eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 76/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2007
764

Subjektive Theorien über Lernschwierigkeiten: Zur Innensicht des erschwerten Lernens

101
2007
Marius Metzger
Das Ziel der Studie war es, subjektive Theorien über Lernschwierigkeiten zu erforschen, um so ein besseres Verständnis des subjektiven Standpunkts zu erlangen. Die subjektiven Theorien wurden mit der dialog-hermeneutischen Methode im Rahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien (Groeben u. a. 1988) rekonstruiert. Fünfundzwanzig Schülerinnen und Schüler (n=25) mit entsprechenden Erfahrungen nahmen am Forschungsprozess teil. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Schülerinnen und Schüler dazu fähig sind, differenzierte Theorien über Lernschwierigkeiten zu entwickeln. Darüber hinaus kann eine gemeinsame Basis für die Entwicklung einer verallgemeinerbaren Theorie gefunden werden. Aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler gehen Lernschwierigkeiten nicht auf ein isoliertes Geschehen zurück. Sie müssen im familiären, schulischen und persönlichen Kontext verstanden werden.
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1 Ausgangslage Lernschwierigkeiten stellen Lernende vor hohe Anforderungen, welche sich meist zu Überforderungen und leider nur selten zu Herausforderungen entwickeln. Diese Überforderungssituationen manifestieren sich nicht nur in erschwerten Lernprozessen, sondern auch in der Beziehung zur Lernumwelt. Die Erkenntnis, wonach zwischen den Lernschwierigkeiten des Einzelnen und dessen Umfeld Wechselwirkungen bestehen, stellt eine der wichtigsten Verständniserweiterungen der letzten Jahre dar. Diese Wechselwirkungen sind ihrerseits wiederum in gesellschaftlich vorgegebene Lernbedingungen eingebettet. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist dabei Lerngehorsam im Sinne einer Erfüllung der Lernleistungsanforderungen wünschenswert. Die Konfrontation mit dem persönlichen Schicksal der Betroffenen zeigt jedoch auch die Grenzen solcher Anforderungen auf. Hier wird ersichtlich, dass Lernen nicht nur von Leistungserfüllung innerhalb gesellschaftlich erzwungener Erfordernisse handelt, sondern den ganzen Menschen umfasst und betrifft. 294 VHN, 76. Jg., S. 294 -301 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Subjektive Theorien über Lernschwierigkeiten: Zur Innensicht des erschwerten Lernens Marius Metzger HSA Hochschule für Soziale Arbeit Luzern Zusammenfassung: Das Ziel der Studie war es, subjektive Theorien über Lernschwierigkeiten zu erforschen, um so ein besseres Verständnis des subjektiven Standpunkts zu erlangen. Die subjektiven Theorien wurden mit der dialog-hermeneutischen Methode im Rahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien (Groeben u. a. 1988) rekonstruiert. Fünfundzwanzig Schülerinnen und Schüler (n=25) mit entsprechenden Erfahrungen nahmen am Forschungsprozess teil. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Schülerinnen und Schüler dazu fähig sind, differenzierte Theorien über Lernschwierigkeiten zu entwickeln. Darüber hinaus kann eine gemeinsame Basis für die Entwicklung einer verallgemeinerbaren Theorie gefunden werden. Aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler gehen Lernschwierigkeiten nicht auf ein isoliertes Geschehen zurück. Sie müssen im familiären, schulischen und persönlichen Kontext verstanden werden. Schlüsselbegriffe: Lernschwierigkeiten, subjektive Theorien, dialog-hermeneutische Methode Subjective Theories about Learning Difficulties: The Inner View of Difficult Learning Summary: The aim of the study was to examine subjective theories about learning difficulties to gain a better understanding of the subjective point of view. The subjective theories were reconstructed by using the dialogue-hermeneutic method of the research program „Subjective Theories“ (Groeben u. a. 1988). Twenty-five pupils (n = 25) with appropriate experiences have been involved in the research process. The results of the study provide the following evidence: a) pupils can develop very differentiated theories about learning difficulties; b) a common basis for the development of a generalisable theory about learning difficulties can be found. From the pupils’ point of view, learning difficulties are not due to isolated incidents. They have to be considered in the larger social context of family, school and personal life. Keywords: Learning difficulties, subjective theories, dialogue-hermeneutic method Fachbeitrag Im Unterschied zum Gehorsam gegenüber normativen Lernanforderungen verweisen Lernschwierigkeiten direkt auf die lernenden Subjekte. Die Ausgestaltungs- und Manifestationsmöglichkeiten von Lernschwierigkeiten sind schließlich so verschieden wie die Lernenden selbst. Lernschwierigkeiten stellen in diesem Sinne - auch wenn sie nicht immer so erscheinen mögen - stets einen subjektiv vernünftigen Bewältigungsversuch von erschwerten Lernsituationen dar. Solche Bewältigungsversuche sind in dem Sinne als vernünftig zu betrachten, als „dass niemand bewusst seinen eigenen Interessen zuwiderhandelt“ (Holzkamp 1993, 27). Die unbedingte Beachtung der subjektiven Bedeutung von Lernschwierigkeiten setzt dabei ein Verstehen des Standpunktes der betroffenen Subjekte voraus. Die vorherrschenden Theorien des Lernens und der Lernschwierigkeiten gehen jedoch größtenteils über das Subjekt hinweg und nehmen einen Außenstandpunkt ein. Die Bewältigung erschwerender Lernbedingungen macht es jedoch erforderlich, dass der Außenstandpunkt überwunden und den Subjekten eine Möglichkeit zur Mitgestaltung ihrer Lern- und Lebenswelt zugestanden wird. Didaktische Bemühungen, die sich vornehmlich an der Verbesserung der von außen feststellbaren Lernleistung orientieren, sind zum Scheitern verurteilt, da das betroffene Subjekt möglicherweise von ganz anderen Nöten in Anspruch genommen ist. Ortner und Ortner (2000, 10) erinnern in diesem Zusammenhang daran, dass „die Befreiung von quälenden psychischen Nöten persönlich wie existenziell wichtiger und glücklich machender als das Erreichen möglichst vieler schulischer Spitzenleistungen“ ist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird dem Ziel der Studie, subjektive Theorien über Lernschwierigkeiten zu erschließen, durch einen qualitativen Zugang am besten entsprochen, denn mit Ackermann und Rosenbusch (2002, 31) kann davon ausgegangen werden, dass sich die mit qualitativen Methoden arbeitenden Forschungsrichtungen „in ihrer generellen Ausrichtung als subjektorientierter Forschungsansatz kennzeichnen“. Um dabei dem zentralen Kriterium der Offenheit innerhalb der qualitativen Forschung möglichst gerecht werden zu können (Mayring 1999), wurde in dieser Studie die vielfach angetroffene Unterscheidung zwischen spezifischen und unspezifischen Lernschwierigkeiten (Steinhausen 2002) nicht vorgenommen. Es wurde also nicht ein bestimmter Typus von Lernschwierigkeiten, beispielsweise Lese- Rechtschreibstörungen oder Rechenstörungen, vorausgesetzt. Ein solcher unspezifischer Ansatzpunkt bemüht sich um größtmögliche Offenheit im forschenden Entdecken und bleibt der subjektiven Perspektive verpflichtet. 