eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 77/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2008
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Lucien „will“ nicht lernen - eine pädagogisch-psychologische Fallgeschichte

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2008
Ilka Hoffmann
In dem Beitrag wird versucht, einen differenzierten, von der individuellen Lebenssituation des betroffenen Kindes ausgehenden Blick auf Lernstörungen zu werfen. Hierbei wird versucht, einen Zusammenhang zwischen Lernstörungen und emotionalen Problemen herzustellen. Als Reflexionsgrundlage dienen Winnicotts Auffassungen der „haltenden Umwelt“. Inwieweit das Fehlen einer haltenden Umwelt das Lernen behindern und zu sonderpädagogischem Förderbedarf führen kann, wird anhand einer Fallgeschichte aus dem Schulalltag erläutert.
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35 Fachbeitrag 1 Die haltende Umwelt und das schulische Lernen Während bei Lehrer/ innen und Bildungspolitikern die Auffassung vorzuherrschen scheint, schulisches Lernen bestehe einerseits aus einem kontinuierlichen Wissenszuwachs und sei andererseits allein durch eine optimale Passung von Lernvoraussetzungen, inhaltlichem Lernangebot und der entsprechenden Methodik zu gewährleisten, zeichnen neuere Erkenntnisse der Neurobiologie ein komplexeres Bild der Lernvorgänge und notwendigen Lernbedingungen (vgl. Hüther 2004; Katzenbach 2004). Folgende Aspekte scheinen in diesem Zusammenhang besonders wichtig zu sein: n Lernen ist ein diskontinuierlicher Prozess. Lernen vollzieht sich in Sprüngen und scheinbaren Rückschritten. n Lernen bedeutet die Reorganisation bzw. Umstrukturierung vorhandener kognitiver Strukturen. n Lernen geschieht im Dialog mit der sozialen Umwelt und in handelnder Auseinandersetzung mit der Gegenstandswelt. n Beim Lernen greifen emotionale und kognitive Prozesse untrennbar ineinander. Eine Konzeption des Lernens, in der zum einen dem Dialog mit der sozialen Umwelt eine zentrale Bedeutung für das Lernen zukommt und sich zum anderen kognitive und emotionale Prozesse nicht voneinander trennen lassen, weist Verbindungen zu psychoanalytischen Auffassungen des Lernens und zur Bindungstheorie auf. Gleich in zwei neueren Aufsatzsammlungen wird versucht, diese interdisziplinäre Verbindung herzustellen (Dammasch/ Katzenbach 2004 und Eggert-Schmid Noerr/ Pforr/ Voß-Davies 2006). Eriksons Konzept des Lucien „will“ nicht lernen - eine pädagogisch-psychologische Fallgeschichte Ilka Hoffmann Helene-Demuth-Schule St. Wendel n Zusammenfassung: In dem Beitrag wird versucht, einen differenzierten, von der individuellen Lebenssituation des betroffenen Kindes ausgehenden Blick auf Lernstörungen zu werfen. Hierbei wird versucht, einen Zusammenhang zwischen Lernstörungen und emotionalen Problemen herzustellen. Als Reflexionsgrundlage dienen Winnicotts Auffassungen der „haltenden Umwelt“. Inwieweit das Fehlen einer haltenden Umwelt das Lernen behindern und zu sonderpädagogischem Förderbedarf führen kann, wird anhand einer Fallgeschichte aus dem Schulalltag erläutert. Schlüsselbegriffe: Lernstörungen, emotionale Probleme, haltende Umwelt, Fallgeschichte Lucien Does Not “Want” to Learn - a Pedagogic Psychological Case Study n Summary: In her article, the author takes a differentiated look at learning difficulties with a view to the individual life situation of the child. She