Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Wie aus Unterrichtsstunden Therapieeinheiten werden - Zur Therapeutisierung des pädagogischen Alltags
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Christiane Hofmann
Aufgrund von Beobachtungen und Erfahrungen in unterschiedlichen Schulsituationen thematisiert die Autorin die Gefahr einer Therapeutisierung von Unterricht. Statt für noch mehr Individualisierung und Vereinzelung steht sie ein für Schulklassen, in denen durch ein „Wir“-Gefühl eine Gruppenkultur entsteht und gemeinsame Riten und Rituale gepflegt werden. Sie plädiert dafür, auf Kategorisierungen so weit als möglich zu verzichten, da Kategorien häufig zu einer Medizinalisierung und damit zu einer Therapeutisierung der mit einer „Etikette“ versehenen Kinder führt. Die Autorin warnt vor einer Vermischung von Pädagogik und Therapie, die durch eine klare Abgrenzung der beiden Settings vermieden werden kann.
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278 Anlass für die folgenden Ausführungen sind Beobachtungen, die exemplarisch für einen Trend stehen, der (vorschnell) aus Schüler/ innen in einer Klasse Patient/ innen in einer Kleingruppe bzw. einer Einzelsituation macht: 1. Im Rahmen eines Unterrichtsbesuches in einer ‚Schule für Erziehungshilfe und Kranke‘ besteht eine 3. Klasse aus sechs Schülern, die alle an einzelnen Tischen sitzen oder sich auf einem Sofa räkeln und während des gesamten Besuchs von zwei Stunden so gut wie keinen Kontakt untereinander aufnehmen, sondern ‚individualisiert‘ bzw. ‚differenziert‘ unterrichtet und ausschließlich einzeln angesprochen werden. Begründet wird dieses Vorgehen mit ‚mangelnder Gruppenfähigkeit bei den Schülern‘. 2. Ebenfalls während eines Unterrichtsbesuchs in einer Schule für geistig Behinderte sind zunächst fünf Schüler/ innen anwesend, dazu die Klassenlehrerin, eine Erzieherin, ein Referendar, ein Praktikant und ich als Hospitantin, wobei ich nach kurzer Zeit die Klasse verlasse. Ich kann gerade noch mitbekommen, wie eine Ergotherapeutin ein Kind zur Einzelförderung mitnimmt und der Krankengymnast ein weiteres Kind Das provokative Essay VHN, 76. Jg., S. 278 -284 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Wie aus Unterrichtsstunden Therapieeinheiten werden - Zur Therapeutisierung des pädagogischen Alltags Christiane Hofmann Universität Giessen Zusammenfassung: Aufgrund von Beobachtungen und Erfahrungen in unterschiedlichen Schulsituationen thematisiert die Autorin die Gefahr einer Therapeutisierung von Unterricht. Statt für noch mehr Individualisierung und Vereinzelung steht sie ein für Schulklassen, in denen durch ein ‚Wir‘-Gefühl eine Gruppenkultur entsteht und gemeinsame Riten und Rituale gepflegt werden. Sie plädiert dafür, auf Kategorisierungen so weit als möglich zu verzichten, da Kategorien häufig zu einer Medizinalisierung und damit zu einer Therapeutisierung der mit einer „Etikette“ versehenen Kinder führt. Die Autorin warnt vor einer Vermischung von Pädagogik und Therapie, die durch eine klare Abgrenzung der beiden Settings vermieden werden kann. Schlüsselbegriffe: Unterricht, Therapie, Kategorisierung, Therapeutisierung How Classroom Lessons Turn into Therapeutic Settings - The Inflation of Therapeutic Activities in Pedagogical Everyday Life Summary: Based on her observations and experiences in different school settings, the author points out the risk of an inflation of therapeutic activities