2 Methode In der Untersuchung wurde davon ausgegangen, dass das Forschungsprogramm „Subjektive Theorien“ (Groeben u. a. 1988) einen geeigneten Ansatz für die Erforschung von Lernschwierigkeiten aus der Sicht der Subjekte darstellt. In diesem Forschungsprogramm interessiert man sich für das „komplexe Aggregat von Kognitionen“ (Groeben 1988, 19), welches das intentionale Fundament von Handlungen darstellt. Je komplexer aber diese Kognitionsaggregate sind, desto schwieriger wird deren Erfassung. Die einseitige Interpretation von zuvor erhobenen Daten läuft Gefahr, dass die komplexen Kognitionsaggregate nicht treffend gefasst werden können (Groeben 1992). Aus diesem Grund wird ein sogenanntes dialogisch-konsensuales Verstehen zur Notwendigkeit. Im Dialog zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem Erkenntnisobjekt wird also der Konsens über das korrekte Verstehen gesucht, d. h. die subjektiven Theorien werden kommunikativ validiert. Die solcherart organisierte Validierung der Selbstauskünfte hat sich als „kommunikative Validierung“ (Lechler 1982) in der qualitativen Forschung etabliert. Subjektive Theorien über Lernschwierigkeiten 295 VHN 4/ 2007 2.1 Stichprobe An der Untersuchung nahmen sechzehn Schülerinnen und neun Schüler mit entsprechenden Erfahrungen teil, die das zehnte Schuljahr einer städtischen Privatschule besuchten. Das Alter der Schülerinnen und Schüler lag zwischen 15; 10 und 18; 9 Jahren bei einem Altersmittel von 16; 11. Die Teilnahme an der Studie erfolgte freiwillig. Die Untersuchung fand während der zweiten Hälfte des Schuljahres 2004/ 2005 statt. Bei Schülerinnen und Schülern eines zehnten Schuljahres kann ganz generell vermutet werden, dass diese über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz im schulischen Lernen und dessen Erschwernissen verfügen. Schließlich ist die Vertrautheit mit Lernschwierigkeiten am ehesten im jugendlichen Alter gegeben. Dieser Lebensabschnitt kann denn auch mit Steinhausen (2002, 124) als „eine Blütezeit schulischer Leistungskrisen und Lernstörungen“ betrachtet werden. Die an der Untersuchung beteiligten Schülerinnen und Schüler waren aufgrund eigener Erfahrungen mit dem Phänomen Lernschwierigkeiten vertraut. Sie gaben an, im Laufe ihrer Schulkarriere mindestens schon einmal von Lernschwierigkeiten betroffen gewesen zu sein, wobei es sich allerdings nicht um Schülerinnen und Schüler mit diagnostizierten Lernschwierigkeiten handelte. Eine Fokussierung auf eine derartige Schülerschaft hätte den gravierenden Nachteil, dass Dritte bereits in das Selbstverständnis der Lernwelt der Betroffenen eingegriffen hätten. Es ist anzunehmen, dass solche Schülerinnen und Schüler tendenziell die fremdvermittelten Zuschreibungen übernehmen oder sich davon abgrenzen müssen. Auf jeden Fall sind die eigenen Vorstellungen dann wesentlich von Dritten geprägt. Vermutlich entsprechen solche fremdbeeinflussten Deutungsversuche auch eher den bereits etablierten theoretischen Erklärungsmodellen, statt ein alternatives subjektorientiertes Verstehen von Lernschwierigkeiten zu ermöglichen. 