eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 76/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2007
764

Aktuelle Forschungsprojekte (4/07)

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2007
Die Darstellung von Menschen mit Behinderung in regelmäßig erscheinenden Printmedien
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Die Darstellung von Menschen mit Behinderung in regelmäßig erscheinenden Printmedien Markus Scholz Ludwig-Maximilians-Universität München Ausgangslage und Zielsetzung Medien prägen in hohem Maße unser gesellschaftliches und soziales Miteinander. Begriffe wie Medienzeitalter und Informationsgesellschaft sind Belege für die Bedeutung der durch Medien vermittelten und aufbereiteten Informationen im gesellschaftlichen Diskurs und im gegenseitigen Zusammenleben. Ziel der hier vorgestellten Untersuchung, die im Rahmen eines Promotionsvorhabens verwirklicht wird, ist das Aufzeigen der printmedialen Sicht auf Menschen mit Behinderung und der Vergleich dieser Darstellung mit der aktuellen wissenschaftlichen Sichtweise bzw. der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung. Des Weiteren sollen variablenabhängige Unterschiede in der medialen Darstellung herausgearbeitet und verschiedene medienvermittelte Menschenbilder in unterschiedlichen Kontexten abgeleitet werden. Das Aufzeigen von Möglichkeiten zur evtl. notwendigen Verbesserung der Berichterstattung soll als Zielperspektive ebenfalls Beachtung finden. Fragestellung In diesem Zusammenhang stellt sich die zentrale Frage: Welches Menschenbild wird durch Medien vermittelt? Als zu betrachtendes Medium wurde die Presse gewählt, deren Bedeutung trotz vieler „neuer“ Medien noch immer sehr hoch ist. Basis der Untersuchung bilden Artikel aus dem deutschsprachigen Presseraum im Zeitraum von 2000 - 2005. Die Untersuchung erfolgt bei Presseerzeugnissen mit besonderer Reichweite oder Relevanz innerhalb Deutschlands und untergliedert sich in die Sparten Tageszeitungen (Süddeutsche, Frankfurter Allgemeine Zeitung), wöchentliche Nachrichtenmagazine (Focus, Spiegel, Stern), bunte Nachrichtenmagazine (Bunte, Super-Illu) und die Boulevardtagespresse (Bild). Neben der Betrachtung des Menschenbildes lässt sich eine Reihe von anderen Dimensionen anführen, die in das Forschungsprojekt mit einbezogen werden: Quantitative Auswertung (Fokus, Art der Behinderung, Kontextthematiken, Perspektive, Begriffskategorien, Zahl der Artikel usw.) Grundsätzliche Darstellung von Menschen mit Behinderung und ihrer Lebenswelt in den Printmedien (Alter, soziale Schicht, Lebensverhältnisse, Familienverhältnisse usw.) Darstellung von Experten oder Bezugspersonen von Menschen mit Behinderung Vergleich der Darstellung (verwendete Begrifflichkeiten, Folgerungen, Vorurteile usw.) in Abhängigkeit von der Art der Behinderung, dem Kontext und der Perspektive der Darstellung Vergleich der Ergebnisse mit bereits durchgeführten Studien zu dieser Thematik (Bintig 1984) Aufzeigen von Möglichkeiten zur Verbesserung der Berichterstattung in diesem Kontext. Diese Liste lässt sich je nach Ergebnis der ersten Probesichtung der Daten noch präzisieren und gegebenenfalls erweitern. Methodik/ Recherche Aufgrund zeitlicher, personeller und finanzieller Ressourcen war es nicht möglich, jedes Printerzeugnis bezüglich der Thematik Behinderung zu untersuchen. So blieb die Recherche in digitalen Archiven als einzige Möglichkeit der Stoffgewinnung. Unter dem Aspekt der Ökonomie bietet diese Vorgehensweise große Vorteile. In relativ kurzer Zeit lässt sich eine große Anzahl an Artikeln finden, welche bereits in der zur Auswertung benötigten digitalen Form vorliegen, also nicht mehr transkribiert oder anderweitig aufbereitet werden müssen. Eine umfangreiche und relativ komplette Erschließung des Untersuchungsgegenstandes ist so möglich. Folgende Archive wurden zur Recherche herangezogen: LexisNexis® (http: / / www.lexisnexis. com/ de/ business), Süddeutsche Zeitung (Jahresausgabe auf CD-ROM 2000-2004 in der bayerischen Staatsbibliothek) und F.A.Z.-BiblioNet (http: / / www. faz-archiv.de/ biblio). Für die Zeitschrift Super-Illu und die Bildzeitung gibt es leider kein frei zugängliches digitales Archiv, weshalb in beiden Fällen die Archivabteilung des Verlages mit einer Recherche beauftragt wurde. Die verwendeten Archive bieten sowohl die Option zur begrifflichen Volltextsuche als auch zur thematisch gegliederten Suche (bis auf 330 VHN 4/ 2007 Aktuelle Forschungsprojekte F.A.Z. BiblioNet). Eine Kombination aus den beiden Suchmöglichkeiten schien die beste Variante für die umfangreiche Informationsgewinnung. Um einen leichteren Überblick über die Suchergebnisse zu haben und die Anzahl an Treffern überhaupt bewältigen zu können, wurde die begriffliche Volltextsuche in eine „allgemeine“ und eine „spezielle Begriffssuche“ unterteilt. Thematische Suche Zuerst wurde eine thematische Suche in bestimmten Themenkategorien durchgeführt. Diese waren je nach Archiv sehr unterschiedlich benannt (z. B. Behinderung und Gesellschaft, Behinderte Menschen in Deutschland usw.). Es war schon zu Beginn klar, dass mit einer solchen Suche nicht alle Artikel gefunden werden konnten. Grund dafür könnte eine falsche oder versehentliche Zuordnung der Artikel zu einem anderen Themenbereich durch den Archivar sein. Außerdem könnte es auch Artikel geben, deren Fokus zwar auf ein anderes Thema gerichtet ist, die aber trotzdem für die Untersuchung relevant sind (z. B. kann ein Bericht über einen Sportler bei den Paralympics je nach Archiv auch nur unter die Themenkategorie Sport fallen). Allgemeine Begriffssuche Da eine thematische Suche aus genannten Gründen nicht ausreichend war, wurde sie durch eine allgemeine Begriffssuche innerhalb der Volltexte ergänzt. Als Suchbegriff diente „Behinderung oder Behindert(e)“. Spezielle Begriffssuche Eine spezielle Begriffssuche bildete die letzte Komponente des Recherchesystems. Die hier für die Volltextsuche verwendeten Begriffe orientierten sich an einem funktional-organischen Behinderungsbegriff (auf eine Aufzählung wird in dieser Darstellung verzichtet), der trotz zahlreicher Diskurse und vorgeschlagener Alternativen gesellschaftlich und auch wissenschaftlich noch immer am präsentesten scheint. Methodik/ Analyse Die Auswertung der ca. 2.000 Texte erfolgt mit Hilfe eines Computerprogramms zur qualitativen Datenanalyse (MAXqda 2007). Die theoretische Basis bildet eine Mischform aus qualitativer Inhaltsanalyse (vgl. Mayering 2002) und Ansätzen der „Grounded Theory“ (Glaser/ Strauss 2005). Es wird zunächst ein Kodierleitfaden erstellt, welcher Kategorien und Variablen enthält. Die Basis für diesen Leitfaden bildet theoretisches Fachwissen. Nach den Probekodierungen erfolgt eine zusätzliche Erweiterung der Kodierung durch die Erkenntnisse aus den Texten selbst. Skizziert am Beispiel der Dimension Menschenbild lässt sich der methodische Ablauf vereinfacht wie folgt darstellen: Festlegung von Kategorien (z. B. verwendete Begrifflichkeiten) und deren Variablen (positiv, sachlich, negativ) Definition von Archetypen („der Superkrüppel“, „der Kriminelle“ usw.) (vgl. Nelson 1994, 5) mit Hilfe der Ausprägung der Variablen in verschiedenen Dimensionen Aufstellen von Kodierregeln für die Variablen Probekodierung einer Stichprobe von 100 Artikeln Ergänzung oder Veränderung der Archetypen und Erweiterung der Variablen Kodierung aller Artikel Revision Analyse von Unterschieden zwischen verschiedenen Medienkategorien Analyse von kontextabhängigen Unterschieden. Kodierregeln, Komplexität und Umfang der Variablen und Kategorien wurden hier aus Platzgründen und zur besseren Verständlichkeit vereinfacht dargestellt. Weitere Informationen und eine Literaturliste können angefordert werden bei markus.scholz78@ gmail.com Entwicklung eines pädagogischen Gesamtkonzeptes für Familien mit beim Neugeborenenhörscreening hörauffällig gewordenen Säuglingen Mareike Müller, Silke Wendels Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschlandweit etabliert sich das Neugeborenenhörscreening mehr und mehr, wenn es auch nach wie vor nicht flächendeckend und verbindlich umgesetzt wird. In Bayern beispielsweise hat diese Form der frühen Erfassung eine Senkung des Diagnosealters Aktuelle Forschungsprojekte 331 VHN 4/ 2007 auf durchschnittlich 4,5 Monate ermöglicht. Die Frühförderinnen stehen durch die immer früher diagnostizierten Kinder vor einer neuen Situation. Eine Forschungsstudie im Rahmen eines umfassenderen Forschungsvorhabens des Lehrstuhls für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik der Universität München (Projektleitung: Prof. Dr. habil. Annette Leonhardt) geht der Frage nach, was den Fachleuten diese Situation erleichtern kann. Forschungsziel und Forschungsfragen Forschungsziel ist es, Daten zu gewinnen, auf deren Grundlage ein pädagogisches Gesamtkonzept für Familien mit beim Neugeborenenhörscreening hörauffällig gewordenen Säuglingen erstellt werden kann. Folgende Fragestellungen stehen dabei im Mittelpunkt des Forschungsinteresses: Welche spezifischen Fähigkeiten und Kompetenzen müssen in die Frühförderarbeit mit Säuglingen und Kleinkindern eingebracht werden? Welche Schwerpunkte der kindlichen Entwicklung und Förderung muss ein Beratungsleitfaden für Frühförderer enthalten? Welches sind wesentliche Aspekte in der Beratung von Eltern mit hörgeschädigten Säuglingen? Wie verläuft die Sprachentwicklung bei so