in classroom interactions. Instead of implementing individual and differentiated instruction she pleads for good class tuition with regular rites and rituals in order to generate a group-culture and a strong ’we‘-feeling. She suggests to dispense with categorisations as much as possible, because categories lead to the labelling of children and to a glut of therapies. She also warns against a blurring between education and therapy, what can be avoided by a clear demarcation between the two settings. Keywords: Classroom instruction, therapy, categorisation, inflation of therapeutic activities abholt. Es entsteht eine Betreuer/ Schülerrelation von 4 : 3. 3. Im Sonderpädagogischen Fallseminar berichtet ein Lehrer, dass er in seiner Klasse einer Schule, die einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik angeschlossen ist, einen Jungen habe, der wegen Dyskalkulie, Legasthenie und ‚allgemeinem Schulversagen‘ in stationärer psychiatrischer Behandlung sei. 4. Während einer Exkursion zu einer Rehabilitationseinrichtung mit angeschlossener ,Schule für Erziehungshilfe und Kranke‘ fragen die Studenten den Schulleiter nach dem pädagogischen Konzept. Dieser antwortet, die Schüler seien so schwierig und so wenig gruppenfähig, dass es kein einheitliches Konzept gäbe; jeder Lehrer mache es so, wie er es für richtig halte. Dies sind Situationen und Einzelfälle, die trotz zahlreicher guter Schulkonzepte dennoch zumindest in einigen bundesdeutschen Förderschulen vorkommen. Ich beobachte, dass bei manchen Förderlehrern und -lehrerinnen die Vorstellung besteht, dass sich die Schüler und Schülerinnen umso besser fühlen, je kleiner die Klasse und je individualisierter der Unterricht ist, je mehr Betreuung und je mehr Therapie eingesetzt werden. Diese Verbindung ist jedoch nicht zwangsläufig. Diese Art der Vereinzelung spricht nicht unbedingt für die Qualität einer (Förder-)Schule. Es sind aus meiner Sicht eher Versuche, die Komplexität der schulischen Situationen durch Vereinzelung und Differenzierung zu reduzieren. Dies zu behaupten ist deshalb gewagt, weil es ja durchaus als Fortschritt zu bezeichnen ist, dass sich die Schüler-Lehrer- Relation in den Förderschulen den besonderen Bedürfnissen ihrer Schüler angepasst hat. Trotzdem möchte ich dazu einige Anmerkungen machen, die sich auf die Gruppe als Ressource, die Bedeutung von Kategorisierung und Dekategorisierung, den therapeutischen Inflationismus und das Verhältnis von Pädagogik und Therapie beziehen. Es wird bei der Fokussierung auf Individualität und Differenzierung oft vergessen, dass Pädagogik bzw. Schule zunächst eigene Räume mit eigenen Ressourcen besetzt. Bei aller Notwendigkeit therapeutischer Interventionen, die hier nicht angezweifelt werden soll, werden pädagogische Ressourcen allzu bereitwillig zugunsten des vermeintlich ‚Besseren‘ - und dies ist dann eine therapeutische Intervention - aufgegeben. So geht es bei meinen kritischen Anmerkungen nicht um eine Kritik an therapeutischen Interventionen an sich, sondern um eine Kritik am Selbstverständnis pädagogischen Handelns, bei dem die pädagogischen Akteure ungefragt von sich aus, zugunsten der Therapie, eine inferiore Position einnehmen, was sich dann als Therapeutisierung innerhalb des pädagogischen Handlungsfeldes niederschlägt. Gruppe als Ressource Bei dem Unterricht mit sog. heterogenen Lerngruppen wird häufig vergessen, dass schulische Veranstaltungen überwiegend in