2.2 Untersuchung Die Inhalte der subjektiven Theorien wurden in Einzelsitzungen mittels eines Leitfadeninterviews 1 erhoben (Friebertshäuser 1997), welches eigens für diese Untersuchung entwickelt wurde. Hierbei konnten die Fragebereiche Definition, Theorie und Beeinflussung von Lernschwierigkeiten voneinander unterschieden und erfragt werden. Die Interviews wurden auf Tonträger fixiert und entsprechend den Regeln der Ulmer Textbank (Mergenthaler 1992) transkribiert. Auf der Basis der Transkripte konnten die subjektiven Konzepte abgeleitet und auf Kärtchen notiert werden. In einer zweiten Sitzung wurde mit Hilfe dieser Kärtchen und unter Verwendung der Heidelberger Struktur-Lege-Technik (Scheele/ Groeben 1984) ein gemeinsames Schaubild der subjektiven Theorie erstellt 2 . Die Struktur-Lege-Technik stellt durch ihre Komplexität hohe Ansprüche an die subjektiven Theoretiker. Deshalb fand die alltagssprachliche Revision von Scheele u. a. (1992) Verwendung, welche sich durch größere Verständlichkeit und Flexibilität auszeichnet. Im Hinblick auf eine weitere Vereinfachung und Eindeutigkeit wurde die alltagssprachliche Revision leicht modifiziert und dem Forschungsgegenstand angepasst 3 . Die wichtigste Modifikation betraf dabei die kombinierte Darbietung von piktografischer Darstellung und deren alltagssprachlicher Adaption. Dieses Vorgehen weicht insofern von den Empfehlungen von Scheele, Groeben und Christmann (1992) ab, als dass diese auf piktografische Darstellungen verzichten und ausschließlich auf die Alltagssprache zurückgreifen. Auf der Grundlage der so entstandenen, individuellen Strukturbilder wurde eine Modalstruktur erarbeitet, welche die interindividuellen Gemeinsamkeiten der subjektiven Theorien zusammenfasst. Die Bildung dieser Modalstruktur orientierte sich am qualitativ-systematischen Aggregierungsverfahren von Stössel und Scheele (1992). In diesem Verfahren werden die semantisch vergleichbaren Konzepte zu Kategorien zusammengefasst. Anschließend wird aus den gemeinsamen Kategorien einer ersten Unter- Marius Metzger 296 VHN 4/ 2007 gruppe eine erste Modalstruktur gebildet. Diese wird daraufhin geprüft, ob sie weiter optimiert werden kann und ob sich aus der Reststichprobe weitere Modalstrukturen bilden lassen. In diese Modalstruktur werden jene Kategorien aufgenommen, welche in der Untergruppe „mehrfach vertreten, dabei durch dieselben Relationen verbunden und vergleichbar gewichtet sind“ (Stössel/ Scheele 1992, 364). Nach Fertigstellung der Modalstruktur wurde sie den Schülerinnen und Schülern präsentiert und zur Diskussion gestellt. Die Gruppendiskussion hatte zum Ziel, in Erfahrung zu bringen, inwiefern die Modalstruktur auch aus der Sicht der direkt betroffenen Gruppe bestehen kann. Sie bot somit einen Rahmen und eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit der Modalstruktur, was von den Schülerinnen und Schülern auch genutzt wurde. Die Gruppendiskussion wurde von einem stillen Beobachter protokolliert. 3 Ergebnisse Die so entstandene verallgemeinerbare Theorie über Lernschwierigkeiten ist in Abbildung 1 wiedergegeben. Sie lässt sich in folgende vier Bereiche unterteilen: definitorische Festlegung von Lernschwierigkeiten, Eigen- und Fremderfassung von Lernschwierigkeiten, interagierende Problembereiche im Rahmen eines erschwerten Lerngeschehens sowie Beeinflussungsmöglichkeiten von Lernschwierigkeiten. 