tries to establish a relation between learning disabilities and emotional processes. Her reflections are based on Winnicott’s concept of the „Facilitating Environment“. By means of a case study, she comments to what extent the lack of a facilitating environment may hamper learning processes and lead to special educational needs. Keywords: Learning difficulties, emotional problems, facilitating environment, case study VHN, 77. Jg., S. 35 - 42 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel VHN 1/ 2008 36 „Urvertrauens“ und Winnicotts Ausführungen zur „haltenden Umwelt“ könnten innerhalb der Diskussion um die Entstehung von Lern- Behinderungen eine neue Aktualität erhalten. So bemerkt Dieter Katzenbach in seiner Aufarbeitung neurobiologischer Erkenntnisse: „Kognitive Reorganisation verlangt den Verzicht auf frühere Gewissheiten und führt notwendig zu Irritationen. Kognitive Reorganisation erfordert offenbar die Fähigkeit, eine Phase der Verunsicherung aushalten und überstehen zu können“ (Katzenbach 2004, 92). Die Grundlage dieser Fähigkeit scheinen gelungene Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit zu sein. Wie kein anderer hat Winnicott versucht, die Erkenntnisse der Bindungstheorie mit psychoanalytischem Denken zu verbinden. Da seine Überlegungen besonders hilfreich zur Reflexion von Verhaltensauffälligkeiten und Lernproblemen zu sein scheinen, sollen im Folgenden kurz einige seiner Grundgedanken skizziert werden. Winnicott hat den Rahmen, in dem positive Bindungserfahrungen gemacht werden können, als „haltende“ bzw. „fördernde Umwelt“ bezeichnet. Zur fördernden Umwelt gehört zunächst - vor allem in der frühen Säuglingszeit - das richtige „Halten“. Für Winnicott umfasst es „die ganze Pflegeroutine, während des Tages und der Nacht, und sie ist bei jedem Säugling anders, weil sie Teil des Säuglings ist und weil kein Säugling dem anderen gleicht. Es folgt ebenfalls den winzigen Veränderungen, die von Tag zu Tag eintreten und zur physischen und psychischen Entwicklung des Säuglings gehören“ (Winnicott 1965/ 1974, 63). Wenn Winnicott hervorhebt, dass die Pflege bei jedem Säugling eine andere sein und sich den „winzigen Veränderungen“ in der Entwicklung anpassen müsse, so wird hier ein Aspekt angesprochen, der neuerdings innerhalb der Resilienzforschung wieder eine wichtige Rolle spielt: die Bedeutung des Einfühlungsvermögens der Eltern für die emotionale Entwicklung und den späteren Umgang mit Problemen und Konflikten (vgl. Göppel 1997, 172f ). Weitere wichtige Aspekte der fördernden Umwelt sind der Dialog mit der sozialen Umwelt und der Umgang mit Objekten. Winnicott versuchte die in den meisten Entwicklungstheorien vorherrschende Trennung zwischen äußerer Tätigkeit und innerem Erleben aufzuheben. Zentral sind in diesem Zusammenhang die Begriffe „Übergangsobjekt“ und „Übergangsphänomen“ (vgl. Winnicott 1971/ 2002). Das Übergangsobjekt eines Kleinkindes kann vielerlei konkrete Gestalten annehmen. Es kann beispielsweise der Zipfel einer Decke, ein Kissen oder ein bestimmtes Spielzeug sein, das für das Kind die Rolle eines Beschwichtigers bei Ängsten und während der zeitweiligen Trennung von der primären Bezugsperson übernimmt. Übergangsobjekte stellen somit einen ersten Schritt der Lösung von der Mutter und der Hinwendung zur äußeren Realität dar. Die gleiche Funktion haben auch „Übergangsphänomene“, worunter Winnicott Verhaltensweisen