Gruppen stattfinden und dass die Lerngruppe eine eigene wichtige Ressource darstellt (vgl. Rauh u. a. 2003, 77ff). So konnten Preuss-Lausitz und Textor z. B. in ihrer Untersuchung zur Integration verhaltensauffälliger Schüler zeigen, dass es sehr viel differenzierterer Interventionen bedarf, als einen Förderlehrer in eine Klasse zu schicken und diesen einem einzelnen verhaltensauffälligen Schüler zuzuordnen, womit dieser häufig aus der Lerngruppe der Mitschüler ausgeschlossen wird. In ihrem Beispiel war es nicht der Förderlehrer, sondern die Anwesenheit einer zweiten Lehrkraft, die die besten Resultate erbrachte. Diese sprach die Integrationsschüler nicht gesondert an; allein die Präsenz einer zweiten gleichberechtigten Lehrperson zeigte die besseren Effekte (Preuss-Lausitz/ Textor 2006, 6). Zur Heterogenität ist noch anzumerken, dass jede Lerngruppe heterogen ist; je nachdem wie engmaschig das diagnostische Raster ist, ist auch ein Mathematikleistungskurs in der gymnasialen Oberstufe eine heterogene Lerngruppe. Therapeutisierung des pädagogischen Alltags 279 VHN 4/ 2007 Die Integration bzw. Inklusion von Menschen mit und ohne Behinderungen lebt vom sozialen Lernen in der Gruppe. Obwohl dies festzustellen trivial ist, scheint es im Kontext integrativer Bemühungen mitunter vergessen zu werden. Auch die Differenzierung zwischen Integration und Inklusion ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig. Integrative Bemühungen setzen häufig auf Einzelförderung, um den Schüler integrationsfähig zu machen. Inklusion akzeptiert die Differenzen und schafft ein Setting, in dem alle in der Lerngruppe aufgenommen sind und im idealen Fall entsprechend ihren Leistungsmöglichkeiten unterrichtet werden. Jede Schulklasse ab ca. acht bis zwölf Schülern und Schülerinnen entwickelt ihre eigene Gruppenkultur mit Ritualen und Regeln. Damit diese wirksam werden kann, sollte die Lerngruppe eine Mindestgröße nicht unterschreiten. Die Wirksamkeit besteht in dem ‚Wir‘, dem Betonen von Gemeinsamkeiten, dem sich Auskennen, im Einschätzen von Reaktionen, in dem Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit und vielen anderen Gruppenphänomenen wie dem Spiegeln (Bauer 2005, 26ff), den Möglichkeiten der Identifikation und der Abgrenzung, dem Bilden von Untergruppen und Koalitionen, dem Aushandeln von Kompromissen, dem zeitweiligen Zusammenschluss auch ‚gegen‘ die Lehrerautorität, dem Bilden von Freundschaften usw. Diese Lernmöglichkeiten stehen nur zur Verfügung, wenn Kinder und Jugendliche Mitglieder einer bestimmten Lerngruppe sind, die mit einem/ r Klassenlehrer/ in versehen, einen sozialen Ort der Sicherheit und des - sozialen - Lernens bilden. Diese Ressource wird in vielen Sonderbzw. Förderschulen zu wenig wahrgenommen und so gut wie überhaupt nicht kultiviert. In der aktuellen Debatte um Schulprogramme kommt sie etwas ungelenk, dafür umso bürokratischer wieder auf die Tagesordnung: Jede Schule muss nun ein Schulprogramm entwickeln, jeder Lehramtsreferendar muss ein Modul zum Schulprofil absolvieren. Auch eine Schule ist eine Gruppe von unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Aufgaben. Je schwieriger und heterogener die Klientel (z. B. in Förderschulen), umso wichtiger ist nicht die Vereinzelung (Individualisierung, Differenzierung), sondern der Gedanke des Zusammenhalts, des ‚Wir‘. In ‚unserer Schule machen wir es so‘ oder so. Dabei ist die Tatsache, dies zu formulieren, mindestens