3.1 Definitorische Festlegung von Lernschwierigkeiten Auf der Basis der individuellen Definitionen der Schülerinnen und Schüler konnte folgende Definition von Lernschwierigkeiten gebildet werden: Nicht wissen, wie beim Lernen vorgegangen werden soll. Die Definition ist durch das fehlende Wissen über das Vorgehen beim Lernen cha- Subjektive Theorien über Lernschwierigkeiten 297 VHN 4/ 2007 Abb. 1: Schematische Darstellung der Subjektiven Theorie über Lernschwierigkeiten rakterisiert. Diese Sichtweise stimmt mit der kognitionspsychologischen Auffassung überein, wonach insbesondere das fehlende metakognitive Wissen ein wesentlicher Faktor in der Entstehung und Aufrechterhaltung von Lernschwierigkeiten darstellt (Büttner 2004). Die Definition impliziert darüber hinaus potenzielle Veränderbarkeit von Lernschwierigkeiten, da durch einen entsprechenden Wissenszuwachs eine Veränderung eintreten könnte. 3.2 Eigen- und Fremderfassung von Lernschwierigkeiten Die Schülerinnen und Schüler stimmen darin überein, dass sich Lernschwierigkeiten sowohl von der betroffenen Person als auch von anderen Personen erkennen lassen. Von der direkt betroffenen Person können Probleme beim Lernen jedoch einfacher erkannt werden als von Außenstehenden. Diese Sichtweise deckt sich mit den Ergebnissen von Holzkamps kritischer Analyse (1987), wonach Lernschwierigkeiten letztlich nur durch die betroffenen Subjekte selbst erfasst werden können. Hinweise auf vorhandene oder sich entwickelnde Lernschwierigkeiten können die Noten oder das Verhalten liefern. Die Abweichungen in den Noten lassen sich auf individuelle, soziale und institutionelle Bezugsnormen im Sinne von Weinert und Zielinski (1977) beziehen. Auffälligkeiten im Verhalten sind auf dem Hintergrund der häufig postulierten Verknüpfung von Lernschwierigkeiten und Verhalten zu verstehen. Bemerkenswerterweise erscheint damit auch aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler eine solche Verknüpfung plausibel. 3.3 Interagierende Problembereiche im Rahmen eines erschwerten Lerngeschehens Die Schülerinnen und Schüler sind sich darüber einig, dass Lernschwierigkeiten mit Problemen zusammenhängen, die sich auf die eigene Person, die Familie und das Umfeld oder die Schule beziehen. Die Interaktion zwischen Familie und Umfeld und Person wird dabei am stärksten gewichtet. Danach folgt die Interaktion zwischen Person und Schule und schließlich die Interaktion zwischen Schule sowie Familie und Umfeld. Lernschwierigkeiten werden somit im Sinne systemischer Erklärungsmodelle (Betz/ Breuninger 1998; Henning/ Knödler 1998) in erster Linie vor dem Hintergrund des familiären Bezugssystems und erst in zweiter Linie im Kontext des Systems Schule verständlich. Dieser Befund kann dahingehend differenziert werden, dass vor allem gestörte Beziehungsprozesse mit Eltern, Lehrpersonen oder Mitschülerinnen und Mitschülern für erschwerte Lernverhältnisse verantwortlich gemacht werden. Interessanterweise scheinen dabei fachspezifische Schwierigkeiten eine eher untergeordnete Rolle zu spielen, obwohl der Zusammenhang zwischen Lernschwierigkeiten und mangelndem, fächerspezifischem Vorwissen bereits mehrfach nachgewiesen worden ist (Zielinski 1995; Büttner 2004). Von den drei Problembereichen Person, Familie und Umfeld sowie Schule wurde der Bereich Person am stärksten gewichtet, was im Kontext der bisherigen Forschungsergebnisse nicht sonderlich überrascht. Bemerkenswert ist dagegen die Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler Kognition, Motivation und Emotion als Einheit betrachten. In diesem Sinne können