wie beispielsweise das Lallen oder Summen beim Schlafengehen, das Daumenlutschen bei gleichzeitigem Festhalten eines Deckenzipfels und dergleichen mehr versteht. Übergangsobjekte und -phänomene sind in einem „intermediären Raum“ (oder Übergangsraum) zwischen äußerer und innerer Realität angesiedelt. Ihr Auffinden und Gebrauch durch das Kleinkind stellt die erste kreative Auseinandersetzung mit der dinglichen Umwelt dar und ist eine wesentliche Grundlage für die Symbolbildung. Nach Winnicotts Auffassung bestehen alle kreativen Erfahrungen (wozu auch jedes sinnvolle und nachhaltige Lernen zu rechnen ist) in der Übereinstimmung von innerem Erleben und äußerer Erfahrung, finden also im „intermediären Raum“ statt. Diese Sichtweise wird gestützt durch die neurobiologische Erkenntnis, dass die Variable, die den Lernprozess am stärksten beeinflusst, die Ilka Hoffmann VHN 1/ 2008 37 psychische Verfassung des Lernenden ist (Hüther 2004, 20ff ). Insofern lassen sich Lern- und Verhaltensprobleme in der Schule häufig schwer voneinander trennen. Für die Gestaltung der Lernbedingungen an unseren Schulen ergeben sich hieraus Konsequenzen, die den gängigen Effizienzmodellen diametral widersprechen. Natürlich haben Lehrpersonen in der Schule nicht nur mit einzelnen Lernenden zu tun, sondern auch und vor allem mit größeren Gruppen von Lernenden. Die Gruppenmitglieder fördern oder behindern einander dabei in unterschiedlichem Maße in ihrem Lernverhalten. Das Lernen in der Gruppe verlangt von den einzelnen Mitgliedern ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, Rücksichtnahme und die Anpassung an Verhaltensregeln. In fast jeder Klasse gibt es einzelne Schüler, die hiermit überfordert sind. Sie gelten häufig als untragbar in den Regelschulen, werden in Schulen für Erziehungshilfe umgeschult oder medikamentös behandelt. Die vorherrschenden Diagnosen für manifestes Fehlverhalten folgen dabei den verschiedenen medizinischen Moden. Wurde in den 1980er Jahren die „minimale cerebrale Dysfunktion“ als ursächlich angesehen, so ist es heute ADHS. Beiden Diagnosen sind ein monokausaler Begründungszusammenhang und eine Reduzierung komplexer Lern- und Verhaltensstörungen auf ein einheitliches Krankheitsbild gemeinsam. Die scheinbare Objektivität dieser medizinischen Störungsbilder fügt sich recht gut in die positivistischen Tendenzen der Schulpädagogik ein. Hier könnten Reflexionen auf der Grundlage psychoanalytischer Pädagogik ein nützliches Korrektiv darstellen. Die Einbeziehung psychoanalytischer Theorien kann zu einer subjektbezogenen „Neubestimmung von Pädagogik selbst führen […].Psychoanalytische Theoriebildungen sind in diesem Zusammenhang nicht Theorien einer ‚Hilfswissenschaft‘, deren sich die Pädagogik bedienen kann, um gelegentlich pädagogische Einsichten zu vertiefen oder pädagogische Probleme einmal aus psychoanalytischer Sicht zu analysieren, sondern vielmehr Theorien, die auch zur Neudiskussion der Frage führen, worauf pädagogische Einsichten gerichtet sind, was die Spezifität pädagogischer Probleme ausmacht, wie pädagogische Praxis auszugestalten ist oder wovon Pädagogik als Wissenschaft handelt“ (Datler 2001, 124). In diesem Sinne ist auch die folgende Fallgeschichte zu verstehen, die der Arbeit der Autorin zu männlichem Schulversagen entnommen ist (vgl. Hoffmann 2006, 227ff ). Mit ihr sollen die Zusammenhänge zwischen Bindungserfahrungen, emotionalem Erleben und schulischem Lernen näher beleuchtet werden. 