so wichtig wie die Frage, was im Einzelnen von allen gemacht wird. Die Schulgemeinschaft, jede identitätsstiftende Maßnahme, z. B. im Sinne des ‚Bei uns machen wir eine Schulversammlung zu Beginn der Woche und zum Ende‘, fördert das Denken im Gruppenzusammenhang und schafft einen Rahmen, der Sicherheit und Verbindlichkeit garantiert, sowohl für Schüler und Schülerinnen wie auch für die dort tätigen Lehrer und Lehrerinnen. Der Versuch, dies über ‚Schulregeln‘ oder Verträge einzuführen, bleibt leer und erfolglos, wenn diese Aktivitäten nicht im Bewusstsein einer Gruppe durchgeführt werden (Rauh 2003, 87). Schulen mit einem Konzept wie z. B. die Montessori- oder Waldorfschulen sind, bei aller z. T. berechtigten Kritik an Zeitgemäßheit oder Menschenbild, unseren Schulen deshalb weit überlegen, weil in dem jeweiligen Konzept neben den inhaltlichen Schwerpunkten auch Aussagen über den Zusammenhalt als Gruppe mit entsprechenden Identifizierungsmöglichkeiten gemacht werden. Gerade in Sonderbzw. Förderschulen, in denen Kinder unterrichtet und betreut werden, denen oft ein außerschulischer verbindlicher Halt fehlt oder deren Lebensläufe viele Brüche aufweisen, können in einer Gruppe ‚gehalten‘ werden, wie es mit dem Bild des containings - des Haltgebens - formuliert wird (Rauh 2003, 86). Vor diesem Hintergrund ist es nicht beliebig und auch nicht unabhängig vom Gesamtkontext zu sehen, wann und welche Schüler die Gruppe zur Einzelförderung verlassen. Eine Schülergruppe ist nicht eine Ansammlung von Individuen, sondern steht für einen ideografischen Entwicklungsprozess, für Lerngeschichten, gemeinsame Er- Christiane Hofmann 280 VHN 4/ 2007 fahrungen und einen Ort, an dem diese gemeinsamen Erfahrungen das Lernen strukturieren. Aufgabe des Lehrers ist es, Vernetzungen, Bezüge, Differenzen und Gemeinsamkeiten immer wieder in den gemeinsamen Lern- und Entwicklungsprozess zu integrieren und damit ein kommunikatives Netz herzustellen, das Kindern - auch auf psychischer Ebene - eine innere und äußere ‚Heimat‘ bietet. (Die Verwendung des Heimatbegriffs ist insofern etwas problematisch, weil gerade in der deutschen Didaktik der Heimatkundeunterricht durch nazistische Unterlegungen und Instrumentalisierungen in Verruf geraten ist und durch den neutraleren Begriff ‚Sachkundeunterricht‘ abgelöst wurde. ,Heimat‘ im Zusammenhang mit der Schulkultur soll hier die emotionale Seite betonen und Schule zu einem Ort werden lassen, an dem Schüler und Schülerinnen sich ‚zu Hause‘ fühlen können). Die bundesdeutsche Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik hat in einer immer ‚besseren‘ Schüler-Lehrerrelation - mehr Lehrer für immer weniger Kinder - einen Fortschritt gesehen. Dies ist bildungspolitisch auch richtig, allerdings ist die rechnerische Verteilung von einzelnen Lehrern auf immer weniger Kinder nur eine Möglichkeit, das Lernen zu organisieren. Bei der Beachtung der ‚Gruppe als Ressource‘ sind Klassen mit weniger als acht bis zehn Kindern nicht mehr erwünscht, stattdessen könnten hier aber zwei Lehrer/ innen ihre Arbeit verrichten, um Gruppenaspekte aktiv zu fördern. Kategorisierung und Dekategorisierung Gerade in Förderschulen sind therapeutische Anwendungen nötig. Im Vorfeld haben sie aber eine zusätzliche Funktion, auf die ich hier eingehen möchte. In den 1960er Jahren gab es eine neue Diagnose innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik: die minimale cerebrale