eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 77/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Trend: Integration und Qualifikation

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2008
Franz B. Wember
Wenn man die internationale Literatur zur Heil- und Sonderpädagogik studiert, etwa die vergleichenden Übersichten von Bürli (2003) oder Hausotter (2000), dann fällt zunächst die Vielfalt von Begriffen und Theorien, Problemen und Problemlösungen ins Auge – eine Vielfalt, die sich nicht auf einige wenige griffige Formeln bringen lässt. Wenn man versucht, die leitenden Fragestellungen hinter dieser Vielfalt zu entdecken, kann man zwei Leitmotive rekonstruieren, die seit Jahrzehnten die fachinterne Diskussion anregen und die immer wieder aufs Neue, bisweilen auch kontrovers, erörtert werden: die soziale Integration und die individuelle Qualifikation. Integration liegt im Trend, Qualifikation scheint etwas aus der Mode gekommen.
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57 Wenn man die internationale Literatur zur Heil- und Sonderpädagogik studiert, etwa die vergleichenden Übersichten von Bürli (2003) oder Hausotter (2000), dann fällt zunächst die Vielfalt von Begriffen und Theorien, Problemen und Problemlösungen ins Auge - eine Vielfalt, die sich nicht auf einige wenige griffige Formeln bringen lässt. Wenn man versucht, die leitenden Fragestellungen hinter dieser Vielfalt zu entdecken, kann man zwei Leitmotive rekonstruieren, die seit Jahrzehnten die fachinterne Diskussion anregen und die immer wieder aufs Neue, bisweilen auch kontrovers, erörtert werden: die soziale Integration und die individuelle Qualifikation. Integration liegt im Trend, Qualifikation scheint etwas aus der Mode gekommen. Zwei Leitmotive heilpädagogischen Denkens und Tuns Integration ist das erste Leitmotiv heilpädagogischen Denkens und Handelns. Damit ist schlicht und ergreifend gemeint, dass alle Menschen in einer Gesellschaft zusammen leben und für niemanden besondere Aufenthaltsorte vorgesehen sind, es sei denn, sie werden aus freien Stücken gewählt oder sie lassen sich in bestimmten Zwangslagen nicht vermeiden. In einer integrativen Gesellschaft leben die sozial benachteiligten Menschen ebenso wie die Menschen mit Behinderungen mitten unter uns. Sie sind überall dabei. Sie begegnen uns auf der Straße, im Kino, an der Arbeitsstelle. Sie müssen als Kinder keine besonderen Kindergärten oder Schulen besuchen, sie müssen als Jugendliche nicht in besondere Berufsbildungswerke gehen, und sie müssen als Erwachsene nicht in speziellen Heimen oder Wohngruppen leben. Das zweite Leitmotiv heilpädagogischen Denkens und Handelns ist die individuelle Qualifikation als Entwicklungsförderung. Damit ist gemeint, dass die Heilpädagogik ihre vorrangige Aufgabe darin sehen muss, benachteiligten und behinderten Menschen mit pädagogischen Mitteln zu helfen, sich möglichst gut zu entwickeln. Heilpädagogik muss Bildung und Erziehung unter erschwerten Bedingungen leisten und zu einer ganzheitlichen Entfaltung der kognitiven, emotionalen und sozialen Kräfte der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen beitragen (Wember 2003). Aus dem Integrationsmotiv lässt sich für Schule und Unterricht folgern, dass möglichst alle benachteiligten und behinderten Kinder integriert beschult werden sollten, damit es erst gar nicht zu Aussonderungen kommt und damit das gemeinsame Erleben in Kindertagen die soziale Integration im Erwachsenenalter vorbereitet. Der Qualifikationsfunktion kommt hierbei jedoch nicht selten instrumentelle Bedeutung zu; die Möglichkeiten der beruflichen Eingliederung hängen nämlich z. B. neben vielen außerindividuellen Bedingungen auch vom Wissen und Können des oder der Einzelnen ab, und auch wenn eine integrationsfähige Schulklasse bereit ist, jede und jeden aufzunehmen, wird sich das gemeinsame Leben und Lernen mehr oder weniger leicht gestalten, und dies hat durchaus auch mit den mehr oder minder erfolgreich verlaufenden Lern- und Entwicklungsprozessen der benachteiligten und behinderten Schülerinnen und Schüler zu tun. Trend Integration und