früh erkannten Kindern? Welche Schwerpunkte sind in der Frühförderung mit Säuglingen und Kleinkindern zu setzen, die durch das Neugeborenenhörscreening erkannt wurden? Forschungsdesign Untersuchungspopulation Die Untersuchungspopulation setzt sich zusammen aus Mitarbeitern und Leitern von fünf Pädagogisch-audiologischen Beratungsstellen in Bayern und zwölf Familien mit Säuglingen oder Kleinkindern, deren Hörschädigung durch das Neugeborenenhörscreening diagnostiziert wurde. Da das durchschnittliche Alter der teilnehmenden Kinder mittlerweile bei 33,5 Monaten liegt, wurde die Gruppe der zwölf Kinder durch fünf Kinder erweitert, die ebenfalls beim Neugeborenenhörscreening auffällig waren, die jedoch jünger als 18 Monate sind. Untersuchungsmethodik Zunächst wurden Leitfadeninterviews mit den Leitern und je zwei Mitarbeiterinnen der teilnehmenden Beratungsstellen geführt. Schwerpunkt des Gesprächs mit den Leitern war es zu eruieren, inwieweit in den letzten Jahren Veränderungen auftraten, die auf das Neugeborenenhörscreening zurückzuführen sind, und wie vor diesem Hintergrund die momentane Situation zu beschreiben ist. Bei den Interviews mit den Mitarbeitern standen die Arbeit mit dem Kind und den Eltern sowie Bedürfnisse, Wünsche, Anregungen und auch Notwendigkeiten zur Erweiterung verschiedener Kompetenzen im Vordergrund. Die Leitfadeninterviews mit den Eltern der beim Neugeborenenhörscreening hörauffällig gewordenen Kinder hatten zum Ziel, Wünsche und Bedürfnisse der Eltern zu erfassen sowie die Erfahrungen im Umgang mit der Situation, der Diagnose, der Förderung und dem Alltagsgeschehen zu untersuchen. Die Auswertung der Interviews erfolgte in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (1996) und ist bereits beendet. Ferner wurde mit den Familien der Elfra 1 (Grimm/ Doil 2000) durchgeführt, welcher der Früherkennung von Risikokindern dient. Momentan erfolgen systematische Beobachtungen der Frühfördersituationen, um die Frühförderung der betroffenen Kinder zu untersuchen. Die Beobachtungen werden bei den sechzehn Kindern, die noch Frühförderung erhalten, zweibis dreimal durchgeführt und anschließend qualitativ ausgewertet. Die Erhebung erfolgt aufgrund eines deduktiv erstellten Beobachtungsleitfadens, in dem u. a. die folgenden kategorialen Fragestellungen aufgegriffen werden: In welcher Organisationsform findet die Frühförderung statt? Sind in der Interaktion von Frühförderin und Mutter Aspekte der partnerschaftlichen Kooperation sichtbar? Wann und wie lange findet die Elternberatung statt? Welche Inhalte hat sie? Greift die Frühförderin in der Förderung mit dem Kind vorliegende Situationen auf? Welche Auffälligkeiten sind in der Sprache der Frühförderin im Umgang mit dem Kind sichtbar? Werden in der Sprache der Frühförderin/ Mutter Aspekte des „intuitiv-parenting“ (vgl. Papoušek 2001) deutlich? Aktuelle Forschungsprojekte 332 VHN 4/ 2007 Setzt die Frühförderin zusätzliche Maßnahmen ein, um das Hören des Kindes zu fördern? Es ist geplant, diesen Beobachtungsleitfaden, der an die allgemeine Frühförderung von hörgeschädigten Kindern angelehnt ist, im Laufe der Beobachtungen induktiv zu erweitern, da bei der Frühförderung von Kindern, die durch das Neugeborenenhörscreening erkannt wurden, möglicherweise neue Schwerpunkte auftreten. Im Anschluss an die Fördereinheit werden unstrukturierte Interviews mit den Frühförderinnen geführt, die eine mögliche Veränderung der Frühförderung durch das Neugeborenenhörscreening thematisieren. Diese werden in Form eines Gesprächsprotokolls festgehalten. Parallel dazu werden weitere standardisierte Testverfahren durchgeführt. Der erste Test erfolgt im Alter von 2; 6 Jahren (SET-K 2) bzw. im Alter von 3; 6 Jahren (SET-K 3-5). Anschließend ist ein zweiter Testdurchlauf geplant. Ziel ist es, die Sprachentwicklung der so früh erkannten und früh mit Hörhilfen versorgten Kinder zu erfassen. Erste Ergebnisse Die Interviews mit den Leitern und Mitarbeiterinnen der Pädagogisch-audiologischen Beratungsstellen ergaben, dass vor dem Hintergrund des Neugeborenenhörscreenings die Anzahl der zu betreuenden Kinder gestiegen und der Anteil jüngerer Kinder größer geworden ist. Durch das jüngere Alter der Kinder verlängern sich die Betreuungszeiten, und die Arbeit mit den Familien wird intensiver. Ferner ist die Förderung der Kinder stärker an ihrer natürlichen Entwicklung orientiert, jedoch aufgrund der noch nicht festen Schlaf-Wach-Phasen schwieriger zu organisieren. Bezüglich der allgemeinen Arbeitsweise bei der Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern ergaben die Interviews, dass die Förderung von Kleinkindern keinem schriftlich fixierten Konzept folgt. Die Frühförderinnen betonen, dass ein individuelles Arbeiten notwendig ist, das sich an den Ressourcen der Familien orientiert. Zentrale Aspekte sind die Anleitung der Eltern zum fördernden Umgang im Alltag und der Beziehungsaufbau zwischen Eltern und Frühförderin. Die Förderung erfolgt außerdem weniger materialorientiert und stellt die ganzheitliche Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt. Die Eltern der Kinder haben aus Sicht der Frühförderinnen zwar einen Diagnoseschock erlebt, sie erfahren jedoch einen geringeren Leidensdruck, da die Unterschiede zu normalhörenden Kindern noch nicht sichtbar sind. Oft wird vonseiten der Eltern anfänglich an der Diagnose Hörschädigung gezweifelt, und der Sinn einer Frühförderung wird infrage gestellt. Als Schwerpunkte ihrer Arbeit mit Säuglingen nannten die Frühförderinnen die Anleitung und Beratung der Eltern, die Frühförderung als Stütze der Eltern und die Unterstützung der Eltern-Kind-Beziehung. Die Interviews mit den Eltern zeigen, dass aufgrund der frühen Erkennung eine zuversichtliche Haltung eingenommen wird. Auch wird deutlich, dass die Eltern zu Beginn kaum Vorstellungen von einer Frühförderung mit Säuglingen hatten. Mit der Zeit wurde die Frühförderin aber zu einer wichtigen Ansprechpartnerin. Aus den bis jetzt vorliegenden Ergebnissen kann abgeleitet werden, dass neue Konzepte für eine professionelle Begleitung und Beratung der Familien mit beim Neugeborenenhörscreening hörauffällig gewordenen Säuglingen notwendig sind. Das weitere Forschungsvorgehen wird die Durchführung und anschließende Auswertung der systematischen Beobachtung, die Durchführung und Auswertung der standardisierten Testverfahren SET- K 2 und SET-K3-5 sowie eine Interpretation der erlangten Ergebnisse umfassen. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei mmueller@spedu.unimuenchen.de Entwicklung von Informationsmaterial über die CI-Versorgung von Kindern für gehörlose und hochgradig hörgeschädigte Eltern Stefanie Dierner Ludwig-Maximilians-Universität München Das Forschungsprojekt basiert auf dem Projekt „Cochlea-implantierte Kinder gehörloser bzw. hochgradig hörgeschädigter Eltern“, welches 2001 - 2004 am Lehrstuhl für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik durchgeführt wurde (Projektleitung: Prof. Dr. habil. Annette Leonhardt). Ergebnisse dieses Projektes zeigten unter anderem, dass viele gehörlose und hochgradig hörgeschädigte Erwach- Aktuelle Forschungsprojekte 333 VHN 4/ 2007 sene veraltete bzw. unkorrekte Informationen über die CI-Versorgung von Kindern haben. Bislang vorhandene Informationsmaterialien werden kaum genutzt, da diese nicht die besonderen Bedürfnisse Gehörloser und hochgradig Hörgeschädigter berücksichtigen. Diesem Missstand soll in einem Folgeprojekt abgeholfen werden. Forschungsziel und Forschungsfragen Das vorliegende Projekt zielt auf die Entwicklung von Empfehlungen für die Gestaltung verschiedener Materialien zur angemessenen Information gehörloser bzw. hochgradig hörgeschädigter Eltern über die CI- Versorgung von Kindern ab. Die Empfehlungen sollen auf wissenschaftlich begründeten Aussagen basieren. Die Bearbeitung des Projektes unterteilt sich in eine Entwicklungs- und eine Evaluationsphase. Im Rahmen der Entwicklungsphase steht folgende Frage im Mittelpunkt des Forschungsinteresses: Wie müssen Informationsmaterialien konzipiert werden, damit diese Gehörlose bzw. hochgradig Hörgeschädigte angemessen informieren und von diesen akzeptiert werden? Im Anschluss an die Entwicklung der Informationsmaterialien sollen diese an Stichproben der Zielpopulation überprüft, also evaluiert werden. Bei dieser Evaluation wird folgenden Fragen nachgegangen: Inwiefern können die entwickelten Materialien von Personen der Zielgruppe nachvollzogen und akzeptiert werden? Welche Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge stellen sich heraus? Forschungsdesign Untersuchungspopulation Die Zielgruppe, für welche die Informationsmaterialien entwickelt werden sollen, sind gehörlose und hochgradig hörgeschädigte Erwachsene. Im Entwicklungsprozess wurde die Untersuchungspopulation so ausgewählt, dass diese dem interdisziplinären Anspruch des Forschungsprojektes entspricht. Dabei erschien eine Verknüpfung von Erfahrungen, Kenntnissen und Vorstellungen von Gehörlosen bzw. hochgradig Hörgeschädigten sowie Hörgeschädigtenpädagogen als sinnvoll. Die gehörlosen bzw. hochgradig hörgeschädigten Untersuchungspersonen wurden nach folgendem Kriterium ausgesucht: Es musste sich um Eltern eines bzw. mehrerer CI-versorgten/ er Kindes/ er handeln, welche über entsprechendes Expertenwissen verfügen. Die teilnehmenden Hörgeschädigtenpädagogen sollten aus den Bereichen der Praxis sowie der Forschung und