Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Das Provokative Essay: Direkte Förderung, gegen den Trend!
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Franz B. Wember
Der reformpädagogisch begründete Offene Unterricht und seine konstruktivistisch fundierte Lerntheorie unterschätzen die pädagogischen Möglichkeiten direkter Förderung. Eine solche Geringschätzung ist nicht theoretisch begründet und nicht empirisch gestützt, und sie widerspricht der Alltagserfahrung sonderpädagogischer Praxis. Direkte Förderung ist möglich, und sie hat sich empirisch bewährt, folglich verdient sie nicht Ignoranz, sondern Beachtung in Theorie, Forschung und Praxis.
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VHN, 77. Jg., S. 98 - 103 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 98 Das provokative Essay Direkte Förderung, gegen den Trend! Franz B. Wember Universität Dortmund n Zusammenfassung: Der reformpädagogisch begründete Offene Unterricht und seine konstruktivistisch fundierte Lerntheorie unterschätzen die pädagogischen Möglichkeiten direkter Förderung. Eine solche Geringschätzung ist nicht theoretisch begründet und nicht empirisch gestützt, und sie widerspricht der Alltagserfahrung sonderpädagogischer Praxis. Direkte Förderung ist möglich, und sie hat sich empirisch bewährt, folglich verdient sie nicht Ignoranz, sondern Beachtung in Theorie, Forschung und Praxis. Schlüsselbegriffe: Direkte Förderung, Konstruktivismus, Offener Unterricht, Reformpädagogik Direct Instruction, Contrary to the Current Trend! n Summary: Open education as a part of progressive education and its constructivist theory of learning undervalue the educational potentials of direct instruction. Such a disregard cannot be justified theoretically, it is not supported empirically and contradicts common sense and practical experience in special education. Direct instruction can be done and has proved to be effective. Therefore, it should not be neglected by ignorance but be respected in research and practice. Keywords: Direct instruction, constructivism, open education, progressive education Man darf das Kind nicht mit dem Badewasser ausgießen, warnt Thomas Murner bereits 1512 in seinen satirischen Versen zur Narrenbeschwörung (Nachdruck 1926): Wer das Schlechte bekämpfen will, solle mit Vorsicht und Weitblick zu Werke gehen, auf dass er im ersten Eifer nicht gleich das damit verbundene Gute mit vernichte. Wer die Entwicklung pädagogischer Trends beobachtet und historisch nachvollzieht, wird immer wieder den Eindruck gewinnen, dass in dem redlichen Bemühen um Verbesserung der pädagogischen Inhalte und Methoden und in dem oftmals engagierten Kampf gegen althergebrachte Schwächen und blinde Flecken weit über das Ziel hinausgeschossen wird. Von solchen Übertreibungen bleibt auch die Heil- und Sonderpädagogik nicht verschont: Das Kind, das es noch rechtzeitig aus dem fließenden Badewasser herauszufischen gilt, ist die direkte Förderung, das Badewasser liefert der reformpädagogisch begründete Offene Unterricht als Praxeologie und der Konstruktivismus als die passende Lern- und Erkenntnistheorie. Das Badewasser, so wird zu zeigen sein, muss gewechselt werden, denn das Ignorieren der pädagogischen Möglichkeiten direkter Förderung ist theoretisch nicht hinreichend begründet und empirisch nicht hinreichend belegt. Das Kind, so wird abschließend appelliert, muss unbedingt gerettet werden, denn direkte Förderung entspricht der alltäglichen Erfahrung von Lehrerinnen und Lehrern und ist durchaus erfolgreich, sie verdient deshalb Aufmerksamkeit und keine Ignoranz. Offener Unterricht und Konstruktivismus Die von Scheibe (1969) sogenannte reformpädagogische Bewegung bezeichnet als Sammelbegriff vielfältige Ansätze zur Neugestaltung von Bildung und Erziehung in Schule und Unterricht, die gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Kind orientierten VHN 2/ 2008 99 Direkte Förderung Theoretikern postuliert und von reformfreudigen Lehrerinnen und Lehrern in Arbeitsschulen, Landerziehungsheimen und Versuchsschulen praktisch ausprobiert wurden: Zentral war den vielfältigen Ansätzen die Kritik am traditionellen bürgerlichen Unterricht, der die soziale Unterordnung der Lernenden unter die Lehrenden forderte, die Lernenden das passiv nachvollziehen ließ, was der Lehrer vorlas, erklärte oder vormachte, und entfremdetes Lernen von Inhalten förderte, deren lebenspraktische Bedeutung den Lernenden nur selten einsichtig war. Als Gegenkonzeption wurde eine Pädagogik vom Kinde aus gefordert, die den traditionellen Lehrplan für die Bedürfnisse und Interessen der Schülerinnen und Schüler öffnet, das passive und rezeptive durch das aktive und entdeckende Lernen ersetzt, das Erklären und Vormachen des Lehrers durch das eigengesteuerte Handeln und die freie geistige Arbeit der Kinder und Jugendlichen, das entfremdete Lernen durch das authentische Erleben und das schülerzentrierte Lernen in Werkstätten und Projekten, das Rezipieren und bloß verbale Memorieren von unverstandenen Inhalten und Methoden durch das lebenspraktisch brauchbare, selbst hergestellte Produkt austauscht. Die Lehrenden sollen den Lernenden partnerschaftlich begegnen und ihnen Eigenverantwortung zugestehen, damit sie Selbstbestimmung und Selbststeuerung erlernen können. Dies gilt nicht nur im Sinne wachsender personaler und sozialer Autonomie, sondern auch in kognitiver Hinsicht; denn im inhaltlich und methodisch geöffneten Unterricht überlässt der Lehrer dem Schüler auch zunehmend die Steuerung des Lernprozesses, und dies entspricht der zeitgenössischen Erkenntnistheorie des Konstruktivismus. Als Konstruktivismus bezeichnet man in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen eine grundlegende erkenntnistheoretische Position, welche die Eigenaktivität des einzelnen Individuums bei der Gewinnung von Erkenntnissen über die externe Welt betont. In der Heil- und Sonderpädagogik begegnet man etwa in dem einflussreichen Buch von Speck (1991) oder bei Werning u. a. (2002) vor allem dem sogenannten Radikalen Konstruktivismus, einer Position, die im Kern besagt, dass alles Erkennen der Wirklichkeit vom erkennenden Subjekt aktiv aufgebaut und mithin nicht abgebildet, sondern konstruiert wird. Da das erkennende Subjekt dabei auf sein Vorwissen, auf seine sinnlich vermittelten Wahrnehmungen und auf seine Einstellungen und Gefühle angewiesen ist und die Beschränkung seiner sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten niemals aufheben kann, kann es auch kein objektives oder gar richtiges Abbild der äußeren Wirklichkeit erzeugen, schlimmer noch: Es kann seine Erkenntnisse nicht einmal mit der objektiven Wirklichkeit vergleichen, denn Letztere ist wegen der grundsätzlich gegebenen Einschränkung der Erkenntnismöglichkeiten überhaupt nicht erkennbar. Menschen können folglich immer nur Konstruktionen mit Konstruktionen vergleichen, und in diesen spiegeln sich die Einschränkungen ihrer Einstellungen und Vorannahmen und die Besonderheiten ihrer Sinneswahrnehmungen. Wenn das erkennende Subjekt Realität nicht abbildet, sondern eigene Wirklichkeiten in seinem Kopf erzeugt, kann Lernen nicht linear durch Lehren hergestellt werden. Was eine Lehrerin sagt und was davon ein Schüler versteht oder gar behält, das sind zwei unterschiedliche Dinge - denn das Lernen ist subjektiv bestimmt, im Wesentlichen nicht determiniert, grundsätzlich offen, die Lernergebnisse werden stärker durch das Vorwissen und Empfinden des Lernenden beeinflusst als durch die Vorgaben der Lehrerin. Rolf Werning (2002, 143) folgert, „dass sich jede Form der Beeinflussung … damit auseinandersetzen muss, dass es keine direkten, instruktiven Interaktionsbeziehungen