Qualifikation Franz B. Wember Universität Dortmund VHN, 77. Jg., S. 57 - 60 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel VHN 1/ 2008 58 Die effektive Förderung von Fertigkeiten und Fähigkeiten Schule muss sich immer wieder neu erfinden. Die Bedingungen, unter denen Kinder heute aufwachsen, erfordern einen Unterricht, der auf eigenständige und von den Lernenden selbst verantwortete schulische Arbeit setzt. Formen des offenen Unterrichts haben längst in Regelschulen, Förderschulen und Sonderschulen Einzug gehalten, z. B. die freie Arbeit und das Lernen in Werkstätten, das selbstständige Lernen nach Wochenplänen, das gemeinsame produktive Tun in Projekten. Offene schulische Lernumwelten, in denen die Lernenden an der Auswahl der Inhalte und Methoden beteiligt werden, bieten auch benachteiligten und behinderten Kindern entwicklungsförderliche Anregungen, aber eine effektive heilpädagogische Förderung muss diesen Kindern mehr bieten als unspezifische Anregungen. Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf brauchen einen didaktisch und methodisch adaptierten Unterricht (Wember 2001). Viele müssen sich intensiv mit Inhalten beschäftigen, die für andere Heranwachsende nicht oder weniger relevant sind, z. B. basale Wahrnehmungsförderung, das Training alltagspraktischer Fertigkeiten, Unterricht in Punktschrift oder Mobilitätstraining. Oft lernen Kinder mit besonderem pädagogischem Förderbedarf weniger, langsamer und fehleranfälliger, sie können Anregungen spontan und ohne Anleitung weniger effektiv nutzen, sie brauchen häufiger als andere die explizite Anleitung und die systematische Übung. Die sonderpädagogische Förderung von Fertigkeiten und Fähigkeiten kann deshalb nicht sporadisch erfolgen, sie muss langfristig und intensiv angelegt sein, und sie sollte Merkmale effektiver Förderung beachten, die sich in der Praxis immer wieder bewähren: didaktisch und methodisch geplantes, diagnostisch fundiertes, spezifisch ausgerichtetes und individualisiert adaptiertes Unterrichten bei kontinuierlicher praxisbegleitender Evaluation (vgl. Foorman/ Torgesen 2001; Kauffman/ Hallahan 2005, 47 - 56; Scruggs/ Mastropieri 1995; Zigmond, 2003). • Geplant erfolgt eine Förderung dann, wenn mögliche Ziele der Förderung mit dem Kind und mit den Eltern besprochen und in eine gemeinsam akzeptierte Rangfolge gebracht werden. Darüber hinaus sollten Zwischenziele formuliert und Zeiträume für die Förderung vereinbart werden. • Diagnostisch fundiert ist eine Förderung dann, wenn sie mit einer sorgfältigen Analyse der Lernvoraussetzungen des Kindes beginnt, damit das Kind vom Heilpädagogen/ von der Heilpädagogin an der Stelle in seiner Entwicklung abgeholt werden kann, an der es sich gerade befindet. Diagnostisch fundierte Förderung heißt darüber hinaus, dass die Förderung praxisbegleitend geprüft wird, denn nur dann kann man feststellen, ob sich die erhofften Wirkungen einstellen oder ob Veränderungen am Programm vorgenommen werden sollten. • Spezifisch ist ein Förderprogramm dann ausgerichtet, wenn es nicht allgemein Fähigkeiten zu fördern vorgibt, sondern spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die auf bestimmte lebenspraktisch wertvolle Qualifikationen hinzielen und nachweislich zu deren Erwerb beitragen. • Individualisiert erfolgt eine Förderung dann, wenn sie nicht nur diagnostisch fundiert beginnt, sondern praxisbegleitend evaluiert und auf das einzelne Kind abgestimmt wird. Immer wieder sollte geprüft werden, ob das Kind erfolgreich lernt und den spezifischen Lernzielen näher kommt; denn nur bei wiederkehrenden, den Lernprozess begleitenden Messungen kann man drohenden Misserfolg frühzeitig feststellen und versuchen, die Fördermaßnahmen inhaltlich und methodisch neu auszurichten und individuell anzupassen. Franz B. Wember VHN 1/ 2008 59 Heilpädagogische Förderung - ein Leistungstraining? Heilpädagogische Förderung ist mehr als eine effektive Förderung von Lernleistungen im Sinne individueller Qualifikationen, aber sie ist ohne eine solche schwer vorstellbar. Tanzen und Singen, Spiel und Spaß sind wichtig, auch und gerade bei benachteiligten und