Lernschwierigkeiten mit Bundschuh (1999) als Störung einer solchen Einheit gewertet werden. Auch Katzenbach (2004) geht davon aus, dass Schülerinnen und Schüler von emotionalen Problemen in ihrer kognitiven Entwicklung nachhaltig beeinträchtigt werden können, wenn sie mit der Anforderung der kontinuierlichen Reorganisation ihres Wissens und Könnens konfrontiert sind. Insbesondere das Vertrauen in die eigene Person stellt selbst bei einer kurzfristigen Verunsicherung im Rahmen von regulären Lernprozessen die Grundvoraussetzung für deren Bewältigung dar. Marius Metzger 298 VHN 4/ 2007 3.4 Beeinflussungsmöglichkeiten von Lernschwierigkeiten Aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler wirken vor allem selbstständige Bewältigungsversuche nachhaltig. Die betroffene Person kann ihre Lernschwierigkeiten beeinflussen, indem sie Veränderungen in der Lernorganisation vornimmt. Eine Veränderung in der Lernorganisation zieht erwiesenermaßen verbesserte Leistungen nach sich und wird auch als „strategisches Verhalten“ (Büttner 2004, 75) bezeichnet. Damit sind Strategien gemeint, die sich auf die Verbesserung der Informationsverarbeitung, der Kontrolle und des Ressourcenmanagements beziehen. Andere Personen sollten die betroffene Person beim Lernen unterstützen. Die Unterstützung beim Lernen umfasst dabei Hilfestellungen auf der Grundlage einer als unterstützend erlebten Beziehung. Diese Sichtweise entspricht jener der heil- und sonderpädagogischen Förderung, wonach dem Aufbau einer tragfähigen Beziehung besondere Bedeutung zukommen sollte (Bundschuh 2002). Eine wichtige Voraussetzung für die Wirkung von Maßnahmen durch andere Personen ist jedoch der Wille der betroffenen Schülerinnen und Schüler, etwas verändern zu wollen. Es ist mit Holzkamp (1987) davon auszugehen, dass das Subjekt die ihm angediente Entwicklung seiner Fähigkeiten auch wollen muss. In diesem Zusammenhang muss allerdings bedacht werden, dass es den betroffenen Schülerinnen und Schülern oft am nötigen Selbstvertrauen für eine Veränderung aus eigener Kraft fehlen kann. 4 Schluss Abschließend stellt sich die Frage, inwiefern die vorliegenden Befunde und Erkenntnisse in die praktische Arbeit mit von Lernschwierigkeiten betroffenen Schülerinnen und Schülern übertragen werden können. Am wichtigsten erscheint der Hinweis darauf, dass man ganz generell auf die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Lernenden vertrauen sollte. Schließlich konnte in der Untersuchung gezeigt werden, dass die Schülerinnen und Schüler dazu in der Lage waren, differenzierte Theorien über Lernschwierigkeiten zu entwickeln und diese für sich zu nutzen. Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse bieten sich für die praktische Umsetzung zwei Vorgehensweisen an: 1. Mit dem hier beschriebenen Verfahren können subjektive Theorien individuell rekonstruiert werden, um auf dieser Grundlage lernhemmende Denk- und Handlungsmuster zu identifizieren. Gemeinsam mit den Betroffenen wird es so möglich, maßgeschneiderte Interventionen zu entwickeln und einzuleiten. 