geben kann“, und Horst Siebert beantwortet in seiner Schrift Über die Nutzlosigkeit von Belehrungen und Bekehrungen die Frage, ob denn Lehre über- VHN 2/ 2008 100 Franz B. Wember haupt noch möglich ist, so: „Lehrende und Lernende sind selbstreferentielle, strukturdeterminierte Systeme. Daraus folgt, dass der Lernende das Gelehrte nicht abbildet oder ‚widerspiegelt‘, Lernen ist lediglich eine Reaktion auf Lehren. Möglich ist aber eine strukturelle Koppelung zwischen Lehr- und Lernsystemen. Im Idealfall erfolgt sogar eine Koevolution, d. h. beide ‚Systeme‘ entwickeln sich gemeinsam weiter. Dennoch: Lehrende ‚instruieren‘ nicht Lernende, allenfalls ‚perturbieren‘ sie (d. h. sie rufen produktive ‚Störungen‘ hervor)“ (1996, 86). Direkte Förderung als vernünftige Theorie Lehrerinnen und Lehrer sind nicht Lehrende, sondern Moderierende und Perturbierende? Sie können Heranwachsenden nichts beibringen, sondern durch gezielte Störungen das emotionale, soziale und kognitive Lernen allenfalls anregen, bestenfalls begleiten? Ist das eine vernünftige Position? Wer sonderpädagogische Förderung nicht nur theoretisch studiert, sondern auch praktisch betrieben hat oder gar betreibt, wird andere Erfahrungen sammeln. Zugegeben, es gibt durchaus und gar nicht einmal selten Situationen in Schule und Unterricht, in denen die einfühlsame und kluge Lehrerin gerade dadurch pädagogisch wirkt, dass sie sich zurücknimmt: Sie greift nicht ein, wenn sie merkt, dass ihre Schülerin den Fehler in der Mathematikaufgabe allein bemerken und beheben könnte oder wenn drei streitende Kinder trotz hitziger Diskussion durchaus die Chance auf Einigung ohne externe Hilfe haben. Aber wenn sich die Kinder nicht einigen können und der Streit zu eskalieren droht oder wenn die Schülerin wiederholt an der gestellten Aufgabe scheitert, dann kann es sinnvoll sein, nicht nur zu moderieren und zu perturbieren, sondern direkt zu intervenieren; denn über Gefühle und Interessen kann man sprechen, kontroverse Standpunkte lassen sich vergleichen, Rechenfehler lassen sich erklären, die richtigen Rechenschritte lassen sich vormachen - das alles lehrt die Erfahrung. Menschen können zwar nur ihre inneren Konstruktionen mit den Erfolgen ihrer Handlungen oder mit den Konstruktionen anderer Menschen vergleichen, und in diesen spiegeln sich die Einschränkungen ihrer Einstellungen und Vorannahmen und die Besonderheiten ihrer Sinneswahrnehmungen. Aber trotz dieser Probleme führt der Radikale Konstruktivismus nicht zu Solipsismus und nicht zu Indifferenz; denn erstens können Menschen über ihre theoretischen Konstruktionen sprechen, sie näherungsweise vergleichen und sich einigen (soziale Koppelung, Konsensualität), und zweitens können Menschen die Tragfähigkeit ihrer Konstruktionen empirisch prüfen, indem sie sie an den Erfolgen ihrer Handlungen einschätzen. Solche Prüfungen führen zwar nicht zu einer objektiven Erkenntnis der Welt, und sie zeigen nicht, wie die Welt ist oder wie die Welt funktioniert, aber sie erlauben es doch, funktionierende und Erfolg versprechende Konstruktionen von weniger zielführenden Konstruktionen zu unterscheiden - sie zeigen, welche Handlungen erfolgversprechend sind, selbst angesichts unvollständiger Kenntnislage. Radikale Konstruktivisten sprechen von „operativ tauglichen“ oder „viablen“ Erkenntnissen, was wörtlich brauchbar und machbar oder lebensfähig heißt und oft als „passend“ ins Deutsch übersetzt wird. Sonderpädagogik ist für viele Kinder, Eltern und Fachleute in Australien, England, Neuseeland und vor allem in Nordamerika aufs Engste verknüpft mit Begriffen wie direct instruction und explicit teaching (Kinder/ Kubina/ Marchand-Martella 2005), also mit dem direkten Unterrichten oder, etwas weiter formuliert, mit der direkten Förderung. Gemeint ist damit folgende handlungsleitende Vorstellung: Wenn bei