Lehre kommen. Die Stichprobe der Zielpopulation, auf deren Basis die Evaluation durchgeführt werden sollte, wurde in zwei Gruppen eingeteilt: Gruppe 1: gehörlose bzw. hochgradig hörgeschädigte Eltern, deren Kind/ er bereits mit einem CI versorgt wurde/ n, Gruppe 2: gehörlose bzw. hochgradig hörgeschädigte Erwachsene ohne CI-versorgte Kinder, die sich nicht bewusst gegen ein CI entschieden haben. Untersuchungsmethodik Die Untersuchung umfasst insgesamt drei Gruppendiskussionen, welche als Rund-Tisch-Gespräch organisiert werden. Die Gruppen werden so zusammengesetzt, dass sie dem interdisziplinären Anliegen des Forschungsprojektes entsprechen. Die Ziele, die mit den Rund-Tisch-Gesprächen verfolgt werden, umfassen die Eruierung der Erfahrungen, Vorstellungen und Wünsche der Teilnehmenden, die Erarbeitung von Empfehlungen bezüglich Art, Inhalt und Verteilung der zu entwickelnden Materialien (1. Gesprächsrunde), die Besprechung der entwickelten Materialien (2. Gesprächsrunde) sowie eine Abschlussbesprechung der evaluierten und ggf. modifizierten Materialien (3. Gesprächsrunde). Des Weiteren wird ein Gruppeninterview mit zwei gehörlosen Elternpaaren als Test zur Überprüfung des Rund-Tisch-Gesprächs durchgeführt. Ziel ist es zu prüfen, ob sich die Ergebnisse des ersten Rund-Tisch-Gesprächs bestätigen und ob weitere neue Ergebnisse gewonnen werden können. Die Notwendigkeit dieser nochmaligen Überprüfung ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass bei der Gruppendiskussion nur zwei gehörlose Elternpaare als stellvertretende Experten für die Belange und Bedürfnisse Gehörloser bzw. hochgradig Hörgeschädigter teilnehmen. Die entwickelten Materialien sollen ferner im Rahmen einer Evaluation an einer Stichprobe der Zielpopulation auf Nachvollzug und Akzeptanz sowie Verbesserungsvorschläge und Kritik überprüft werden. Die Evaluation soll mittels einer schriftlichen Befragung per Fragebogen durchgeführt werden. Um bei der Untersuchungspopulation das Verständnis des Fragebogens zu erleichtern, soll zusätzlich eine DVD Aktuelle Forschungsprojekte 334 VHN 4/ 2007 beigelegt werden, die den Fragebogen in Gebärdensprache übersetzt. Da bislang keine empirischen Grundlagen zum Forschungsgegenstand vorliegen, weist die Untersuchung insgesamt einen explorativen Charakter auf. Neben qualitativen Datenerhebungsmethoden (Gruppendiskussion, Gruppeninterview) kommt die Strategie der empirisch quantitativen Exploration (Fragebogen) zur Anwendung, weshalb in diesem Zusammenhang auch von einer Methodentriangulation gesprochen werden kann. Erste Ergebnisse Ergebnisse des ersten Rund-Tisch-Gesprächs zeigen unter anderem, dass Homepages, die sowohl Texte als auch Videoclips in Gebärdensprache enthalten, zu den bevorzugt zu entwickelnden Materialarten zählen. Des Weiteren wird die Entwicklung eines Flyers und eines Handbuchs als wichtig erachtet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Entwicklung einer DVD als weniger sinnvoll eingestuft wird, mit der Begründung, dass diese immer erst mühsam bestellt werden müsse. Als bedeutende Inhalte werden beispielsweise Tipps im Umgang mit CI-Gegnern, die Bedeutung der sensiblen Phasen oder die Rolle der Gebärden- und Lautsprache betrachtet. Da im Gruppeninterview alle Ergebnisse des ersten Rund-Tisch-Gesprächs bestätigt und nur ein geringer Gewinn neuer Ergebnisse festgestellt werden konnte, erscheinen weitere Interviews im Rahmen des Entwicklungsprozesses nicht notwendig. Aktuell erfolgt die Entwicklung der Empfehlungen für verschiedene Informationsmaterialien unter Einbezug der Daten des ersten Rund-Tisch-Gesprächs und der Daten aus dem Gruppeninterview. Die Texterstellung orientiert sich an dem mehrdimensionalen Verständlichkeitsindex (vgl. Langer, Schulz von Thun, Tausch 2006 [1. Auflage 1974]), der die Kategorien Einfachheit vs. Kompliziertheit, Gliederung/ Ordnung vs. Ungegliedertheit/ Zusammenhangslosigkeit, Kürze/ Prägnanz vs. Weitschweifigkeit sowie Stimulanz vs. keine Stimulanz umfasst. Das weitere Forschungsvorgehen sieht die Evaluation der Materialien, deren Modifikation sowie eine Abschlussdiskussion vor. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei dierner@spedu.unimuenchen.de Effektivität sprachtherapeutischer Frühintervention zur Prävention von spezifischen Sprachentwicklungsstörungen - das Late-Talker-Forschungsprojekt Dipl.-Päd. Claudia Schlesiger Universität Dortmund Forschungsstand In internationalen Studien wurde empirisch belegt, dass Kinder mit spätem Sprechbeginn, die im Alter von 24 Monaten über einen expressiven Wortschatz von weniger als 50 Wörtern verfügen oder noch keine Zweiwortäußerungen produzieren, besonders häufig von Sprachentwicklungsstörungen betroffen sind. Diese Kinder werden als „late talker“ bezeichnet, wenn der medizinische Befund - bis auf den sprachlichen Bereich - unauffällig ist. Die Bezeichnung „late talker“ wurde in der deutschsprachigen Fachliteratur übernommen, „late talkers“ lassen sich aber oft nur mittels waghalsiger Konstruktionen in den deutschen Satzbau eingliedern, weshalb im Folgenden der Begriff „Late-Talker-Kinder“ bevorzugt wird. Ungefähr die Hälfte der Late-Talker-Kinder holt den sprachlichen Rückstand im dritten Lebensjahr auf. Sie verfügen dann über einen altersgerechten Sprachentwicklungsstand, wenn auch im unteren Normbereich. Bei den anderen Late-Talker-Kindern vergrößert sich der Abstand zu den sprachlichen Fähigkeiten der Gleichaltrigen immer weiter, sodass sich mit drei Jahren eine sogenannte umschriebene oder spezifische Sprachentwicklungsstörung diagnostizieren lässt. Die Prävalenz liegt bei 6 - 8 % aller einsprachig aufwachsenden Vorschulkinder. Die Symptomatik betrifft zumeist mehrere sprachliche Ebenen (z. B. eingeschränktes Sprachverstehen, unverständliche Aussprache, reduzierter Wortschatz, dysgrammatischer Satzbau, unzureichende Erzählfähigkeiten, erhöhtes Risiko für Lese-Rechtschreibschwäche) und hat oft auch negative Auswirkungen auf die kognitive und die sozial-emotionale Entwicklung. Mögliche Ursachen für den späten Sprechbeginn bzw. für spezifische Sprachentwicklungsstörungen sind bis heute nicht eindeutig identifizierbar. Die betroffenen Kinder haben also keine allgemeine Entwicklungsverzögerung, keine tief greifenden Entwicklungsstörungen, keine neurologischen Schädigungen und keine Hör-, Seh-, Körper- oder geistigen Behinderungen. Aktuelle Forschungsprojekte 335 VHN 4/ 2007 Fragestellungen und Hypothesen Da eine spezifische Sprachentwicklungsstörung erst im vierten Lebensjahr reliabel diagnostiziert werden kann, beginnt die Sprachtherapie zumeist nicht vor dem vierten oder fünften Lebensjahr. Kinder ohne sprachliche Auffälligkeiten haben in diesem Alter wichtige Schritte im Spracherwerb jedoch bereits abgeschlossen, sodass sich die Frage stellt, ob eine präventive Frühintervention im Sinne einer sekundären Prävention, also bei den ersten Anzeichen einer Sprachentwicklungsstörung im Alter von zwei Jahren, sinnvoll ist. In diesem Alter könnten noch eigenaktive kindliche Spracherwerbsprozesse angestoßen werden, die zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht nicht mehr wirksam sind. Empirische Belege aus der Spracherwerbsforschung zeigen zum Beispiel, dass Kinder zu Beginn des Spracherwerbs zunächst eine sogenannte „kritische Masse“ von ungefähr 50 Wörtern in ihren expressiven Wortschatz aufnehmen müssen, bevor sie in der Lage sind, Zweiwortkombinationen zu produzieren und damit den Einstieg in den grammatischen Regelerwerb zu vollziehen. Vor diesem Hintergrund ist im Sprachtherapeutischen Ambulatorium im Zentrum für Beratung und Therapie der Universität Dortmund das Late- Talker-Forschungsprojekt entstanden. Da noch keine sprachtherapeutischen Konzepte speziell für die direkte Behandlung von Late-Talker-Kindern existieren, wurde ein solches Konzept entwickelt. Das Ziel der Sprachtherapie besteht in der Anregung des Wortlernens und im Aufbau eines altersgemäßen Wortschatzes bis hin zu Zweiwortäußerungen, um durch diese „Anschub-Therapie“ den Einstieg in die Grammatikentwicklung zu ermöglichen. Sobald die Kinder dieses Therapieziel erreichen, haben sie ihr Late-Talker-Profil überwunden und notwendige Kompetenzen für den weiteren Spracherwerb erworben. Das Late-Talker-Konzept wurde in einer Pilotstudie mit sechs Kindern erprobt und weiterentwickelt. Der darauffolgenden Studie, die im Rahmen einer Promotion durchgeführt wurde, liegen folgende Haupthypothesen zugrunde: Wenn Late-Talker-Kinder eine direkte sprachtherapeutische Frühintervention erhalten mit dem Ziel, lexikalisches und semantisches Lernen bis zur Produktion von Zweiwortkombinationen anzuregen, so überwinden sie vor ihrem dritten Geburtstag das Late-Talker-Profil und verfügen sechs Monate nach der Erstdiagnose über bessere lexikalische und semantische Fähigkeiten als Late-Talker-Kinder, die diese sprachtherapeutische Frühintervention nicht erhalten haben (kurzfristige Effektivität). Wenn Late-Talker-Kinder eine direkte sprachtherapeutische Frühintervention erhalten mit dem Ziel, lexikalisches und semantisches Lernen bis zur Produktion von Zweiwortkombinationen anzuregen, so lässt sich die Ausprägung einer möglichen spezifischen Sprachentwicklungsstörung im Alter von drei Jahren verhindern oder vermindern, d. h. diese Kinder verfügen über bessere lexikalische, semantische und grammatische Fähigkeiten als Late-Talker- Kinder, die diese sprachtherapeutische