2. Falls der Einsatz des hier beschriebenen Verfahrens - aus welchen Gründen auch immer - nicht möglich sein sollte, kann die in Abbildung 1 wiedergegebene verallgemeinerbare Theorie über Lernschwierigkeiten auch als Ausgangspunkt für die gemeinsame Suche nach Veränderungsmöglichkeiten von Lernschwierigkeiten dienen. Da Lernschwierigkeiten so verschieden wie die Lernenden selbst sind, kommt der Anerkennung der subjektiven Lernwirklichkeit zentrale Bedeutung zu. Bei Versuchen, in diese Lernwirklichkeit einzugreifen, muss dringend beachtet werden, dass die Einwilligung in entsprechende Veränderungen die wichtigste Vorbedingung für das Gelingen einer Maßnahme darstellt. Einen eigenmächtigen Beeinflussungsversuch werden die Lernenden mit ohnmächtiger Verweigerung oder Duldung beantworten, da die fremden Lösungsvorschläge kaum den subjektiven Bedürfnissen entsprechen können. Erst durch das gegenseitige und gleichberechtigte Aushandeln lassen sich aussichtsreiche Lösungsansätze für Lernschwierigkeiten entwickeln. Die in dieser Untersuchung beschriebene Vorgehensweise zur Rekonstruktion von subjektiven Theorien stellt meines Erachtens eine geeignete Möglichkeit dazu dar. Die auf Grundlage der subjektiven Theorien erarbeiteten individuellen Lösungsansätze wurden von der Mehrheit der Schülerinnen und Schüler jedenfalls als hilfreich bewertet. Subjektive Theorien über Lernschwierigkeiten 299 VHN 4/ 2007 Anmerkungen 1 Das Leitfadeninterview stellt eine offene, halbstrukturierte Form der Befragung dar, welche auf einen bestimmten Bereich fokussiert. 2 Im Gegensatz zur originalen Version der Heidelberger Struktur-Lege-Technik (Scheele/ Groeben 1984), bei der das Strukturbild erst nach Annäherung an den eigenständigen Legeversuch des Erkenntnisobjektes und den Rekonstruktionsvorschlag des Erkenntnissubjektes zustande kommt, haben wir das Strukturbild hier gemeinsam erarbeitet. Dieses Vorgehen bietet sich gemäß Groeben (1992, 59) dann an, wenn die ursprüngliche Version „für die spezifische Situation oder Personenstichprobe von Untersuchungsteilnehmern Überforderungsaspekte enthält“. 3 Forschungsmethodische Details können auch eingesehen werden unter http: / / www.dissertation. unizh.ch/ 2006/ metzger/ diss.pdf oder eingeholt werden über marius.metzger@hsa.fhz.ch. Literatur Ackermann, Heike; Rosenbusch, Heinz (2002): Qualitative Forschung in der Schulpädagogik. In: König, Eckhard; Zedler Peter (Hrsg.): Qualitative Forschung. Grundlagen und Methoden. 2. Aufl. Weinheim/ Basel: Beltz, 31 - 54 Betz, Dieter; Breuninger, Helga (1998): Teufelskreis Lernstörungen. Theoretische Grundlegung und Standardprogramm. 5. Aufl. Weinheim: Beltz Bundschuh, Konrad (1999): Lernen. In: Bundschuh, Konrad (Hrsg.): Wörterbuch Heilpädagogik. Ein Nachschlagewerk für Studium und pädagogische Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 191 - 195 Bundschuh, Konrad (2002): Heilpädagogische Psychologie. 3. Aufl. München/ Basel: Reinhardt Büttner, Gerhard (2004): Lernen und Lernschwierigkeiten aus pädagogisch-psychologischer Perspektive. Zur Bedeutung von Vorwissen, Metakognition und strategischen Kompetenzen. In: Dammasch, Frank; Katzenbach, Dieter (Hrsg.): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zum besseren Verstehen von Schülern, Eltern und Schule. Frankfurt a. M.: Brandes/ Apsel, 55 - 81 Friebertshäuser, Barbara (1997): Interviewtechniken - ein Überblick. In: Friebertshäuser, Barbara; Prengel, Annedore (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/ München: Juventa, 371 - 395 Groeben, Norbert (1988): Explikation des Konstrukts ‚Subjektive Theorie‘. In: Groeben, Norbert; Wahl, Diethelm; Schlee, Jörg; Scheele, Brigitte (Hrsg.): Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjektes. Tübingen: Francke, 17 - 23 Groeben, Norbert (1992): Die Inhalts-Struktur- Trennung als konstantes