Lernenden bestimmte Qualifikationsdefizite festgestellt werden, sollten diese möglichst unmittelbar behoben werden, indem die fehlenden oder unzureichend ausgebildeten Qua- VHN 2/ 2008 101 Direkte Förderung lifikationen selbst und auf möglichst direktem Wege vermittelt werden. Direkte Förderung verlangt aktiv intervenierende Lehrerinnen und Lehrer, welche die individuellen Lernvoraussetzungen spezifisch und differenziert diagnostizieren, gezielt und intensiv unterrichten und die Qualität der Förderung praxisbegleitend evaluieren. Direkte Förderung findet sich in der internationalen Forschungsliteratur in drei Varianten dokumentiert (vgl. im Überblick Wember 2007a). Besonders erfolgreich ist Direkte Förderung als systematischer Unterricht im Kerncurriculum bei sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Nach fast 40 Jahren Entwicklungsarbeit liegen sorgfältig ausgearbeitete Programme zur systematischen Vermittlung und Übung des Lesens, Schreibens und Rechnens in Kleingruppen und im Klassenunterricht vor (Wember 2007 b, 164 - 168), die inhaltlich ausdifferenziert, curricular validiert, fachdidaktisch fundiert, methodisch standardisiert, empirisch evaluiert und über Jahrzehnte hinweg systematisch revidiert worden sind. Sie basieren auf der behavioristisch geprägten Unterrichtstheorie von Engelmann und Carnine (1982), der zufolge Kinder dann motiviert lernen, wenn sie erfolgreich sind, und sich Lernerfolge dann einstellen, wenn ihnen angemessene Aufgaben dargeboten und wirksame Hilfen angeboten werden. Lehrerinnen und Lehrer können Kindern gemäß dieser Theorie durchaus und sogar wirksam helfen, nämlich dann, wenn sie Lernstände und Lernschwierigkeiten inhaltsspezifisch erkennen, Inhalte und Aufgaben individuell anpassen, klar und verständlich kommunizieren, Lerntransfer und Generalisierungen durch geeignete Sequenzen von positiven und negativen Beispielen erleichtern und den Lernerfolg kontinuierlich unterrichtsbegleitend messen, um bei mangelnden Lernfortschritten frühzeitig reagieren zu können. Direkte Förderung als erfolgreiche Praxis Die Programme zur Direkten Förderung im Kerncurriculum Lesen, Schreiben und Rechnen werden seit etwa 1970 unter verschiedenen Markennamen angeboten. Die Autorinnen und Autoren konnten von Anfang an empirische Daten präsentieren, die ausgesprochen erfreuliche Fördererfolge unter Alltagsbedingungen belegten. Als unter der Bezeichnung Headstart Mitte der 1960er Jahre in den USA der sog. Krieg gegen die Armut u. a. mit Frühförderprogrammen begonnen und bis in die 1980er Jahre unter der Bezeichnung Follow Through geführt wurde, enttäuschten vergleichsweise geringe und nur vorübergehend anhaltende Effekte die Forscher und die Praktiker gleichermaßen (vgl. Wember 2000). Wesley Becker hingegen legte 1977 eine sorgfältige Analyse der umfangreichen nationalen Evaluationsdaten vor, die zeigte, dass - entgegen dem allgemeinen Trend und im scharfen Gegensatz zu allen anderen Programmen - die sozial benachteiligten Kinder in den Programmen zur Direkten Förderung das Lesen deutlich schneller und besser erlernt hatten. Der Effekt war erheblich, zeitlich stabil, in allen Modellversuchen durchgängig feststellbar, und er galt nicht nur für das Dekodieren, sondern auch für affektive Variablen, für komplexe kognitive Fertigkeiten und mit einigen Einschränkungen für das sinnerfassende Lesen. Carnine und Gersten (1982) konnten ähnliche Erfolge im mathematischen Lernbereich belegen: Mehr als zwei Drittel der Leistungsvergleiche fielen zu Gunsten der direkt geförderten Kinder aus, beim mathematischen Problemlösen und bei der mathematischen Begriffsbildung waren es 55 resp. 37 Prozent. White (1988) fand in einer Metaanalyse von 25 Vergleichsstudien nicht einen einzigen Effekt zu Gunsten der Kontrollgruppe, aber eine für schlecht kontrollierbare Feldstudien vergleichsweise