Intervention nicht erhalten haben (langfristige Effektivität). Forschungsplan Zur Überprüfung der Hypothesen wurde eine randomisierte, parallelisierte und verblindete Gruppenstudie mit einer Therapie- und einer Kontrollgruppe gewählt, mit jeweils drei Untersuchungszeitpunkten: zu Beginn (T1), nach sechs (T2) und nach zwölf Monaten (T3). Da eine sprachtherapeutische Intervention für Late-Talker-Kinder in Deutschland in der Regel nicht stattfindet und auch noch kein evaluiertes Konzept vorliegt, wird den Kindern der Kontrollgruppe durch dieses Vorgehen keine notwendige Therapie vorenthalten. Die Durchführung dieser Gruppenstudie wurde von der Ethikkommission der Universität Münster ausdrücklich befürwortet. Es wurde folgendes diagnostisches Instrumentarium gewählt: T1: Anamnesebogen für kleine Kinder (Mühlhaus 2005), Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (Hellbrügge 1994), Beobachtung der Symbolisierungsfähigkeiten (BESYM) (Schlesiger 2005), Elternfragebogen für die Früherkennung von Risikokindern (ELFRA-2) (Grimm/ Doil 2000), Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK-2) (Grimm 2000) und eine Beobachtung des elterlichen Sprachangebotes. T2: Elternfragebogen für zweijährige Kinder (ELFRA- 2) mit Zusatzfragen für Dreijährige (Grimm/ Doil 2000) und Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK-2) (Grimm 2000). Aktuelle Forschungsprojekte 336 VHN 4/ 2007 T3: Aktiver Wortschatztest für dreibis fünfjährige Kinder - (AWST-R) (Revision) (Kiese-Himmel 2005) und Sprachentwicklungstest für dreibis fünfjährige Kinder (SETK 3-5) (Grimm 2001). Die Ergebnisse der Sprachentwicklungstests in der Therapiebzw. Kontrollgruppe werden zur Überprüfung der Haupthypothesen anhand inferenzstatistischer Verfahren miteinander verglichen und liefern ebenso einen Überblick über den Sprachentwicklungsverlauf bei Late-Talker-Kindern. Darüber hinaus können die erhobenen Daten aus dem Anamnesebogen für kleine Kinder (Mühlhaus 2005) sowie das beobachtete elterliche Sprachangebot Hinweise geben auf weitere Variablen, die die unabhängige Variable, also die weitere Sprachentwicklung der Kinder, beeinflussen. Fallbeschreibungen einzelner Late- Talker-Kinder, die zum Beispiel anhand der Therapiedokumentation vorgenommen werden, sollen die quantitative Analyse der Gruppenstudie abrunden. Bisherige Datenerhebung Es wurden 42 Kinder im Alter zwischen 24 und 32 Monaten in das Late-Talker-Forschungsprojekt aufgenommen, insgesamt standen 16 Therapieplätze zur Verfügung, weitere 16 Kinder wurden direkt zu den Therapiekindern nach Geschlecht, Alter und Sprachentwicklungsstand parallelisiert, die restlichen Kontrollkinder bilden eine separate Kontrollgruppe. Der erste Post-Test (T2) stand zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Forschungsskizze noch bei einem Kind aus, der zweite Post-Test (T3) konnte bis zu diesem Zeitpunkt bei 14 Kindern durchgeführt werden. Die letzte Untersuchung wird voraussichtlich im November 2007 abgeschlossen sein, sodass mit einer Veröffentlichung der Ergebnisse 2008 gerechnet werden kann. Weitere Informationen und eine Literaturliste können angefordert werden bei claudia.schlesiger@ uni-dortmund.de Zentrale Störungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung (AVWS) Manfred Lindauer Ludwig-Maximilians-Universität München Das Forschungsprojekt mit einer Laufzeit vom 1. September 2005 bis 31. August 2008 wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus und der Regierung von Oberbayern in Auftrag gegeben und ist an der Ludwig-Maximilians- Universität München, Fakultät für Psychologie und Pädagogik, Lehrstuhl für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik angesiedelt (Projektleitung: Prof. Dr. habil. Annette Leonhardt). Neben dem leitenden Projektbearbeiter nehmen daran überwiegend Sonderschullehrerinnen und Sonderschullehrer von verschiedenen Münchner Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören, sowie (beratend) Sonderschullehrerinnen und Sonderschullehrer von verschiedenen Schulen zur Sprachförderung und Sonderpädagogischen Förderzentren teil. Das Forschungsprojekt ist - mit Ausnahme der leitfadengestützten Interviews - regional auf Bayern begrenzt. Wissenschaftliche Fragestellungen Primär sollen in diesem Forschungsprojekt folgende Fragestellungen untersucht werden: Gibt es in Bayern für Kinder mit zentralen Störungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung (AVWS) einheitliche Aufnahmeverfahren und Aufnahmekriterien an Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören, Schulen zur Sprachförderung und Sonderpädagogischen Förderzentren? Wie hoch ist in Bayern die Zahl von Kindern mit AVWS an Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören, sowie einer vergleichbaren Zahl von Schulen zur Sprachförderung und Sonderpädagogischen Förderzentren? Unterscheidet sich ein Beratungskonzept bei Kindern mit AVWS an allgemeinen Schulen von einem Beratungskonzept bei Kindern mit peripheren Hörstörungen an allgemeinen Schulen und wenn ja, wodurch? Welche Unterrichtsbedingungen benötigen Kinder mit AVWS an Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören? Forschungsdesign/ Methode Die Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter treffen sich regelmäßig zwecks gezielter Bearbeitung einzelner Fragestellungen zu offenen Gruppendiskussionen. Bei Bedarf wird der Personenkreis erweitert (z. B. Einbeziehung des Förderschwerpunkts Sprache). Aktuelle Forschungsprojekte 337 VHN 4/ 2007 Innerhalb Bayerns werden an Schulleiterinnen und Schulleiter sowie Sonderschullehrerinnen und Sonderschullehrer an Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören, Schulen zur Sprachförderung (soweit möglich vergleichbare Anzahl) und Sonderpädagogische Förderzentren Fragebögen mit verschiedenen Fragestellungen verschickt. Erfragt werden unter anderem die Zahl von Kindern mit diagnostizierter AVWS/ Verdacht auf AVWS, Förderbedarf und Förderorte, Klassenzusammensetzungen, Technische Hilfen, Beratung und Förderung im Rahmen der Mobilen Sonderpädagogischen Dienste, Auswirkungen der (möglicherweise) steigenden Zahl von Kindern mit AVWS auf die Einrichtungen. Im Rahmen von drei Fachtagungen an der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen/ Donau treffen sich die Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter sowie Sonderschullehrerinnen, Sonderschullehrer und Sonderschulrektoren von neun Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören, in Bayern zu offenen Gruppendiskussionen und zur gezielten Bearbeitung einzelner Fragestellungen zu den Themenbereichen Diagnostik, Aufnahmeverfahren, Aufnahmekriterien, Beratung an allgemeinen Schulen im Rahmen der Mobilen Sonderpädagogischen Dienste, Unterrichtsbedingungen und Unterrichtsgestaltung an Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören. Außerhalb Bayerns erfolgt die Eruierung relevanter Daten durch leitfadengestützte Interviews an exemplarisch ausgewählten Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören, in Baden-Württemberg, Hessen und Sachsen. Ziele Durch die Auswertung der Ergebnisse der Gruppendiskussionen sowie die Versendung und Auswertung der Fragebögen sollen primär folgende Ziele erreicht werden: Erfassung und Weiterentwicklung von Aufnahmeverfahren und Aufnahmekriterien für Kinder mit AVWS an verschiedenen Förderorten in Bayern, Überblick über die Zahl von Kindern mit AVWS und Verdacht auf AVWS an verschiedenen Förderorten, Möglichkeiten und Grenzen von Beratung und Förderung von Kindern mit AVWS an allgemeinen Schulen im Rahmen der fachpädagogischen Begleitung durch Mobile Sonderpädagogische Dienste, Unterrichtsbedingungen für Kinder mit AVWS an Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören. Erste Ergebnisse Kinder mit AVWS werden in Bayern an Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören, Schulen zur Sprachförderung und Sonderpädagogischen Förderzentren sowie an allgemeinen Schulen mit Unterstützung durch Mobile Sonderpädagogische Dienste unterrichtet und gefördert. Eine umfassende und exakte Eingangsdiagnostik und Bestimmung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs ist bei Kindern mit AVWS wegen hoher Komorbiditäten und starker Überschneidungen der Förderschwerpunkte „Hören“ und „Sprache“ unerlässlich für eine fachlich fundierte Förderortempfehlung, für qualifizierte Beratung an allgemeinen Schulen sowie für behinderungsspezifisch gestalteten Unterricht an Volksschulen zur sonderpädagogischen Förderung. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei mlindauer@spedu.unimuenchen.de Kommunikations-Analysen zur Facilitated Communication bei Menschen mit Autismus (KAFCA) Theo Klauß Pädagogische Hochschule Heidelberg Die Kontroverse um FC Menschen mit Autismus sind in ihrer Kommunikation häufig stark beeinträchtigt. Ein Verfahren, mit dessen Hilfe diese Menschen durch Berührungen an der Hand oder an anderen Körperstellen „gestützt“ anspruchsvolle Texte produzieren, ist die „Gestützte Kommunikation“ (Facilitated Communication - FC). Sie hat zum Beispiel dazu geführt, dass einige Kinder und Jugendliche mit Autismus von der Schule für Geistigbehinderte in allgemeine Schulen umgeschult werden konnten (Klauß 2002). Aktuelle Forschungsprojekte 338 VHN 4/ 2007 Die Methode ist allerdings durchaus umstritten, da sich in empirischen Studien bisher kaum nachweisen ließ, dass die von den gestützten Personen geschriebenen Texte unabhängig von den Kenntnissen der stützenden Personen entstehen. So kam es einerseits vermehrt zu Gerichtsverfahren, im Zuge derer die Validität der mit FC erzielten Aussagen in Einzelfällen überprüft und Kostenübernahmen geklärt werden mussten, und andererseits zu FC-kritischen Veröffentlichungen (Green 1996), welche die Methode zu widerlegen schienen. Obwohl eine Klärung und ein ernsthafter wissenschaftlicher Diskurs bislang nicht stattgefunden haben, ist FC nach wie vor aktuell und wird angewendet. Befürworter/ innen postulieren, dass bei den meisten Nutzer/ innen positive Auswirkungen der Methode nachzuweisen seien (Bundschuh/ Basler-Eggen 2000). Sowohl Kritiker/ innen als auch Befürworter/ innen gehen davon aus, dass bei FC eine inhaltliche Beeinflussung stattfinden kann. Letztere halten dieses Risiko jedoch für beherrschbar, wenn beim Schreiben bestimmte Handlungsanweisungen beachtet werden. Die Kritiker/ innen halten das Risiko der inhaltlichen Beeinflussung demgegenüber für nicht steuerbar; sie gehen davon aus, dass die Stützer/ innen selbst nicht merken, ob und wann sie beeinflussen. Diese Möglichkeit wird von FC-Vertreter/ innen nicht (mehr) bestritten, sie begründen damit die Notwendigkeit, das Ausblenden der Stütze systematisch zu trainieren. Zur Unsicherheit FC-nutzender Personen trägt wesentlich bei, dass bisher fundierte Erkenntnisse fehlen, weshalb die Gestützte Kommunikation wirkt und wie die Texte auf dem PC zustande kommen. Befürworter/ innen der Methode gehen davon aus, dass mit FC - einer Kombination aus physischer und psychischer Stütze - eine Handlungsbzw. motorische Störung kompensiert wird (vgl. Oesterreich/ Schirmer 2000). Nach Meinung einiger Kritiker/ innen werden die erzeugten Texte durch minimale, meist unbewusste Bewegungsimpulse der Stützperson inhaltlich beeinflusst. So konnte nur selten nachgewiesen werden, dass der Schreiber etwas schreibt, was die Stützperson nicht kannte (sogenanntes Message-Passing), umgekehrt wurden aber Inhalte wiedergegeben, die nur die stützende Person kannte (Nußbeck 1999). Weder die Annahmen der Befürworter/ innen noch der Kritiker/ innen sind allerdings bisher ausreichend überprüft und belegt worden (Klauß 2003). Klar ist bislang nur, dass mit FC offensichtlich Texte entstehen, die bzgl. des darin erkennbaren kognitiven Niveaus weit über das hinausgehen, was die betroffenen Menschen ohne diese Unterstützung zeigen. Nachdem es weder belegt noch wahrscheinlich ist, dass die Wirkung von FC vorrangig in einer Kompensation motorischer Störungen besteht, reicht es für eine erfolgreiche wissenschaftliche Analyse der Wirkungsweise nicht aus, nur Message-Passing-Aufgaben zu verwenden, die zudem noch die Durchführung des FC wesentlich verändern könnten. Es ist daher erforderlich, die Wirkungsweise der Methode zu untersuchen und die dabei wirksamen Interaktionsprozesse theoretisch zu modellieren. Forschungsplan Die Frage, wie im Zusammenwirken von stützender und gestützter Person mit FC Texte entstehen und worin der Einfluss des Stützens tatsächlich besteht, soll der vorrangige Gegenstand des Forschungsprojektes „KAFCA“ sein, das seit Mai 2007 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg unter Leitung von Prof. Dr. Theo Klauß durchgeführt wird. Eine ausführliche Einzelfallstudie aus Anlass eines Gerichtsgutachtens im Zusammenhang mit der Finanzierung der FC-Stütze zur Erlangung eines Realschul-Abschlusses kann als Pilotstudie herangezogen werden. Hierbei wurden Videosequenzen aus mehreren Perspektiven mikroanalytisch untersucht und Einzeloperationen der Schreibhandlung bezüglich Wahrnehmung und Bewegung analysiert (Klauß 2006). Im aktuellen Projekt soll die Wirkung von FC in sieben Einzelfallstudien durch mikroanalytische, mehrperspektivische Videountersuchungen wie in der Pilotstudie erforscht werden. Auf diese Weise soll im jeweiligen Fall geklärt werden, ob die Interaktionen der stützenden Personen so in einem zeitlichen Zusammenhang mit den Schreibhandlungen des Schreibers stehen, dass von einer inhaltlichen Beeinflussung ausgegangen werden könnte, oder ob eher auf die Initiierung des Handlungsprozesses und die effektive Organisation der Schreibhandlung Einfluss genommen wird. Beim Bearbeiten von Schulaufgaben sind beispielsweise andere interaktive Handlungsmuster als effizient anzunehmen als in freien Unterhaltungen. Zu prüfen sind daneben weitere Aspekte, die beispielsweise klären, ob der nonverbale Ausdruck des Schreibers (z. B. Freude, Ärger) im Widerspruch zu dem steht, was er schreibt bzw. was in der Situation geschieht. Von der Studie werden - über die untersuchten Einzelfälle hinaus - Erkenntnisse darüber erwartet, Aktuelle Forschungsprojekte 339 VHN 4/ 2007 wie eine mögliche inhaltliche Einflussnahme bei der „Gestützten Kommunikation“ identifiziert werden kann, wie ihr „Wirkungsprozess“ zu verstehen ist, wie eine Beeinflussung vermieden werden kann und FC- Nutzer/ innen unabhängiger kommunizieren können. Neben einer fundierteren Einschätzung und Bewertung der Methode FC sind außerdem weiterführende Erkenntnisse für das Verständnis des nach wie vor nicht völlig geklärten Phänomens des Autismus zu erwarten (vgl. Poustka 2006). Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei hoer@ph.heidelberg.de Aufruf Für das Projekt werden aktuell noch FC-Schreiberinnen und -Schreiber gesucht, die zunächst eine Schule für Geistigbehinderte besucht haben und inzwischen mit FC schulische Leistungen auf dem Niveau allgemeiner Schulen erbringen. Die Untersuchung wurde am 1. Mai 2007 gestartet und ist auf drei Jahre angelegt. Sie soll einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion um die Methode der „Gestützten Kommunikation“ leisten. Kontakte zu möglichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sind deshalb ebenso erwünscht wie Anfragen, Anregungen und Hinweise. Ansprechpartnerin: Dipl. Psych. Christiane Hör, Pädagogische Hochschule Heidelberg, Institut für Sonderpädagogik, Keplerstraße 87, D-69120 Heidelberg. Tel: ++49 (0) 62 21/ 47 71 81; Sekretariat ++49 (0) 62 21/ 47 71 75. E-Mail: hoer@ph-heidelberg.de Soziale Beziehungen lernbeeinträchtigter Schulkinder mit und ohne Verhaltensauffälligkeiten - Förderung der Inklusionsfähigkeit von Schulklassen Rainer Benkmann, Andrea Reibert Universität Erfurt Matti Kuorelahti University of Jyväskylä Theoretischer Rahmen und Stand der Forschung Soziale Interaktionen und Beziehungen sind grundlegend für Lernen, Entwicklung und Sozialisation (Piaget 1973; Sullivan 1983; Youniss 1994). Zum einen entwickeln sich Kinder und Jugendliche zu handlungskompetenten Mitgliedern der Gesellschaft, indem sie in der Erwachsenen-Kind-Interaktion über das kulturelle Erbe belehrt werden. Diese sozialen Prozesse sind strukturell ungleich und asymmetrisch (Rogoff 1990, 2003). Zum anderen erwerben sie in der Kinderwelt Fähigkeiten, mit kulturellem Wissen und Können umzugehen. Nur im Austausch von Argumenten und Begründungen von Gleich zu Gleich gelangen sie zu wirklichem Verständnis, zu Urteils- und Handlungskompetenz (Krappmann/ Oswald 1995). Die Gleichaltrigeninteraktion fordert die Kinder heraus, sich an Prinzipien der Wechselseitigkeit, Gleichheit und Kooperation zu orientieren, um unterschiedliche Auffassungen, Interessen und Ansprüche zu ko-konstruieren. Die Ko-Konstruktion in beiden Integrations-Konstellationen trägt zur Entwicklung von Kompetenzen, zur Autonomie und Verantwortlichkeit und zum Verstehen von Selbst und Anderem bei (Edelstein/ Habermas 1984; Grundmann 1999; Leu/ Krappmann 1999). Zahlreiche in dieser Forschungstradition stehende Untersuchungen zeigen, dass besonders kooperative und von gegenseitiger Achtung geprägte Beziehungen zwischen den Kindern bedeutsam für Lernen und Sozialisation sind (Azmitia/ Perlmutter 1989; Webb/ Palincsar 1996). Diese Erkenntnis hat auch die Diskussion um die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen beeinflusst (Benkmann 1998). Obwohl die These vom förderlichen Potenzial der Gleichaltrigenbeziehung seit Längerem hinreichend belegt ist (Damon 1984; Azmitia 1996; Hartup/ Laursen 1999), wird dieses Potenzial auch in integrativen Schulklassen zu wenig berücksichtigt. Forschungen aus den USA und deutschsprachigen Ländern zeigen: Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedürfnissen sind in integrativen Schulklassen schlechter integriert als andere (Haeberlin u. a. 1990). Von Nicht-Akzeptanz, Ablehnung und Isolation in der Kinderwelt sind vor allem lernbeeinträchtigte Kinder mit Verhaltensschwierigkeiten betroffen. Ihre Beziehungen zu Lehrkräften sind ebenfalls schwierig (Benkmann 2006). Daher ergibt sich ein Bedarf an pädagogischen Hilfen und Programmen im Blick auf das Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die es dabei unterstützen, sich zu integrieren. Verstehen wir Integration jedoch als Leistung aller Beteiligten der Schul- Aktuelle Forschungsprojekte 340 VHN 4/ 2007 klasse, müssen wir unsere Aufmerksamkeit ebenso auf die anderen Kinder und die Lehrkräfte lenken. Dann fragt sich, ob und wie Kinder und Lehrkräfte dem Integrationskind Hilfe und Fürsorge zukommen lassen, um es besser in die gemeinsamen Prozesse der Klasse zu inkludieren. Folglich sind nicht nur die Erziehung und Bildung des beeinträchtigten Kindes zentral, sondern auch die Erziehung und Bildung der anderen Kinder, die auf „weise Soziabilität“ zielen (Oser 1997, Haeberlin u. a. 1989, 