Dysfunktion (MCD), die sich dadurch auszeichnete, dass sie damals so gut wie nicht zu diagnostizieren war (Amft u. a. 2002, 45ff). Diese mit Fragezeichen versehene Diagnose hatte innerhalb der Schulen insofern eine Entlastungsfunktion, weil eine Verhaltensauffälligkeit mit einem medizinischen Label nicht zu verstärkter pädagogischer Anstrengung führte, sondern mehr zu einer Haltung, dass ‚man da nichts machen‘ könne, was wiederum mit der Diagnose MCD ‚erklärt‘ wurde. Allerdings wurde nichts erklärt, sondern man entlastete sich von Schülern mit schwierigen Verhaltensweisen. Der Nachfolger von MCD war das HKS - das hyperkinetische Syndrom - gefolgt von AD(H)S, das im pädagogischen Kontext die gleiche Funktion hat, nämlich eine Entlastung von genuin pädagogischen Herausforderungen durch Kategorisierungen, welche die Komplexität schwieriger pädagogischer Situationen reduzieren helfen soll. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der jeweiligen Funktion von Kategorisierungen bzw. Dekategorisierungen. Die erwähnten Diagnosen sind psychiatrische Kategorisierungen mit entsprechenden therapeutischen Indikationen (Medikamente, Therapie). Gerade die Autoren von DSM IV und ICD 10 weisen jedoch deutlich darauf hin, dass es sich bewusst um pragmatische Beschreibungen und Zuordnungen handelt, die, empirisch durch Prävalenzraten unterlegt, der Verständigung auf Symptomebene dienen sollen (ICD 10 2001, 10). Wird diese Denkweise im pädagogischen Kontext übernommen, kommt es zu den unklaren Überschneidungen und Verunsicherungen im inklusiven pädagogischen Selbstverständnis zugunsten von differenzierender und spezifischer Therapie statt Unterricht. Hinsichtlich pädagogischer Maßnahmen hört nämlich die Spezifität auf: Es gibt keinen AD(H)S-spezifischen Unterricht (Imhoff 2000, 32), so wenig wie es eine sonderpädagogische Didaktik oder eine behindertenspezifische Didaktik gibt. Es gibt Modifikationen bei Kindern mit Sinnesbeeinträchtigungen, im Bereich der Lern- und Erziehungshilfe gibt es nur guten Unterricht. Dies sind Qualitäten, die jedem Schüler gut bekommen. Der Unterschied Therapeutisierung des pädagogischen Alltags 281 VHN 4/ 2007 ist nur, dass Schüler im Bereich der Lern- und Erziehungshilfe auf diese Qualität angewiesen sind, während viele andere Schüler ‚trotz des Lehrers‘ lernen. Der gute Unterricht besteht in Struktur, Erwartbarkeit, Methodenwechseln, Ritualen, angemessenen Rückmeldungen, Resonanz und einer entwicklungsbezogenen und lernprozessorientierten Didaktik (Probst1999). Diese Dekategorisierung im pädagogischen Feld (Boban/ Hinz 2001) ist eine wichtige Voraussetzung, um Unterricht entwicklungsbezogen und lernprozessorientiert, besser: struktur-niveauorientiert zu organisieren. Andererseits darf die Dekategorisierung nicht dazu führen, dass Schüler mit besonderem Förderbedarf - häufig aus finanziellen Überlegungen - kostengünstig integriert bzw. inkludiert werden. Therapeutischer Inflationismus Kategorisierungen im Vorfeld pädagogischer Arbeit sind leider so lange notwendig, wie Ressourcen zu organisieren sind. Das ‚Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma‘ (Reiser 1997) besteht darin, dass ohne die Zuschreibungen ‚lernbehindert‘ oder ‚verhaltensgestört‘ keine besonderen Lehrerstunden zugewiesen werden. Der Wunsch nach systembezogenen und nicht fallbezogenen Zuwendungen ist in einigen Modellversuchen formuliert (Wocken/ Antor 1987), allerdings sind sie nach