Dialog-Konsens-Prinzip? ! In: Scheele, Brigitte (Hrsg.): Struktur-Lege- Verfahren als Dialog-Konsens-Methodik. Ein Zwischenfazit zur Forschungsentwicklung bei der rekonstruktiven Erhebung Subjektiver Theorien. Münster: Aschendorff, 42 - 89 Groeben, Norbert; Wahl, Diethelm; Schlee, Jörg; Scheele, Brigitte (Hrsg.) (1988): Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjektes. Tübingen: Francke Henning, Claudius; Knödler, Uwe (1998): Problemschüler - Problemfamilien. Ein praktisches Lehrbuch zum systemischen Arbeiten mit schulschwierigen Kindern. 5. Aufl. Weinheim: Beltz Holzkamp, Klaus (1987): Lernen und Lernwiderstand. Skizzen zu einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie. In: Holzkamp, Klaus (Hrsg.): Schriften I. Normierung, Ausgrenzung, Widerstand. Hamburg/ Berlin: Argument, 159 - 195 Holzkamp, Klaus (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt a. M./ New York: Campus Katzenbach, Dieter (2004): Wenn das Lernen zu riskant wird. Anmerkungen zu den emotionalen Grundlagen des Lernens. In: Dammasch, Frank; Katzenbach, Dieter (Hrsg.): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zum besseren Verstehen von Schülern, Eltern und Schule. Frankfurt a. M.: Brandes/ Apsel, 83 - 104 Lechler, Peter (1982): Kommunikative Validierung. In: Huber, Günter; Mandl, Heinz (Hrsg.): Verbale Daten. Eine Einführung in die Grundlagen und Methoden der Erhebung und Auswertung. Weinheim: Beltz, 243 - 258 Mayring, Philipp (1999): Einführung in die qualitative Sozialforschung. 3. Aufl. Weinheim: Beltz Mergenthaler, Erhard (1992): Die Transkription von Gesprächen. Eine Zusammenstellung von Regeln mit einem Beispieltranskript. 3. Aufl. Ulm: Ulmer Textbank Marius Metzger 300 VHN 4/ 2007 Ortner, Alexandra; Ortner, Reinhold (2000): Verhaltens- und Lernschwierigkeiten. Ein Handbuch für die Grundschulpraxis. 5. Aufl. Weinheim/ Basel: Beltz Scheele, Brigitte; Groeben, Norbert (1984): Die Heidelberger Struktur-Lege-Technik (SLT). Eine Dialog-Konsens-Methode zur Erhebung subjektiver Theorien mittlerer Reichweite. Weinheim/ Basel: Beltz Scheele, Brigitte; Groeben, Norbert; Christmann, Ursula (1992): Ein alltagssprachliches Struktur- Lege-Spiel als Flexibilisierungsversion der Dialog-Konsens-Methodik. In: Scheele, Brigitte (Hrsg.): Struktur-Lege-Verfahren als Dialog- Konsens-Methodik. Ein Zwischenfazit zur Forschungsentwicklung bei der rekonstruktiven Erhebung Subjektiver Theorien. Münster: Aschendorff, 152 - 195 Steinhausen, Hans-Christoph (2002): Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie. 5. Aufl. München/ Jena: Urban/ Fischer Stössel, Angelika; Scheele, Brigitte (1992): Interindividuelle Integration Subjektiver Theorien zu Modalstrukturen. In: Scheele, Brigitte (Hrsg.): Struktur-Lege-Verfahren als Dialog-Konsens- Methodik. Ein Zwischenfazit zur Forschungsentwicklung bei der rekonstruktiven Erhebung Subjektiver Theorien. Münster: Aschendorff, 333 - 585 Weinert, Franz; Zielinski, Werner (1977): Lernschwierigkeiten - Schwierigkeiten des Schülers oder der Schule? In: Unterrichtswissenschaft, 292 - 304 Zielinski, Werner (1995): Lernschwierigkeiten. Ursachen - Diagnostik - Intervention. 2. Aufl. Stuttgart/ Berlin/ Köln: Kohlhammer Dr. phil. Marius Metzger HSA Hochschule für Soziale Arbeit Luzern Werftstraße 1 Postfach 3252 CH-6002 Luzern Tel.: ++41 (0)41 3 67 48 48 Fax: ++41 (0)41 3 67 48 49 E-Mail: marius.metzger@hsa.fhz.ch Subjektive Theorien über Lernschwierigkeiten 301 VHN 4/ 2007