1992). Inklusion stellt sich so als Aufgabe der „Integrierenden mit Aussicht auf hohe Lernrelevanz“ (Oser 1997, 117). Unsere Forschung beabsichtigt erstens, eine Längsschnittuntersuchung sozialer Beziehungen in integrativen Grund- und Regelschulklassen in Thüringen durchzuführen und zweitens, gezielte pädagogische Hilfen und ein selektives Programm zu evaluieren, das zu einem für Lehrkräfte handhabbaren Instrument zur Verbesserung der Inklusionsfähigkeit von Schulklassen entwickelt werden soll. Eine vergleichbare Untersuchung ist für finnische Schulen in Jyväskylä geplant, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen einem Land mit „junger“ (Deutschland) und „alter“ (Finnland) Integrationstradition herauszuarbeiten mit der Absicht, soziale Beziehungen in inklusiven Schulklassen zu fördern. Untersuchung Fragestellungen Leitende Fragestellungen des Projekts sind: Wie ist die Qualität der sozialen Beziehungen aus Sicht der Kinder mit und ohne Lernbeeinträchtigungen in integrativen Grund- und Regelschulklassen beschaffen? Wie ist die Qualität der Lehrer-Kind-Beziehung beschaffen? Welche Entwicklungen nehmen die sozialen Beziehungen auf den weiteren Klassenstufen? Welche Indikatoren der beiden Beziehungskonstellationen weisen auf eine hohe, welche auf eine niedrige Integrationsfähigkeit ausgewählter Schulklassen hin? Welche gezielten pädagogischen Hilfen und welches selektive Programm sind effektiv, um die Integrationsfähigkeit von Grund- und Regelschulklassen zu verbessern? Lässt sich daraus ein für Lehrkräfte nützliches Instrument entwickeln? Versuchsplan Angesichts der Fragestellungen ergeben sich folgende Schritte zur Untersuchung von Effekten hinsichtlich: der Qualität sozialer Beziehungen zwischen integrativen Grundschulklassen der dritten und vierten Jahrgangsstufe sowie des Vergleichs Lernbeeinträchtigter mit und ohne Verhaltensauffälligkeiten (LB+/ -VA) vs. Nicht-Lernbeeinträchtiger (Non-LB); der Qualität sozialer Beziehungen zwischen integrativen Regelschulklassen der fünften und sechsten Jahrgangsstufe sowie des Vergleichs LB+/ -VA vs. Non-LB; der Qualität der Lehrer-Kind-Beziehung in den Untersuchungsklassen; der Entwicklung der Qualität sozialer Beziehungen auf den weiteren Klassenstufen; des Vergleichs von Klassen mit hoher und niedriger Integrationsfähigkeit mit dem Ziel, Variablen zu ermitteln, die das Ausmaß der Integrationsfähigkeit beeinflussen; der Evaluation von Hilfen, eines Programms und eines Instruments für Schulen, mit denen die Inklusionsfähigkeit von Klassen gesteigert werden kann. Stichprobe Im ersten Schulhalbjahr 2005/ 06 sollten alle Klassen der dritten und vierten Jahrgangsstufe integrativer Grundschulklassen in Thüringen untersucht werden, in denen sich durch Gutachten identifizierte Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen (LB+/ -VA) befanden. Nicht alle Schulen waren bereit, an der Untersuchung teilzunehmen. Die Stichprobe setzte sich aus insgesamt 414 Kindern zusammen, 380 Non-LB und 24 Kinder mit LB+/ -VA. In den Klassen mit den Kindern mit LB+/ -VA befanden sich zehn Kinder mit einem anderen sonderpädagogischen Förderbedarf: sechs Kinder mit Verhaltensbeeinträchtigungen, drei mit Sprachbeeinträchtigungen und ein Kind mit der Diagnose Autismus. Im zweiten Schulhalbjahr 2005/ 06 wurden alle sich bereit findender Klassen der fünften und sechsten Jahrgangsstufe integrativer Regelschulklassen in Thüringen untersucht, in denen sich begutachtete LB+/ -VA-Kinder befanden. Diese Stichprobe setzte sich aus insgesamt 253 Kindern zusammen, 228 Non-LB und 23 Kinder mit LB+/ -VA. Zusätzlich befanden sich zwei Kinder mit Sprachbeeinträchtigungen in den Klassen. Aktuelle Forschungsprojekte 341 VHN 4/ 2007 Im Schuljahr 2006/ 07 wurden die Kinder der ehemaligen dritten Klassen auf der vierten Klassenstufe und der ehemaligen fünften und sechsten Klassen auf der sechsten und siebten Klassenstufe untersucht. Ferner wählen wir in diesem Schuljahr eine Anzahl von Schulen in Abhängigkeit von den Ergebnissen der Auswertung aus, um Indikatoren hoher bzw. niedriger Integrationsfähigkeit von Klassen zu bestimmen. Unser Hypothese lautet: Je positiver die Einschätzung der Kinder hinsichtlich der Beziehung zur Lehrkraft ausfällt, umso weniger treten in der Klasse soziale Schwierigkeiten auf, je negativer, umso mehr soziale Schwierigkeiten. Das Letztere wird die Basis für die Entwicklung und Evaluation von Hilfen und eines Programms zur Verbesserung der Inklusionsfähigkeit von Grund- und Regelschulklassen darstellen. Das Programm wird im Rahmen eines randomisierten Zwei-Gruppen-Plans mit Prä- und Posttest bei kleiner Stichprobe evaluiert. Daraus wird ein Instrument für die Hand der Lehrkraft entwickelt. Messinstrumente Fragebogen zu sozialen Beziehungen Einschätzung zur Akzeptanz (Soziometrie) Leitfadeninterview für Lehrkräfte Verfahren zur Messung von Effekten des Programms wie: - Verhaltenseinschätzungen - Teilnehmende Beobachtung - Kindzentrierte Tests Weitere Informationen und Literatur können eingeholt werden bei andrea.reibert@uni-erfurt.de oder Matti.Kuorelahti@edu.jyu.fi Didaktisch-methodische Innovationen in der schulischen Erziehungshilfe - eine empirische Untersuchung Heinrich Ricking Universität Oldenburg Clemens Hillenbrand, Thomas Hennemann Universität zu Köln Problemaufriss Gegenstand des gemeinsamen Forschungsprojekts (Universität zu Köln, Universität Oldenburg) ist die Analyse und die Weiterentwicklung der Didaktik und Methodik in Einrichtungen der schulischen Erziehungshilfe. Im Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung sind derzeit rasante Veränderungen zu beobachten, die als mehrdeutig und widersprüchlich zu bezeichnen sind. Sowohl die Anzahl der Schüler als auch der Schulen ist im letzten Jahrzehnt stark angestiegen - eine Entwicklung, die kaum wahrgenommen und nur am Rande in fachwissenschaftlichen Diskursen thematisiert wird. Diese auch bildungspolitisch brisante Entwicklung hin zu mehr separierenden Einrichtungen in diesem Förderschwerpunkt verdeutlicht den marginalen Einfluss der wissenschaftlichen Diskussion um Gemeinsamen Unterricht, Integration und Inklusion auf die konkrete Handlungsebene. Gleichzeitig wird die Legitimität von Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung auch von Fachleuten aus unterschiedlichen normativen oder empirischen Gründen in Zweifel gezogen oder negiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich umso dringender die Frage, wie eine didaktisch-methodisch fundierte Entwicklungsförderung positive soziale Lernprozesse ermöglichen und eine schulische Entwicklung unterstützen kann, die systematisch und konsequent die Rückschulung der Zielgruppe anstrebt. Die bisherige Diskussion definiert das der Erziehungshilfe spezifische Korrektiv zumeist auf der Ebene der „Unterrichtsprinzipien“ (Hußlein), die beide Handlungsziele - das Ziel der Erziehung oder Verhaltensregulation sowie das Ziel der Wissensvermittlung oder des (schulischen) Lernens - angemessen berücksichtigen sollen. Hier geht die wissenschaftliche Diskussion zumeist vom Primat der Erziehung gegenüber einer Lehrplanorientierung aus. Die curricularen Vorgaben sollen demnach zwar nicht im Mittelpunkt stehen, müssen jedoch vor dem Hintergrund der beabsichtigten Rückschulung dennoch eine hohe Relevanz einnehmen. Der hohe Handlungsdruck führt in der Praxis wohl eher dazu, nach alternativen Unterrichtsverfahren zu suchen, als wissenschaftlich reflektierte Handlungsmodelle zu erproben! Die Gefahr einer didaktisch-methodischen Beliebigkeit ist dabei allerdings groß. Theoriebildung und Unterrichtspraxis entkoppeln sich dann immer stärker und lassen sich kaum noch aufeinander beziehen. Aktuelle Forschungsprojekte 342 VHN 4/ 2007 Angesichts der disparaten Entwicklung von Theorie und Praxis intendiert das Projekt in erster Linie die Erweiterung der empirischen Basis für die didaktisch-methodische Diskussion in der Erziehungshilfe. Davon ausgehend werden in einem Folgeprojekt konstruktiv-konzeptionelle Entwicklungen unternommen, um den Lehrkräften, die diese Zielgruppe unterrichten, mehr Unterstützung von wissenschaftlicher Seite zur Verfügung zu stellen, damit das didaktische Profil der schulischen Erziehungshilfe geschärft und die Arbeit an der Basis effektiver gestaltet werden können. Forschungsdesign Dem Forschungsvorhaben liegt ein mehrdimensionales Untersuchungsdesign zugrunde, das Analysen des Gegenstandes auf unterschiedlichen Ebenen erlaubt. Strukturelle didaktisch-methodische Bedingungen und Schwerpunktsetzungen gehören ebenso dazu wie subjektive Haltungen und Positionen auf Lehrerseite. In den Vorarbeiten werden die deutschwie die englischsprachigen Fachveröffentlichungen zu diesem Thema systematisch aufgearbeitet. Dabei sollen entsprechende relevante und zugängliche Materialien zusammengezogen, die Forschungsergebnisse in Beziehung zueinander gesetzt, möglichst integriert bzw. auf ihren komplementären Charakter hin untersucht werden. Um der Komplexität des Untersuchungsbereichs gerecht zu werden, wird sowohl ein quantitativer als auch ein qualitativer Projektteil umgesetzt. Projektteil 1: Quantitative Feldstudie zur Erfassung didaktischmethodischer Bedingungen und Schwerpunktsetzungen in Schulen für Erziehungshilfe In einer Fragebogenerhebung, in die alle Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen einbezogen sind, soll eine „Bestandsaufnahme“ zentraler didaktischer