2 Lucien - eine Fallgeschichte Lucien wurde mit sechs Jahren regulär in die Grundschule seines Heimatdorfs eingeschult. Schon am zweiten Tag rannte er aus der Klasse und versteckte sich im Gebüsch. Er schrie und schlug um sich, wenn die Lehrerin ihn dazu bewegen wollte, in den Klassenraum zurückzukommen. Mit der Zeit beruhigte er sich etwas und blieb an manchen Tagen in der Klasse. Allerdings reagierte er auf nahezu alle Arbeitsanforderungen mit vehementer Verweigerung. Er schrie oder setzte sich unter den Tisch und war nicht zu bewegen, sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen. Nach wenigen Monaten meldete ihn die Schule zur Überprüfung auf sonderpädagogischen Förderbedarf. Die überprüfende Sonderschullehrerin stellte bei knapp durchschnittlicher Intelligenz eine ausgeprägte Sprachentwicklungsverzögerung und Erziehungshilfebedarf fest. Noch während des ersten Schuljahres wurde der Junge an die Schule für Erziehungshilfe umgeschult. Lucien „will“ nicht lernen VHN 1/ 2008 38 Die Überweisung an die neue Schule brachte für Lucien eine fast einstündige Busfahrt mit größeren, zum Teil aggressiven Jungen mit sich, die ihn hänselten und vor denen er sich fürchtete. Es bedeutete ferner sehr frühes Aufstehen, was für Lucien, der aufgrund häufiger Albträume schlecht schlief, eine große psychische Belastung darstellte. Müde und verängstigt kam er morgens in der Schule an. Ich lernte Lucien zunächst im Rahmen meines Förderunterrichts (Sprachförderunterricht und Schriftspracherwerb) kennen. Mit seinen zarten Gesichtszügen, seiner zierlichen Statur und den längeren Haaren wirkte er wie ein Mädchen - eben dies war auch das Wort, mit dem er auf dem Schulhof von seinen Mitschülern gehänselt wurde. In den ersten Monaten versuchte sich Lucien förmlich zu „verkriechen“: Meist trug er Pullis mit angenähter Kapuze und zog sich diese tief ins Gesicht. In der Klasse redete er mit niemandem. Wurde er angesprochen, so vergrub er den Kopf zwischen seinen Armen. Auf Leistungsanforderungen reagierte er des Öfteren mit lauten, schrillen Schreien oder warf sich unter den Tisch, wo er dann regungslos liegen blieb. Zuweilen zerriss er auch Bilder, die er selbst gemalt hatte. Als ich Lucien das erste Mal zum Förderunterricht abholte, legte er seinen Kopf auf die Bank und blieb regungslos sitzen. Erst bei meinem zweiten Besuch in der Klasse war er bereit mitzugehen und wurde dann rasch auch zugänglicher. Beim gemeinsamen Betrachten von Bilderbüchern fiel mir auf, dass er auf dem Sprachstand eines Kleinkinds war: Er zeigte die typischen Stammelfehler von Kleinkindern, kannte sehr viele Wörter nicht und bildete Einbis maximal Zwei-Wort-Sätze. Als er meiner Klasse zugeteilt wurde, fühlte sich Lucien in der kleinen Gruppe zunächst sicherer. Die Klasse bestand zu dieser Zeit aus vier Jungen im Alter von sieben bis zehn Jahren. Aus Raummangel war unsere Klasse im Elternsprechzimmer untergebracht. Jedes Kind „bewohnte“ eine Ecke des Raumes und konnte diese mit selbst gemalten Bildern oder gelungenen Arbeitsergebnissen gestalten. Lucien identifizierte sich sehr stark mit seinem Sitzplatz und brachte auch einen Teddybär und ein kleines Kissen von zu Hause mit. Zunächst entwickelte sich der Junge in einem recht positiven Sinn. Zumindest im Rechnen machte er nun recht schnelle Fortschritte und war auch eher