behinderten Kindern und Jugendlichen, aber auch Tanzen und Singen, Spiel und Spaß wollen erlernt sein, die Freude am musischen Erleben und Tun wird über zunehmend zu erwerbende Kompetenzen gesteigert. Das verbindende Erleben in einer akzeptierenden und solidarischen Gemeinschaft unterschiedlichster Individuen darf nicht an kognitive oder motorische Mindestleistungen geknüpft werden, aber gemeinsames Lernen kann nur stattfinden, wenn wirklich alle lernen und wenn alle gefördert werden, allein das Zusammensein in einem Raum sichert bekanntlich keine Integration. Die weitreichende Vision einer inklusiven Schule schließlich, die eine optimale Bildung und Erziehung aller garantieren soll, setzt voraus, dass auch die Schülerinnen und Schüler erfolgreich das für sie Wichtige lernen, denen das Lernen besonders schwer fällt. Die Förderung individueller Qualifikationen ist und bleibt deshalb eine Kernaufgabe der Heil- und Sonderpädagogik (Wember 2003). Die Heil- und Sonderpädagogik ist eine angewandte Disziplin. Sie bezieht als solche ihre Legitimation aus dem Beitrag, den sie zur Verbesserung der Lebensumstände von benachteiligten und behinderten Menschen zu leisten vermag. Eine Verbesserung der Lebensqualität eines Menschen, der sozial randständig ist oder dies zu werden droht, kann erreicht werden, wenn einerseits die Integrationsfähigkeit der jeweiligen sozialen Umwelten verbessert und andererseits die Partizipationsmöglichkeiten des Betroffenen erweitert werden. Am Beispiel verdeutlicht: Die soziale Integration eines in seiner geistigen Entwicklung und in seiner motorischen Beweglichkeit eingeschränkten Kindes in eine Lerngruppe ist eine Aufgabe, die von der gesamten Lerngruppe insgesamt zu meistern ist. Alle müssen lernen, förderlich miteinander umzugehen, und alle haben Anspruch auf pädagogische Hilfe, die Kinder ohne Behinderungen - aber auch das behinderte Kind selbst. Die beiden Leitmotive heilpädagogischen Denkens und Tuns sind instrumentell und teleologisch verknüpft: Soziale Integration und persönliche Qualifikation ergänzen einander, denn in gelungener Gemeinschaft lernt es sich leichter, und ein lernendes Individuum kann sich besser in eine Gemeinschaft einfinden. Zugleich beschreiben beide Leitmotive unverzichtbare Ziele der heilpädagogischen Arbeit, denn eine effektive individuelle Förderung in sozialer Isolation ist ebenso wenig wünschenswert wie eine gelungene soziale Integration ohne individuelle Entwicklungshilfe. Literatur Bürli, Alois (2003): Normalisierung und Integration aus internationaler Sicht. In: Leonhardt, Annette; Wember, Franz B. (Hrsg.): Grundfragen der Sonderpädagogik. Weinheim: Beltz, 128 - 164 Foorman, Barbara R.; Torgesen, Joseph (2001): Critical elements of classroom and small group instruction to promote reading success in all children. In: Learning Disabilities Research and Practice 16, 203 - 212 Hausotter, Anette (2000): Integration und Inklusion - Europa macht sich auf den Weg. In: Hans, Maren; Ginnold, Antje (Hrsg.): Integration von Menschen mit Behinderung - Entwicklungen in Europa. Berlin: Luchterhand, 43 - 83 Kauffman, James M.; Hallahan, Daniel P. (2005): Special Education. What it is and why we need it. Boston: Pearson Scruggs, Thomas E.; Mastropieri, Margo A. (1995): What makes special education special: Evaluating inclusion programs with the PASS variables. In: Journal of Special Education 29, 224 - 233 Wember, Franz B. (2001): Adaptiver Unterricht. In: Sonderpädagogik 31, 161 - 181 Integration und Qualifikation VHN 1/ 2008 60 Wember, Franz B. (2003): Bildung und Erziehung bei Behinderungen: Grundfragen einer wissenschaftlichen Disziplin im Wandel. In: Leonhardt, Annette; Wember, Franz B. (Hrsg.): Grundfragen der Sonderpädagogik. Weinheim: Beltz, 2 - 42 Zigmond, Naomi (2003): Where should students with disabilities receive special education services? Is one place better than another? In: Journal of Special Education 37, 193 - 199 Prof. Dr. Franz B. Wember Universität Dortmund Fakultät Rehabilitationswissenschaften Emil-Figge-Straße 50 D-44221 Dortmund E-Mail: franz.wember@uni-dortmund.de Franz B. Wember