hohe und pädagogisch bedeutsame Effektstärke von .84 Standardabweichungen zu Gunsten der direkt geförderten Schülerinnen und Schüler. VHN 2/ 2008 102 Franz B. Wember Inzwischen ist der Erfolg von Direkter Förderung wiederholt und mit neuen Daten belegt worden, zuletzt von Kinder, Kubina und Marchand-Martella (2005). Forness (2001) hat sich in einer groß angelegten Analyse von Metaanalysen die Frage gestellt, welche Lehren sich aus vielen Jahren Evaluationsforschung ziehen lassen, was denn nun wirklich funktioniere in der Heil- und Sonderpädagogik. Er kommt auf vier Interventionen, für die sich durchgängig hohe Effektstärken zeigen: das Trainieren von Gedächtnisstrategien, das direkte Unterrichten von sinnerfassendem Lesen, Verhaltensmodifikation und Direkte Förderung im Kerncurriculum. Jürgen Walter (2007), der dieses und andere Ergebnisse ausführlich dargestellt, methodenkritisch kommentiert und pädagogisch interpretiert hat, warnt vor dem Einsatz von Methoden, die den Sonderpädagogen lieb geworden sind, deren Wirksamkeit jedoch zu wünschen übrig lässt, während die Direkte Förderung zu den Ansätzen gehöre, für die „man klar einige empirisch gut abgesicherte Empfehlungen aussprechen“ könne (898). Direkte Förderung - ein Erfolgsmodell? Über Evidenz in Zeiten der Ignoranz … In Zeiten von totalem Qualitätsmanagement, Best-Practice-Modellen und Evidenz basierter Sonderpädagogik sollte man meinen, dass die Direkte Förderung in der Theorie aufgearbeitet ist, in der Forschung erprobt und systematisch verbessert wird und sich in der Praxis weiter Verbreitung erfreut, aber das Gegenteil ist der Fall: Gemessen an ihren empirisch belegten Erfolgen führt Direkte Förderung in Pädagogik und Sonderpädagogik ein Schattendasein. Theorie siegt über Empirie, Vorlieben führen zu Ignoranz. Wissenschaftlich belegte Befunde werden nicht oder nur selektiv wahrgenommen, wenn sie nicht in das geliebte Theoriegefüge passen, oder sie werden schlicht und ergreifend nicht weiter als wichtig erachtet. Offensichtlich will eine Konzeption, die das Erklären, Vormachen, Prüfen und Steuern der Lehrperson und deren Verantwortung für das Lehren betont, nicht so recht in eine Zeit passen, in der das selbsttätig handelnde und entdeckende Lernen propagiert wird und in der die Steuerung des Lehr- und Lernprozesses vor allem bei den Lernenden liegen soll, die letztlich für ihr Lernen selbst verantwortlich sind. Es fragt sich nur: Was tun, wenn bestimmte Handlungsfertigkeiten bei behinderten oder benachteiligten Kindern noch nicht funktional entwickelt sind? Was tun, wenn das Tun des Kindes immer wieder misslingt? Was tun, wenn sich zielführende Entdeckungen nicht einstellen wollen und sich stattdessen Enttäuschungen und Frustrationen zeigen? Abwarten, moderieren, perturbieren? Grundsätzlich ist der konstruktivistisch begründete Vorbehalt richtig, dass keine Lehrperson ein bestimmtes Lernen bei einem bestimmten Kind linear bewirken kann, sie muss immer prüfen, was beim Kind angekommen ist und wie das Kind die angebotenen Hilfen aufgefasst hat - aber daraus folgt eben nicht, dass eine erwachsene Person eine heranwachsende Person grundsätzlich nicht lehren könne. Gegen eine solche Übergeneralisierung sprechen die alltägliche Erfahrung, der gesunde Menschenverstand und die gut dokumentierte empirische Evidenz. Wer Kinder bilden und erziehen möchte, muss nicht ehrfürchtig vor Begriffen wie „Strukturelle Koppelung“ und „Selbstreferentielle Systeme“ erstarren, und er kann mehr tun als nur zu moderieren und zu perturbieren. Wenn Lernende grundsätzlich die Reize aus dem sich ihnen darbietenden Angebot aufgreifen, die ihren Bedürfnissen entsprechen und die sie gemäß ihrem Vorwissen und ihren bisherigen Erfahrungen verarbeiten können, dann müssen Lehrende wenig Angst haben, auch direkt zu fördern - sie können auf die