bereit, sich Anforderungen zu stellen. Ein großes Problem blieb jedoch der Schriftspracherwerb. Lucien hatte große Probleme, Laute voneinander zu unterscheiden, ähnlich klingende Wörter und Reime zu erkennen oder sich die Gestalt eines Buchstabens zu merken. Lediglich einige für ihn bedeutsame Ganzwörter prägte er sich ein. Insgesamt nahm Luciens Entwicklung im ersten Jahr unserer Klasse einen positiven Verlauf. Er wurde etwas kontaktfreudiger und begann mit einzelnen Schülern und Lehrer/ innen zu sprechen. Um ihn in seiner individuellen Entfaltung zu ermuntern, ließ ich ihm anfangs sehr viele Freiräume. Wenn er etwa im Treppenhaus herumhüpfte und dabei Lärm verbreitete, ließ ich es eher zu als bei anderen Schülern, da ich dieses Verhalten in seinem Fall als Zeichen eines neu gewonnenen Vertrauens in die schulische Umgebung deutete, das ich nicht enttäuschen wollte (auch wenn dies vereinzelt zu Konflikten mit Mitschülern und Kollegen führte). Aufgaben stellte ich ihm nur wohl dosiert und in einer Form, von der ich sicher war, dass er sie erfolgreich bearbeiten konnte. Ich ließ ihm Rückzugsmöglichkeiten, die er für das Malen und das Bauen mit Steckwürfeln nutzte - er bildete sogar recht komplizierte „Bauwerke“ aus dem Rechenbuch nach. Seine Bilder waren häufig humorvoll und in sehr bunten und lebensfrohen Farben gehalten - ein auffallender Gegensatz zu seinem oft traurigen Gesichtsausdruck. Allmählich wagte sich Lucien auch an komplexere Lerninhalte heran. Seine Schreiattacken waren mit der Zeit extrem selten geworden, und er kam oft sogar in fröhlicher Stimmung zur Schule. Ilka Hoffmann VHN 1/ 2008 39 Nach einiger Zeit kamen allerdings weitere Kinder in unsere Klasse. Wir mussten in einen größeren Klassenraum umziehen. Nach diesem Umzug zeigte Lucien recht bald starke Rückschritte in seinem Verhalten. Auf den Verlust seines Nischenplatzes im Elternsprechzimmer reagierte er mit dem Bau einer „Barrikade“ aus Schulbänken und Kissen um seinen Sitzplatz herum. Seine Schreianfälle wurden wieder häufiger, und auch die Lernverweigerung nahm erneut zu. Die Kontakte, die er zu einzelnen Lehrer/ innen und Mitschülern aufgebaut hatte, blieben zwar stabil, doch hat er - trotz der verschiedensten Förderversuche (auch in außerschulischen Einrichtungen) - bis heute nicht lesen und schreiben gelernt. 3 Psychoanalytisch-pädagogische Überlegungen zu Luciens Lernbiografie Um Luciens extreme Lernverweigerung zu verstehen, muss die familiäre Situation berücksichtigt werden. Lucien ist das mittlere Kind einer deutsch-französischen Familie, die in einem stark renovierungsbedürftigen Häuschen in einem kleinen Dorf lebt, zu dessen hermetischer Dorfgemeinschaft sie auch nach Jahren keinen Anschluss gefunden hat. Das Familienleben wurde stets durch chronischen Geldmangel, Schulden und das cholerische, gewalttätige Verhalten des Vaters belastet. Dieser war dauerhaft arbeitslos und kümmerte sich kaum um die Haus- und Erziehungsarbeit. Die Mutter litt unter der Doppelbelastung von diversen schlecht bezahlten Jobs und Haushalt. Während der Vater für Lucien wegen seiner Aggressivität ein Angstobjekt darstellte, verkörperte die Mutter für ihn Geborgenheit. Sie akzeptierte ihren Sohn und versuchte ihn zu beschützen. Allerdings war sie aufgrund der ökonomischen und sozialen Belastungen, denen die Familie ausgesetzt war, nicht immer in vollem Maße verfügbar. So entwickelte sich bei