wie vor, wie auch andere niedrigschwellige Förderangebote, eher die Ausnahme. Durch den § 35 a im KJGH („Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, haben Anspruch auf Eingliederungshilfe …“) wurden schulleistungsbedingte Ausfälle erneut medizinalisiert und führen zu einer zusätzlichen Stigmatisierung vor allem in Bereichen, in denen guter Unterricht häufig die bessere Intervention darstellt als manche LRS- und Dyskalkulietherapien. LRS und Dyskalkulie sind nur zu einem geringen Prozentsatz Fälle für therapeutische Interventionen, deren Notwendigkeit und Nützlichkeit vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse durch die Möglichkeit bildgebender Verfahren jedoch nicht in Frage gestellt werden soll (v. Aster 2001; Fritz 2003; Klicpera et al. 2007). Aber auch bei cerebral bedingten funktionellen Verarbeitungsstörungen ist ein guter adaptiver Unterricht eine Alternative zur ‚Therapie‘, deren Inhalte sich oft überschneiden. Durch die Möglichkeiten, über den § 35 a Nachhilfeunterricht gewissermaßen auf Krankenschein zu bekommen, ‚profitieren‘ in der Regel Kinder und Eltern bildungsnäherer Schichten. Die Schüler der LH/ EH-Schulen sind hier ein weiteres Mal benachteiligt. Wenn Schulversagen, das auch immer ein ‚Versagen der Schule‘ mit einschließt, zu einer psychiatrischen Kategorie wird, die auf Krankenschein ‚behandelt werden muss‘, leistet dies einer Entwertung der pädagogischen Arbeit Vorschub und höhlt damit pädagogisches Selbstbewusstsein und pädagogische Professionalität aus. Das Ergebnis ist eine Dequalifizierung pädagogischer Arbeit zugunsten therapeutischer Interventionen. Der Kreis schließt sich, wenn Lehrer als Folge ihres beeinträchtigten pädagogischen Selbstverständnisses diejenigen sind, die ihren Schülern therapeutische Maßnahmen im Schulleistungsbereich verordnen. Zum Verhältnis von Pädagogik und Therapie Die Abgrenzung von Pädagogik und Therapie ist nicht einfach und auch nicht eindimensional zu verstehen. Guter Unterricht, gute pädagogische Intervention hat immer eine therapeutische, d. h. eine heilende Wirkung. Gute Therapie kommt ohne pädagogische Implikationen nicht aus. Deshalb gibt es in dem Verhältnis der beiden immer eine gemeinsame Schnittmenge. Trotzdem soll hier der Versuch einer verkürzten und deshalb etwas klischeehaften Trennung versucht werden. Von der funktionalen Überschneidung muss die Rolle des Pädagogen bzw. Therapeuten unterschieden Christiane Hofmann 282 VHN 4/ 2007 werden und in Verbindung damit das Setting, die beide durch bestimmte strukturelle Aspekte unterschieden werden müssen. Ein therapeutisches Setting ist im Gegensatz zur Schulpflicht freiwillig und hat individuelle Ziele und Rahmenbedingungen, während die Schule einem Lehrplan verpflichtet ist. Am wichtigsten scheint mir das Rollenverständnis zu sein, bei dem ich trotz wechselseitiger Implikationen für eine klare Abgrenzung und Aufgabenteilung plädiere, was nicht ausschließt, dass man eng kooperiert. Während in einem schulischen Setting in der Regel die Beziehung zur Realität mit ihren entsprechenden Ich-Funktionen (Redl/ Wineman 1984, 62ff) im Vordergrund steht, sind therapeutische Aufgabenstellungen je nach Therapieform in einem Kontinuum von regressionsfreundlichen bis zu stark strukturierenden, trainingsorientierten Interventionen im Sinne einer ‚Nacherziehung‘ denkbar. Auch wenn es im schulischen Kontext zu therapienahen Arrangements kommt, Übertragungen