Eigenaktivität der Kinder vertrauen. Direkte Förderung weist nicht den Weg zurück in den entfremdeten Frontalunterricht, denn die Aktivitäten der Lehrenden sollen die VHN 2/ 2008 103 Direkte Förderung Aktivitäten der Lernenden nicht ersetzen, sondern anregen, ergänzen, anreichern, korrigieren. Das reformpädagogische Badewasser war frisch, und es ist viel besser geeignet für die Kinder und Jugendlichen von heute als das abgestandene Badewasser der Bürgerschule. Wir müssen nur aufpassen, dass wir vor lauter Orientierung an den Lernenden die Möglichkeiten der Lehrenden nicht unterschätzen oder gar aus den Augen verlieren. Wir sollten das Badewasser erneut auffrischen und dürfen dabei das Kind nicht in Gefahr bringen: Es geht um unsere Handlungsmöglichkeiten und um unsere Verantwortung im Lehr- und Lernprozess. Die Koevolution, von der Siebert (s. o.) gesprochen hat, kann durchaus eine aktive sein, also: Direkte Förderung, gegen den Trend! Literatur Becker, Wesley C. (1977): Teaching reading and language to the disadvantaged: What we have learned from research. In: Harvard Educational Review 47, 518 - 543 Carnine, Douglas; Gersten, Richard (1982): Effective mathematics instruction for low-income students: Results of longitudinal field research in 12 school districts. In: Journal for Research in Mathematics Education 13, 145 - 152 Engelmann, Siegfried; Carnine, Douglas (1982): Theory of instruction. Principles and applications. New York: Irvington Publishers Forness, Steven R. (2001): Special education and related services: What have we learned from meta-analysis? In: Exceptionality 9, 185 - 197 Kinder, Diane; Kubina, Richard; Marchand-Martella, Nancy E. (2005): Special education and Direct Instruction: An effective combination. In: Journal of Direct Instruction 5, 1 - 36 Murner, Thomas (1926): Narrenbeschwörung (Nachdruck, i. O. 1512). Berlin: de Gruyter Scheibe, Wolfgang (1969): Die reformpädagogische Bewegung 1900 - 1932. Eine einführende Darstellung. Weinheim: Beltz Siebert, Horst (1996): Über die Nutzlosigkeit von Belehrungen und Bekehrungen. Beiträge zur konstruktivistischen Pädagogik. Bönen: Verlag für Schule und Weiterbildung Speck, Otto (1991): System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. 2., aktualisierte Aufl. München: Reinhardt Walter, Jürgen (2007): Meta- und Megaanalyse als Erkenntnismethoden zur Darstellung von Trainingseffekten bei Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. In: Walter, Jürgen; Wember, Franz B. (Hrsg.): Sonderpädagogik des Lernens (Handbuch Sonderpädagogik, Bd. 2). Göttingen: Hogrefe, 873 - 896 Wember, Franz B. (2000): Kompensatorische Erziehung. In: Borchert, Johann (Hrsg.): Handbuch der sonderpädagogischen Psychologie. Göttingen: Hogrefe, 314 - 324 Wember, Franz B. (2007 a): Direkter Unterricht. In: Walter, Jürgen; Wember, Franz B. (Hrsg.): Sonderpädagogik des Lernens (Handbuch Sonderpädagogik, Bd. 2). Göttingen: Hogrefe, 437 - 451 Wember, Franz B. (2007 b): Direkter Unterricht. In: Heimlich, Ulrich; Wember, Franz B. (Hrsg.): Didaktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt Lernen. Stuttgart: Kohlhammer, 159 - 172 Werning, Rolf (2002): Lernen und Behinderung des Lernens. In: Werning, Rolf; Balgo, Rolf; Palmowski, Winfried; Sassenroth, Martin (Hrsg.): Sonderpädagogik. Lernen, Verhalten, Sprache, Bewegung und Wahrnehmung. München: Oldenbourg, 129 - 189 Werning, Rolf; Balgo, Rolf; Palmowski, Winfried, et al. (Hrsg.) (2002): Sonderpädagogik. Lernen, Verhalten, Sprache, Bewegung und Wahrnehmung. München: Oldenbourg White, William A.T. (1988): A meta-analysis of the effects of direct instruction in special education. In: Education and Treatment of Children 11, 364 - 374 Prof. Dr. Franz B. Wember Technische Universität Dortmund Fakultät Rehabilitationswissenschaften D-44221 Dortmund E-Mail: franz.wember@uni-dortmund.de