Lucien eine „unsicher-ambivalente Bindung“ an die Mutter. Bowlby versteht darunter eine Bindung, bei welcher das Kind „unsicher ist, ob seine Eltern verfügbar, responsiv oder hilfsbereit sein werden, wenn es sie braucht. Aufgrund dieser Unsicherheit neigt das Kind zuTrennungsangst, klammert sich oft an und ist ängstlich in der Erkundung der Umwelt“ (Bowlby 1975, 25). Die neuen Anforderungen, welche die Schule an ihn stellte, empfand Lucien folglich als Bedrohung, vor der er instinktiv zu seiner Mutter zurückzufliehen versuchte. Statt ihn in seiner Autonomieentwicklung zu unterstützen, hemmte die Schule diese Entwicklung im Endeffekt: Da Lucien den dort verlangten Anpassungsleistungen psychisch in keiner Weise gewachsen war, hielt er nur umso fester an kleinkindlichen Verhaltensmustern und Sprachformen fest (die er als Garant für den Erhalt der Bindung an die Mutter empfand). Mit Katzenbach ließe sich sein Verhalten so deuten, dass Lucien nicht über die Fähigkeit verfügte, die Irritationen, die das schulische Lernen mit sich brachte, auszuhalten: Das Lernen war für ihn „zu riskant“ (Katzenbach 2004, 83ff ). Die Überweisung Luciens an die Schule für Erziehungshilfe ist vor diesem Hintergrund ambivalent zu beurteilen: Einerseits wurde diese größtenteils von Jungen besucht, die durch ausagierendes, gewalttätiges Verhalten aufgefallen waren, ihn also eher an den ebenfalls gewalttätigen Vater erinnerten. Andererseits bestand in der anfänglichen Kleinklasse die Möglichkeit, differenzierend und subjektbezogen zu arbeiten. Die familiennahe Atmosphäre schien es Lucien zu erleichtert, die Mutterbindung teilweise auf die Beziehung zur Lehrerin zu projizieren. Ein Hinweis hierauf war, dass er seine „Übergangsobjekte“ (Teddybär und Kissen) mit in die Schule brachte. Er konnte so teilweise ein positiveres Verhältnis zur Schule und zum Lernen sowie überhaupt zu seiner sozialen Umwelt entwickeln. Dies drückte sich u. a. in der Zunahme an Kontakten zu Mitschülern und Lehrkräften aus. Lucien „will“ nicht lernen VHN 1/ 2008 40 Die Verweigerung gegenüber Lernanforderungen im Schriftspracherwerb, die mit massiven Ängsten einherging, konnte allerdings auch in der Kleinklasse nur teilweise gemindert werden. Innerhalb der Legasthenie-Forschung wird meist davon ausgegangen, dass es sich bei Problemen beim Schriftspracherwerb um eine Teilleistungsstörung oder um die Folgen eines linguistisch und pädagogisch nicht angemessenen Lese-Schreiblehrgangs handelt. Offensichtlich sind diese Erklärungsansätze nicht immer hinreichend. Rose Ahlheim und Erika Mertens (2006) zeigen anhand von Fallbeispielen, wie eng Probleme mit der Schriftsprache mit familiären Beziehungskonflikten und Symbolbildungsstörungen zusammenhängen können. Bei Lucien schien die Abwehr gegenüber dem Lesen und Schreiben sowie seine Sprachentwicklungsstörung unmittelbar mit seinen Trennungsängsten in Verbindung zu stehen. Das Rechnenlernen war dagegen weniger von Beziehungskonflikten belastet. Hier zeigte Lucien fast altersgemäße Leistungen. Möglicherweise hätte Lucien im „therapeutischen Schonraum“ des Einzelunterrichts durchaus seine Ängste vor der Schrift überwinden können. Die Vertrauensbasis in der Klassengemeinschaft war hingegen allem Anschein nach zu gering, um sich auf das „Wagnis“ des Lesen- und Schreibenlernens einzulassen. Leider war in der Organisationsstruktur der betreffenden Schule die Möglichkeit