukturen“, wie Annette Pfeiffer in „umbrüche“, der Münchner Zeitschrift für Selbsthilfe und Eigeninitiative, 1999 schreibt. Ich habe es in der Schule, aber auch als 1. Vorsitzende in dem von mir initiierten gemeinnützigen Münchner Verein „ghettokids - Soziale Projekte e.V.“ tagtäglich mit sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu tun, die meist aus „bildungsfernen“ Familien mit teils erschreckenden Hintergrundgeschichten stammen. Diese Kids erleben sowohl innerhalb der Familie wie auch in ihrem Umfeld (z. B. auf der Straße) oft Armut, Gewalt, Suchterkrankungen, Kriminalität. Arbeitslosigkeit oder Hartz IV-Status der Erziehungsberechtigten verschlechtern oftmals die Situation noch zusätzlich. Viele Kinder und Jugendliche mit einem solchen Hintergrund weisen Entwicklungsrückstände in den Bereichen Lernen, Sprache und Verhalten auf. Emotionale, kreative und soziale Kompetenzen sind meist unterdurchschnittlich entwickelt. Zudem fehlt es nicht nur an Essen, Trinken, Kleidung und Schuhwerk, sondern auch am kostenfreien Zugang zu Bildungsressourcen. Ich schaue also ständig genau hin, nehme wahr und werde aktiv - eine wichtige Grundvoraussetzung für jeden, der mit Kindern und Jugendlichen arbeiten will. Da Lehrkräfte in der Schulrealität - früher wie heute - gleichzeitig Lehrer, Psychologe, Sozialarbeiter, Therapeut, Entertainer sein müssen, spielt es für mich kaum eine Rolle, dass eine weitere „freiwillige Qualifikation“ hinzugekommen ist: inzwischen bezeichne ich mich selbst auch als „Projektentwicklerin“. Es reizt mich immer wieder, innovative, erfolgversprechende Wege in der Sonderpädagogik zu finden, auch wenn die Umsetzung nicht selten mit einem zusätzlichen Zeit- und Kraftaufwand verbunden ist. Somit sind die Kinder schon alleine deshalb eine Kraftquelle für mich, weil sie mir die notwendigen Impulse für kreative Ideen geben, die nicht nur das Leben der Kids, sondern auch mein eigenes Lehrerdasein erheblich erleichtern. Immerhin habe ich nicht vor, meine mühsam erworbenen Erfahrungen einem Burnout-Zustand zu opfern, nur weil die finanziellen, personellen, räumlichen und organisatorischen Arbeitsbedingungen in „Kinder als Kraftquelle …“ 257 VHN 3/ 2007 keinster Weise dem notwendigen Bedarf entsprechen. Und die Kids haben mir im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine geholfen, als ich nach zwei schweren Unfällen und mehreren Operationen 1994 beinahe in der Frühpensionierung gelandet wäre. Die Kinder und Jugendlichen haben mich mit ihrem kindlichen Mitleid, ihrer Anstrengungsbereitschaft, ihrem Lachen und ihrer Zuneigung mein eigenes Leid vergessen lassen. Die preisgekrönten Projekte „Thealimuta“ (Theater-Lieder-Musik-Tanz), ein intensivpädagogisches Kreativitätsprojekt, und „Lichttaler“, ein Selbsthilfeprojekt für Kinder und Jugendliche, sind in dieser für mich persönlich sehr belastenden Phase entstanden. Und in den letzten beiden Jahren sind drei weitere, mir sehr wichtige Projekte hinzugekommen: „Bilsuma“ (Bildungsmarkt für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche in Form einer Bibliothek, Mediathek und Lerntheke in Kooperation mit dem SFZ München Nord), der „Salon“ (findet jeden Samstag in der Innenstadt Münchens statt) und das internationale Projekt „Unterschicht begegnet und unterrichtet Oberschicht“ mit Holland. Alle ghettokids-Projekte sind sozialpolitisch nicht nur ungewöhnlich, sondern auch sehr erfolgreich - und das teils seit vielen Jahren. Positive Presse-, Hörfunk- und Filmbeiträge, Preise und Auszeichnungen sind für die Kids, für alle Engagierten und auch für mich nicht nur eine öffentliche Anerkennung, sondern auch eine zusätzliche Motivation weiterzumachen. Erfolg gibt bekanntlich Kraft. Und da die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen maßgeblich an diesem Erfolg beteiligt sind, stellen sie eine Kraftquelle dar, die nicht zu unterschätzen ist. Das gesellschaftliche Prinzip „Geben und Nehmen“, das auch unserer Vereinsphilosophie entspricht, ist ein wesentliches Merkmal im Umgang mit den Kids. Auch ich als erwachsene Person kann viel von ihnen lernen, und sie geben mir die Chance, das heutige Leben besser verstehen und einordnen zu können. Und vielleicht kann ich eines Tages mit Hilfe der „ghettokids“ eine meiner größten Visionen verwirklichen: die Gründung einer „ghettokids-university“ - gerechte Bildung von unten. „Oft muss viel investiert werden, um etwas zu erreichen, aber manchmal reicht schon wenig, um etwas zu bewegen.“ (Zitat aus: Ghettokids. Immer da sein, wo’s weh tut). In diesem Sinne … und in der Hoffnung, mein „Geheimnis“ erfolgreich gelüftet zu haben Susanne Korbmacher München, 19. Februar 2007 Liebe Frau Korbmacher, danke für Ihre ausführliche Antwort und die Einblicke in Ihre Arbeit. Das „Geheimnis“ scheint mir tatsächlich zu sein, bei all den Schwierigkeiten im Leben der Kinder ihre Fähigkeiten und Stärken zu entdecken. Wenn man diesen Zugang einmal gefunden hat, dann eröffnet sich ein Riesenfeld an Möglichkeiten, wie Ihre zahlreichen Projektideen unschwer zeigen. Ihre Idee mit der Gründung einer „ghettokids-university - Gerechte Bildung von unten“ trifft möglicherweise auf ein Interesse von Seiten meiner Universität. Ich möchte gerne zusammen mit Kolleginnen und Kollegen einige Projekte starten, in denen die Studierenden begleitend zum Studium die Chance für bürgerschaftliches Engagement erhalten. Gerade eine sog. „Eliteuniversität“ tut nach meinem Verständnis gut daran, sich auch ihrer gesellschaftspolitischen Aufgabe bewusst zu stellen. Eine Zusammenarbeit mit Ihrem Verein „ghettokids e.V.“, in dem ich bis jetzt ja „nur“ zahlendes Mitglied bin, wäre für viele Studierende eine interessante Aufgabe. Besonders das Projekt „Bilsuma“, das ich bisher noch nicht kannte, dürfte sich für unsere Studierenden sehr eignen. Vielleicht schaffen wir es ja auch an dieser Stelle, gemäß der Phi- Ulrich Heimlich, Susanne Korbmacher 258 VHN 3/ 2007 losophie von „ghettokids e.V.“ zu einem „Geben und Nehmen“ zu kommen. Insofern hoffe ich, dass über eine solche Zusammenarbeit auch viele Studierende hinter das „Geheimnis“ kommen. Viele Grüße Ulrich Heimlich Susanne Korbmacher Brienner Straße 53 D-80333 München E-Mail: korbmacher@bayern-mail.de Prof. Dr. Ulrich Heimlich Ludwig-Maximilians-Universität München Department für Pädagogik und Rehabilitation Leopoldstraße 13 D-80802 München E-Mail: Ulrich.Heimlich@spedu.uni-muenchen.de „Kinder als Kraftquelle …“ 259 VHN 3/ 2007