und Gegenübertragungen eine Rolle spielen, so werden sie allenfalls wahrgenommen, sie sind passager vorhanden und nicht Thema oder gar Ziel des Unterrichts. So sind m. E. Formen des therapeutischen Unterrichts (vgl. Zulliger1977; Ertle/ Neidhardt 1984) heute einem differenzierten Rollen- und Aufgabenverständnis eher tendenziell abträglich und führen zu Konfusionen in der Lehrerrolle, die bei allen Möglichkeiten des verstehenden Zugangs diese nicht explizit zum Thema des Unterrichts machen sollte. Ein Verständnis dessen, was unbewusst oder strukturell zwischen Lehrern und Lehrern, Lehrern und Schülern abläuft, schadet nie, ist aber explizit im Sinne ‚wilder Deutungen‘ gutem Unterricht abträglich. Werden Pädagogik und Therapie nicht getrennt, verwischen sich für den hier aufgezeigten Zusammenhang die Bereiche. Dies wirkt sich nicht nur auf das Setting und die Rolle des Lehrers bzw. Therapeuten aus, auch die Aufgabenstellung wird unklar und entwertet in dem beschriebenen Wertgefüge die pädagogische Arbeit als eine therapieunabhängige eigene Leistung. Dass diese nicht frei von psychodynamischen Erwägungen ist, wurde bereits in der Bedeutung der Gruppensituation für den Unterricht deutlich. Literatur Amft, H.; Gerspach, M.; Mattner, D. (2002): Kinder mit gestörter Aufmerksamkeit. Stuttgart: Kohlhammer v. Aster (2001): Zareki - Testverfahren zur Dyskalkulie. Frankfurt: Swets & Zeitlinger Bauer, J. (2005): Lob der Schule. Hamburg: Hoffmann und Campe Boban, I.; Hinz, A. (2001): Integrative Berufsvorbereitung. Weinheim: Beltz Ertle, C.; Neidhardt, W. (1994): Unterricht mit Kindern in Not. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Fritz; A. (Hrsg.) (2003): Rechenschwäche. Weinheim: Beltz Imhoff, M.; Skrodzki; M.; Urzinger, M. S. (2000): Aufmerksamkeitsgestörte, hyperaktive Kinder und Jugendliche im Unterricht. Donauwörth: Auer Klicpera, Ch.; Schabmann, A.; Gasteiger-Klicpera, B. (2007): Legasthenie. München: Reinhardt UTB Preuss-Lausitz, U.; Textor, A. (2006): Verhaltensauffällige Kinder sinnvoll integrieren - eine Alternative zur Schule für Erziehungshilfe. In: ZfH 57, 2 - 8 Probst, H. (Hrsg.) (1999): Mit Behinderungen muss gerechnet werden. Der Marburger Beitrag zur lernprozessorientierten Diagnostik, Beratung und Förderung. Oberbiel: Jarick Rauh, B. (2003): Die Gruppe - eine Ressource schulischer Bildung. In: Fröhlich, V.; Göppel, R. (Hrsg.): Was macht die Schule mit den Kindern? - Was machen die Kinder mit der Schule? Giessen: Psychosozial, 77 - 91 Redl, F.; Wineman, D. (1951/ 1984): Kinder, die hassen. München: Piper Reiser, H. (1997): Lern- und Verhaltensstörungen als gemeinsame Aufgabe von Grundschul- und Sonderpädagogik unter dem Aspekt der pädagogischen Selektion. In: ZfH 48, 266 - 275 Remschmidt, H.; Schmidt, M.; Poustka, F. (Hrsg.) (2001): ICD 10 - Multiaxiales Klassifikationsschema. Bern u. a.: Verlag Hans Huber Therapeutisierung des pädagogischen Alltags 283 VHN 4/ 2007 Schellhorn, W. (2007): SGB III, Kinder- und Jugendhilfe. München: Luchterhand Wocken, H.; Antor, G. (Hrsg.) (1987): Integrationsklassen in Hamburg. Oberbiel: Jarick Zulliger, H. (1977): Aus der Werkstatt eines Lehrers. München: Reinhardt Prof. Dr. Christiane Hofmann Justus-Liebig-Universität Giessen FB Sozial- und Kulturwissenschaften Institut für Heil- und Sonderpädagogik Karl-Glöckner-Straße 21/ B D-35394 Giessen E-Mail: Christiane.hofmann@erziehung. uni-giessen.de Christiane Hofmann 284 VHN 4/ 2007