von Einzelförderung nur kurzzeitig und in Ausnahmefällen gegeben. Der Umzug in einen größeren Klassenraum, der die Aufgabe seines Nischenplatzes mit sich brachte, und die ständige Veränderung der Gruppenstruktur reaktivierten in Lucien dann auch wieder die anfänglichen Gefühle des Bedrohtseins durch die fremde Umgebung, was zu einem Rückfall in regressive Verhaltensweisen führte. Schulorganisatorische Zwänge hatten in diesem Fall also eine unmittelbar entwicklungshemmende Wirkung. Bei mehr Kontinuität in der Gruppenstruktur und einer regelmäßigen und längerfristigen Möglichkeit von Einzelunterricht hätte Lucien eher die Chance gehabt, sich weiterzuentwickeln. Stattdessen führte die von ihm als chaotisch wahrgenommene schulische Umwelt dazu, dass sich seine Tendenzen zu einer Flucht in regressive, seine Autonomieentwicklung hemmende Verhaltensweisen (Schreien, komplexe Sprachentwicklungsverzögerung und Lernverweigerung) weiter verfestigten. 4 Schlussfolgerung und Ausblick An Luciens Lerngeschichte lassen sich die hemmenden und fördernden Aspekte der Lernumgebung recht gut nachvollziehen. Fördernd wirkte sicherlich die engere Beziehung zur Klassenlehrerin in der Kleinklasse. Lucien lernte, sich Anforderungen im Rechnen zu stellen und sich verbal mit Lehrpersonen und Mitschülern auszutauschen. Unmittelbar hemmend wirkte die Gruppendynamik, die sich aus der sukzessiven Vergrößerung der Klasse ergab. Sie führte auch zu einer Reinszenierung der Trennungserfahrung von der Mutter, indem der Schonraum einer gelegentlichen Einzelförderung und die verstärkte emotionale Zuwendung der Klassenlehrerin entfielen. Dies zeigt, dass Schulen für Erziehungshilfe sowie auch Förderschulen, wenn sie eine pädagogische Berechtigung haben und nicht nur der Entlastung der Regelschulen dienen sollen, die Möglichkeit von Einzelunterricht und langfristig stabiler Gruppenstruktur bieten müssen. Luciens Lerngeschichte ist auch ein Beleg dafür, dass herkömmliche Auffassungen von gutem Förderunterricht, der auf einer angemessenen Diagnose und den entsprechenden, auf die Defizite zugeschnittenen Übungen beruht, unzureichend sind. Lernstörungen können weitaus komplexere Ursachen haben als Lernrückstände oder methodische Mängel im Unterricht. Sie sind nicht selten Symptom einer insgesamt belastenden Lebenssituation. Inso- Ilka Hoffmann VHN 1/ 2008 41 fern sind sie dann auch nicht mehr ein rein innerschulisches Problem, sondern nur in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Einrichtungen der Jugendhilfe und zusätzlichen therapeutischen Angeboten zu beheben. Auch hier ergeben sich indessen im Schulalltag große Probleme, wie Thomas von Freyerberg und Angelika Wolf (2005) in einem Forschungsprojekt mit nicht beschulbaren Jugendlichen feststellen konnten. Ein differenzierter Blick auf die jeweilige psychische und soziale Situation der Schulkinder und eine professionelle interdisziplinäre Zusammenarbeit mit außerschulischen Kräften könnten sicherlich zu neuen, kreativeren Lösungen als den im Schulalltag üblichen Selektionsentscheidungen führen. Bildungspolitisch sind Bedingungen zu fordern, welche die organisatorische Flexibilität bieten, die für die Förderung psychosozial belasteter Schüler notwendig ist. Literatur Ahlheim, Rose (2004): Zur Psychodynamik von Lese-Rechtschreib-Störungen. In: Dammasch, Frank; Katzenbach, Dieter (Hrsg.): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zum besseren Verstehen von Schülern, Lehrern, Eltern und Schule. Frankfurt/ M. 2004, 201 - 220 Bowlby, John (1975): Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. München Dammasch,Frank; Katzenbach,Dieter(Hrsg.)