Leitmotive und methodischer Handlungsformen des Unterrichts im schulischen Praxisfeld erfolgen. Ziel dieses Untersuchungsteils ist das Herausarbeiten didaktischmethodischer Muster und Schwerpunkte im Unterricht mit Schülern mit Gefühls- und Verhaltensstörungen. Anzunehmen ist eine hohe Variabilität, die von hoch strukturiertem Frontalunterricht bis hin zu offenen Formen und Projektunterricht reicht. Auf der Grundlage einer intensiven Recherche und Auswertung der bisherigen Forschungsergebnisse zur Thematik wurde ein halbstandardisierter Fragebogen entwickelt, mit dem im geplanten Untersuchungszeitraum 2006/ 2007 eine Totalerhebung an den o. g. Förderschulen umgesetzt wird. Mit einem Schulleiterfragebogen werden wesentliche Daten zur Organisationseinheit „Schule“ (Größe, Rückschulungsquote, Kooperation mit außerschulischen Institutionen etc.) ermittelt. Mit Hilfe eines Klassenlehrerfragebogens sollen relevante Rahmenbedingungen (Schüleranzahl, Klassenraumgröße etc.) für den konkreten Unterricht in der Klasse festgestellt sowie der Einsatz verschiedener methodisch-didaktischer Unterrichtsformen erfasst werden. Die Bedeutung spezifischer didaktischer Leitmotive (Curriculumbezug, didaktische Theorien, Reformmotive wie Offener Unterricht) lassen sich damit in ihrer praktischen Bedeutung einschätzen. Das unterrichtsmethodische Handlungsrepertoire der Lehrkräfte kann beschrieben und nach Präferenz beurteilt werden. Projektteil 2: Vertiefende qualitative Unterrichtsanalyse Auf der Basis der ersten Studie zielt der folgende Untersuchungsteil auf eine qualitative und möglichst detaillierte Abbildung der Unterrichtspraxis in ihrer komplexen didaktisch-methodischen Realisierung. In zufällig ausgewählten Schulen (N = 20) werden Interviews mit Lehrkräften und Schülern durchgeführt, die Erfahrungen, Haltungen und Einstellungen gegenüber verschiedenen Unterrichtsformen und didaktischen Modellen erschließen können. Ergänzend sollen Unterrichtssequenzen videografiert und ausgewertet werden. Auf diese Weise kann die umgesetzte Unterrichtspraxis in der schulischen Erziehungshilfe exemplarisch rekonstruiert, erfassbar und für konstruktive Sekundärstudien zugänglich gemacht werden. Das Projekt macht damit die realisierte Unterrichtspraxis in der schulischen Erziehungshilfe der wissenschaftlichen Diskussion zugänglich, sodass in der weiteren Diskussion eine stärkere Verknüpfung von Theoriebildung und Praxisbedürfnissen erfolgen kann. Weitere Informationen zum Forschungsprojekt können eingeholt werden unter erziehungshilfe@ hrf.uni-koeln.de, heinrich.ricking@uni-oldenburg. de, http: / / www.hrf.uni-koeln.de/ de/ e/ content/ 618. htm Aktuelle Forschungsprojekte 343 VHN 4/ 2007 Didaktik und Methodik des integrativen Unterrichts mit hörgeschädigten Schülern in allgemeinen Schulen Simone Born Ludwig-Maximilians-Universität München Diese Forschungsstudie gehört zum Projekt „Integration Hörgeschädigter in allgemeinen Einrichtungen“ des Lehrstuhls für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik der Universität München (Projektleitung: Prof. Dr. habil. Annette Leonhardt). Es begann 1999 und besteht z. Z. aus neun Modulen. Neben den nachfolgend aufgeführten Forschungsaktivitäten untersucht das Projekt weitere, sehr unterschiedliche Aspekte zur schulischen und vorschulischen Integration hörgeschädigter Menschen. Forschungsziel und Forschungsfragen Da bereits unterschiedlichste Aussagen zur unterrichtlichen Integrationssituation Hörgeschädigter in allgemeinen Schulen seitens der hörgeschädigten Schüler, deren Lehrer und Mitschüler vorliegen (vgl. u. a. Eriks-Brophy u.a. 2006; Schmitt 2003; Steiner; Lindner [beide unveröffentlicht]; Wessel 2005), interessierte in diesem Forschungsvorhaben eine eingehende Analyse des konkreten Unterrichtsalltags. Auf der Grundlage von Erfahrungsberichten Betroffener sowie bisheriger Forschung kristallisieren sich zwei kritische Phasen der schulischen Integration Hörgeschädigter heraus: die dritte Jahrgangsstufe und die Phase der Pubertät (vgl. u. a. Eriks-Brophy u. a. 2006; Schmitt 2003). Das vorliegende Teilprojekt konzentriert sich daher auf die 6. - 8. Jahrgangsstufe. Forschungsziel ist die Erfassung der unterrichtlichen Integrationssituation einzelintegrierter hörgeschädigter Schüler an allgemeinen Schulen unter hörgeschädigtenspezifischen didaktisch-methodischen Kriterien. Zur Untersuchung der tatsächlichen Unterrichtspraxis werden Unterrichtsbeobachtungen vorgenommen, die mit den Antworten der beobachteten Lehrer in den nachfolgenden Interviews abgeglichen werden. Leitend ist die Frage, ob bzw. in welchem Maße die didaktisch-methodischen Spezifika für die Unterrichtung hörgeschädigter Schüler im Unterricht der allgemeinen Schule berücksichtigt werden. Die Beobachtungen fokussieren daher entsprechende unterrichtliche Aspekte. Im Rahmen der Analyse der Beobachtungen wird zudem erhoben, wie sich Unterricht und Sprachbedingungen auf die Aufmerksamkeit sowie die Hilfesuche des hörgeschädigten Integrationsschülers auswirken. Die an die Beobachtungen anknüpfenden Interviews sollen einen möglichen Zusammenhang zwischen den beobachteten hörgeschädigtenspezifischen didaktisch-methodischen Kriterien des Unterrichts und der Sicht der Lehrpersonen aufdecken. Forschungsdesign Die Untersuchungspopulation setzt sich aus fünf mittelbis hochgradig bzw. hochgradig hörgeschädigten Schülern zusammen, welche an einer allgemeinen Schule einzelintegriert beschult werden, und jeweils zwei ihrer Lehrkräfte, von denen einer Mathematik, der andere ein sprachliches Fach unterrichtet. Dem Forschungsziel folgend wurde eine multimethodische Vorgehensweise gewählt. Die Unterrichtsbeobachtungen erfolgten einerseits systematisch (quantitativ), andererseits teilnehmend (qualitativ). Bei jedem Lehrer wurde im Verlauf des Schuljahres 2005/ 2006 insgesamt sechsmal hospitiert, und bei jedem Unterrichtsbesuch wurde 20 Minuten lang systematisch beobachtet. Nach jeder Beobachtungsminute wurden entsprechende Signierungen in einem eigens entwickelten, hypothesengeleiteten Beobachtungsinventar eingetragen, je nachdem, ob die entsprechenden Merkmale des Unterrichts, der Bedingungen des Sprachverstehens und der Schülerbeobachtung vorhanden oder nicht vorhanden waren. Ziel dieser Beobachtungen war eine fokussierte Analyse einzelner Aspekte und die Eruierung möglicher Zusammenhänge zwischen den Bereichen. Vor, nach und parallel zu diesem Vorgehen wurde teilnehmend beobachtet, das heißt, weiteren Fragestellungen wurde mehr oder minder offen - in Orientierung an einem eigens entwickelten Beobachtungsleitfaden - nachgegangen, und ganze Verhaltens- und Reaktionssequenzen wurden per Video aufgezeichnet. Diese Beobachtungen erstreckten sich pro Unterrichtsbesuch pro Lehrer über ein bis drei Unterrichtseinheiten. Insgesamt flossen in die Beobachtungen 94 Unterrichtseinheiten ein, während denen ca. 4.230 Minuten teilnehmend und 800 Minuten systematisch beobachtet wurde. Zur Vervollständigung der Beobachtungsdaten wurden qualitative halbstrukturierte Leitfadeninterviews durchgeführt. Neben der zusätzlichen Infor- Aktuelle Forschungsprojekte 344 VHN 4/ 2007 mationsgewinnung wurden sie auch dazu verwendet, die Beobachtungen den Aussagen der Betroffenen gegenüberzustellen. Zur Auswertung der Daten der systematischen Beobachtung wurden statistische Berechnungen (Häufigkeitsanalysen, Korrelationsberechnungen nach Pearson, Regressionsberechnungen) vorgenommen. Die Interviewdaten sowie die Daten aus der teilnehmenden Beobachtung wurden qualitativen Inhaltsanalysen unterzogen (in Anlehnung an Mayring 2002). Erste Forschungsergebnisse Da die Datenauswertung noch im Gange ist, können bisher nur vorläufige Ergebnisse vorgestellt werden. Insgesamt zeichnet sich ein positives Bild der unterrichtlichen Integrationssituation unter hörgeschädigtenspezifischen didaktisch-methodischen Kriterien ab. In welchem Maße diese im Unterricht eingesetzt werden, erweist sich als von den jeweiligen Lehrern und - nach bisherigen Folgerungen - von ihrem persönlichen Unterrichtsstil abhängig. Abgesehen von der Antlitzgerichtetheit zeigen sich bei den untersuchten Bereichen mehr oder minder stark ausgeprägte Lehrerabhängigkeiten, unter anderem im Einsatz der Sozialformen und der methodischen Grundformen, in der Anschauung, im vorhandenen Lärmpegel, in der Bewegung und der (verbalen und nonverbalen) Sprache des Lehrers. Die Auswirkungen der unterrichtlichen Kriterien auf die Schüleraufmerksamkeit werden aufgrund der Korrelations- und Regressionsberechnungen speziell beim Lärmpegel deutlich. Aber auch die methodischen Grundformen, die Sozialformen sowie der Gebrauch von Anschauung und die Bewegung und Sprache des Lehrers stehen in einer Beziehung mit der Aufmerksamkeit der hörgeschädigten Schüler. Betrachtet man das Schülerverhalten über alle Schüler und Untersuchungsbereiche hinweg, werden neben den genannten Bezügen schülerbezogene Abhängigkeiten sichtbar. Aktive Mitarbeit, passiv aufmerksames bzw. unaufmerksames Verhalten oder gar aktive Unaufmerksamkeit resultieren nur bedingt aus dem Unterricht. Sie hängen ebenso von der Schülerpersönlichkeit ab. Über alle Integrationsschüler und Unterrichtseinheiten hinweg dominierte jedoch eine reaktive und passive Schüleraufmerksamkeit. Stellt man den Beobachtungen die Interviewaussagen gegenüber, so fällt auf, dass einige Lehrer einzelne hörgeschädigtenspezifische Kriterien aufgrund der Integrationssituation bewusst einsetzen, z.B. Aspekte der Anschauung oder die Suche nach Blickkontakt mit dem Hörgeschädigten, wohingegen andere sich des Einsatzes hörbehindertenspezifischer Techniken im eigenen Unterricht vermeintlich nicht bewusst sind. Eine mögliche Interpretation dafür wäre, dass die Anwendung der beobachteten unterrichtlichen Kriterien, welche für hörgeschädigte Schüler eine gesteigerte Relevanz besitzen, im Unterrichtsalltag einiger Lehrer unabhängig von der Integrationssituation gegeben ist. Folgt man diesem Interpretationsansatz, so kann auf einen Einfluss ihres individuellen Unterrichtsstils und -verhaltens geschlossen werden. Neben einem mehrheitlich positiven Bild der unterrichtlichen Integrationssituation verweist die bisherige Datenauswertung auf starke interindividuelle Unterschiede. Jeder Lehrer und jeder Schüler weist eine andere Persönlichkeitsstruktur auf, sie verhalten sich und reagieren auf unterschiedliche Weise und setzen sich aufgrund persönlicher Vorerfahrungen und Einstellungen je anders mit der Integrationssituation auseinander. Der Erfolg einer schulischen Integration Hörgeschädigter ist letztlich im Kontext eines multikausalen Bedingungsgefüges individuell zu betrachten. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei born@spedu.unimuenchen.de Bewältigungsstrategien junger hörgeschädigter Erwachsener im Berufsleben unter dem Aspekt der Berufszufriedenheit Katja Sachsenhauser Ludwig-Maximilians-Universität München Bereits 1999 begann das inzwischen neun Module umfassende Forschungsprojekt zur „Integration Hörgeschädigter in allgemeinen Einrichtungen“ des Lehrstuhls für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik der Universität München (Projektleiterin Prof. Dr. habil. Annette Leonhardt). Der Gedanke, diese Forschungsreihe auch auf die soziale Integra- Aktuelle Forschungsprojekte 345 VHN 4/ 2007 tion erwachsener Hörgeschädigter auszuweiten, lag nahe. So entstand 2004 das Forschungsprojekt „Bewältigungsstrategien junger erwachsener Hörgeschädigter im Berufsleben unter dem Aspekt der Berufszufriedenheit“. Forschungsziel und Forschungsfragen Im heutigen Leben nimmt die Arbeit einen hohen Stellenwert ein. Betrachtet man „Arbeit“ unter einem gesellschaftlichen Gesichtspunkt, so bietet sie die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe, der Sozialisation und Integration in die Gesellschaft. Eine andere Betrachtungsweise hingegen betont die Bedeutung der Arbeit für die individuelle Persönlichkeit und Identitätsentwicklung. Beide Aspekte betreffen in besonderer Weise hörgeschädigte Menschen. Aus dieser Perspektive entstanden in den letzten Jahren Forschungsarbeiten, die sich mit der Situation Hörgeschädigter am Arbeitsplatz beschäftigten. Dabei reichen die Themen von der Berufswahl, der Berufsqualifizierung und von Weiterbildungsmaßnahmen für gehörlose Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen über die Kommunikation gehörloser Menschen am Arbeitsplatz bis hin zu Testverfahren zur Berufseignung, Beratungsleitfäden für hörgeschädigte Arbeitnehmer und „hörende“ Arbeitgeber sowie Modellversuchen integrativer Berufsausbildung. Die Sicht der Hörgeschädigten selbst wurde jedoch nur in Teilbereichen berücksichtigt. Die vorliegende Studie stellt Aussagen Betroffener in den Mittelpunkt. Im Hinblick auf die Arbeitswelt Hörgeschädigter ergeben sich folgende wissenschaftliche Fragestellungen: Wie beschreiben junge hörgeschädigte Erwachsene ihre derzeitige Arbeitssituation? Welche Aussagen machen sie zu ihrer Berufszufriedenheit? Welche Handlungsmuster und Bewältigungsstrategien haben sie entwickelt, um in der Arbeitswelt zu bestehen? Forschungsdesign In einem rein qualitativen Forschungsdesign wurden zwölf offene, Leitfaden orientierte Interviews mit jungen hörgeschädigten Erwachsenen in Bayern geführt. Bei der Auswahl der Interviewpartner lag der Fokus auf den Kriterien Alter (20 bis 35 Jahre), Selbstdefinition („hochgradig hörgeschädigt“ oder „gehörlos“) sowie Erfahrung im Arbeitsleben (abgeschlossene Berufsausbildung und mindestens dreijährige berufliche Erwerbstätigkeit). Um möglichst unterschiedliche Wege in das Berufsleben darstellen und auswerten zu können, wurde im Laufe der Datenerhebung darauf geachtet, Interviewpartner mit unterschiedlichen Schulabschlüssen zu finden. Dadurch ergab sich eine Vielfalt an Berufsbiografien. Das besondere Interesse an der Lebenswelt dieser jungen Menschen setzt voraus, dass während des Interviews ein befriedigender kommunikativer Austausch zwischen Forscher und Interviewpartner stattfinden kann. Um dies zu gewährleisten, wurde es dem Interviewpartner freigestellt, die gewünschte Form der Kommunikation zu wählen. Dementsprechend fanden vier Interviews lautsprachlich, die verbleibenden acht in Gebärdensprache statt. Davon entschieden sich zwei Interviewpartner gegen und sechs für ein Interview mit Gebärdensprachdolmetscher. Alle Interviews wurden digital in Ton und Bild aufgezeichnet. Die Transkription erfolgte zunächst über die Tonaufnahme und wurde anschließend anhand der Videoaufnahme von einer weiteren Person „gegengelesen“. Um die Analyse der Daten objektiver, zeitsparender und methodisch besser kontrollierbar durchzuführen, wurde zur Evaluierung eine QDA- Software (Qualitative Data Analysis Software) herangezogen. Das Programm MAXqda 2 ist ein im deutschsprachigen Raum weit verbreitetes Programm zur qualitativen Datenanalyse. Mit Hilfe dieses Programms werden die Daten im Sinne der strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring kategorisiert, codiert und paraphrasiert. Dabei ist es wichtig, einerseits reflexiv mit dem festgelegten Beobachtungsschema umzugehen und andererseits offen zu sein für weitere sich ergebende Kategorien. Nach der Definition von Ankerbeispielen und Codierregeln wurden zwei transkribierte Interviews durch einen so genannten „Intercoder“ auf ihre Reliabilität hin überprüft. Vorläufige Forschungsergebnisse Im Folgenden sollen einige ausgewählte Ergebnisse dargestellt werden. Der Weg in die Arbeitswelt, von der Ausbildung bzw. der berufliche Bildung bis hin zum Arbeitsplatz, verläuft selten geradlinig und ohne Umwege. Ungenügende Beratung, mangelnde Unterstützung Aktuelle Forschungsprojekte 346 VHN 4/ 2007 und wirtschaftliche Gründe sowie ein gewisser Zeitdruck führen zu Berufswahlentscheidungen, die mitunter weder vom Betroffenen selbst noch seinen Berufswünschen entsprechend getroffen werden. Dies kann im Laufe der Zeit zu einer resignierenden Zufriedenheit und einem „Sich-Abfinden“ mit der momentanen beruflichen Situation führen oder aber der Grund für eine berufliche Veränderung, z.B. durch einen Wechsel des Arbeitgebers, durch Umschulung oder Weiterbildung, sein. Interviewpartner, die sich aufgrund einer höheren Schulbildung wie Fachabitur oder Abitur erst später für einen Berufsweg entscheiden, verfolgen ihre Vorstellungen und Wünsche zielgerichteter, auch wenn Widerstände zu überwinden sind. Den beruflichen Alltag erleben die Interviewpartner, je nach eigenem Anspruchsdenken, sehr unterschiedlich. Einige fühlen sich von ihren Tätigkeiten unterfordert und haben das Gefühl, mehr leisten zu können und zu wollen. Andere stellen sich nach einer Phase des Umbruchs neuen Herausforderungen, indem sie sich mit einer eigenen Geschäftsidee selbstständig machen, mit einer Umschulung beginnen oder sich auf ihrem Fachgebiet weiterbilden. Bei allen wird deutlich, wie wichtig es ist, ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit, Konzentration und Erholung, Anspannung und Entspannung herzustellen. So berichtet ein Interviewpartner davon, zu Hause nach der Arbeit zuallererst seine Hörgeräte auszuschalten, um „zur Ruhe“ zu kommen. Ein anderer verbringt seine Freizeit mit Sport oder gemeinsamen Aktivitäten mit anderen Hörgeschädigten, mit der Familie oder dem Lebenspartner. Gelingt dieser Ausgleich nicht, können einseitige Belastungen entstehen, die enormen Stress verursachen und oft zu psychosomatischen Erkrankungen führen. Bereits im Vorfeld kann aufgrund der gewählten Interviewsprache abgeleitet werden, mit welchem sprachlichen Kommunikationsmittel sich der Interviewpartner identifiziert. Es wäre jedoch voreilig, daraus eine Zuordnung des Interviewpartners in die „Welt der Hörenden“ oder die „Welt der Gehörlosen“ abzuleiten. Vielmehr stellte sich während der Interviews heraus, dass diese „Welten“ sowohl im Laufe der gesamten Biografie als auch im beruflichen Alltag miteinander verschmelzen. So kommuniziert ein Hörgeschädigter während der Arbeitszeit lautsprachlich mit seinen Kollegen und Vorgesetzten, zu Hause mit Eltern und Geschwistern in lautsprachunterstützenden Gebärden und mit dem Lebenspartner in Deutscher Gebärdensprache (DGS). Ein anderer, der hörgeschädigte und hörende Kollegen hat, „mischt“ je nach Ansprechpartner beide Sprachsysteme. Bei Kundenkontakten greift man auf die heute auch unter gut hörenden Menschen übliche Kommunikation per E-Mail statt Telefon zurück. Die Möglichkeit, Gebärdensprachdolmetscher für Betriebsversammlungen oder Weiterbildungen zu engagieren, wird, wenn vorhanden, in Anspruch genommen. Auf diese Weise erlebt sich der Hörgeschädigte mehr und mehr als bilingual kompetenter Mensch in seiner Lebensrealität. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei ksachsenhauser@ spedu.uni-muenchen.de Aktuelle Forschungsprojekte 347 VHN 4/ 2007