(2004): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zum besseren Verstehen von Schülern, Lehrern, Eltern und Schule. Frankfurt/ M. Datler, Wilfried (2001): Zur Frage nach dem Bildungsbegriff (in) der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Muck, Mario; Trescher, Hans-Georg (Hrsg.): Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Gießen, 100 - 129 Eggert-Schmid Noerr, Annelinde; Pforr, Ursula; Voß-Davies, Hilke (Hrsg.) (2006): Lernen, Lernstörungen und die pädagogische Beziehung. Gießen Freyberg, Thomas von; Wolff, Angelika (2005): Störer und Gestörte. Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher. Frankfurt/ M. Göppel, Rolf (1997): Ursprünge der seelischen Gesundheit. Risiko- und Schutzfaktoren in der kindlichen Entwicklung. Würzburg Hoffmann, Ilka (2006): „Gute“ Jungs kommen an die Macht, „böse“ in die Sonderschule. Bedingungen der Entstehung und Verstärkung von Lernproblemen und Verhaltensauffälligkeiten männlicher Kinder und Jugendlicher. Saarbrücken Hüther, Gerald (2004): Woher kommt die Lust am Lernen? Neurobiologische Grundlagen intrinsisch und extrinsisch motivierter Lernprozesse. In: Dammasch, Frank; Katzenbach, Dieter (Hrsg.): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zum besseren Verstehen von Schülern, Lehrern, Eltern und Schule. Frankfurt/ M., 17 - 32 Katzenbach, Dieter (2004): Wenn das Lernen zu riskant wird. Anmerkungen zu den emotionalen Grundlagen des Lernens. In : Dammasch, Frank; Katzenbach, Dieter (Hrsg.): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zum besseren Verstehen von Schülern, Lehrern, Eltern und Schule. Frankfurt/ M., 83 - 104 Katzenbach, Dieter (2006): „Es schnackelt nicht…“. Kontinuierliche und diskontinuierliche Prozesse beim Lernen und ihre emotionale Bedeutung. In: Eggert-Schmid Noerr, Annelinde; Pforr, Ursula; Voß-Davies, Hilke (Hrsg.): Lernen, Lernstörungen und die pädagogische Beziehung. Gießen, 85 - 107 Mertens, Erika (2004): Tatort: Sprache. Zur Psychodynamik der Lese-Rechtschreibschwäche. In: Dammasch, Frank; Katzenbach, Dieter (Hrsg): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zum besseren Verstehen von Schülern, Lehrern, Eltern und Schule. Frankfurt/ M.,177 - 200 Muck, Mario; Trescher, Hans-Georg (Hrsg.) (2001): Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Gießen Winkler, Michael (2006): Lernen und vergessen - wie die späte Moderne die Bedingungen des Aufwachsens verändert. In: Eggert-Schmid Noerr, Annelinde; Pforr, Ursula; Voß-Davies, Hilke (Hrsg.): Lernen, Lernstörungen und die pädagogische Beziehung. Gießen, 13 - 37 Lucien „will“ nicht lernen VHN 1/ 2008 42 Winnicott, Donald W. (1974/ 2002): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt (The maturational processes and the facilitating environment, 1965). München 1974 (unveränd. Neuaufl. Gießen 2002) Winnicott, Donald W. (1982): Familie und individuelle Entwicklung (The family and individual development, 1965). Frankfurt/ M. Winnicott, Donald W. (2002): Vom Spiel zur Kreativität (Playing and reality, 1971). Stuttgart Dr. Ilka Hoffmann Helene-Demuth-Schule Sonderpädagogisches Förderzentrum D-66606 St. Wendel E-Mail: di_hoffmann@hotmail.com Ilka Hoffmann