eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 77/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Linguistic Turn, Postmoderne und Schwerstbehindertenpädagogik

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2008
Sebastian Barsch
In diesem Artikel wird die These aufgestellt, dass die historische Entfaltung der anthropologischen Grundannahmen der Schwerstbehindertenpädagogik auf Basis der Phänomenologie grundlegend durch die Theorien des „Linguistic Turn“ und die daraus folgenden Ansätze beeinflusst wurden. Darüber hinaus wird die Position vertreten, dass sich die Schwerstbehindertenpädagogik ideengeschichtlich als ein Produkt der Postmoderne bezeichnen lässt. Dies bedeutet zugleich, dass es vor dieser sprachpragmatischen Wende in der jüngeren Vergangenheit kaum möglich gewesen wäre, eine Disziplin wie die Schwerstbehindertenpädagogik zu entwickeln, da der (geistes-)wissenschaftliche Blickwinkel bis zu diesem Zeitpunkt Bildungsfähigkeit in der subjektiven intellektuellen Vernunft verortete.
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Fachbeitrag VHN, 77. Jg., S. 104 - 109 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 104 Linguistic Turn, Postmoderne und Schwerstbehindertenpädagogik Sebastian Barsch Köln n Zusammenfassung: In diesem Artikel wird die These aufgestellt, dass die historische Entfaltung der anthropologischen Grundannahmen der Schwerstbehindertenpädagogik auf Basis der Phänomenologie grundlegend durch die Theorien des „Linguistic Turn“ und die daraus folgenden Ansätze beeinflusst wurden. Darüber hinaus wird die Position vertreten, dass sich die Schwerstbehindertenpädagogik ideengeschichtlich als ein Produkt der Postmoderne bezeichnen lässt. Dies bedeutet zugleich, dass es vor dieser sprachpragmatischen Wende in der jüngeren Vergangenheit kaum möglich gewesen wäre, eine Disziplin wie die Schwerstbehindertenpädagogik zu entwickeln, da der (geistes-)wissenschaftliche Blickwinkel bis zu diesem Zeitpunkt Bildungsfähigkeit in der subjektiven intellektuellen Vernunft verortete. Schlüsselbegriffe: Schwerstbehindertenpädagogik, Ideengeschichte, Linguistic Turn, Postmoderne Linguistic Turn, Postmodernism and Special Education for Severe Disabilities n Summary: In this article the author advocates the theory that the historical development of anthropological positions in the field of special education for severe disabilities, based on phenomenology, has been strongly influenced by the linguistic turn and its resulting approaches. Furthermore the view is taken that special education for severe disabilities can be regarded as being a product of postmodernism. That implies that it would have hardly been possible to develop special education for severe disabilities before the linguistic turn in the nearby past because up to that time the human sciences put the features for being educable on a level with subjective intellectual rationality. Keywords: Special education for severe disabilities, history of ideas, linguistic turn, postmodernism 1 Der „Linguistic Turn“ „Die menschliche Sprache ist das Medium, kraft dessen Erinnerungen, Individuen und Generationen überleben. […] Sie ist auch eine aktive, tatkräftige Macht bei der Gestaltung des zunehmend komplexeren gesellschaftlichen Seins, das dem Alltagsleben durch die kulturelle Entwicklung aufgebürdet wird.“ (Hansen 1995, 49) Das Phänomen des „Linguistic Turn“ bezeichnet eine schwerpunktmäßig im 20. Jahrhundert entstandene sprachkritische Wende hauptsächlich in der Semiotik, Linguistik und der Philosophie, gemäß welcher erkenntnistheoretischen Problemen mit Sprachanalyse zu begegnen sei (vgl. Okonkwo 2001). Vorläufer dieser Wende in der Sprachphilosophie waren vorrangig die Schriften von Ludwig Wittgenstein (1963, 1984) und John Langshaw Austin (1982). Wittgenstein baute Russels Sprachanalyse zu einer Abbildtheorie der Sprache aus. Diese besagt, dass die „Dinge“ der Welt erst durch ihre sprachlichen Namen Bedeutung erlangen - und dies auch erst dann, wenn sie in einem Satz miteinander verbunden werden. Sie erlangen also durch die Sprache Bedeutung, werden aber nicht durch die Sprache konstruiert. „Die Grundvorstellung dahinter könnte man etwa folgendermaßen zusammenfassen: Sprachliche Zeichen (Wörter) repräsentieren (bezeichnen, vertreten) etwas, das entweder in der Wahrnehmung oder aber in der Vorstellung oder im Denken von Subjekten schon gegeben ist, also unabhängig von der Sprache schon ‚da‘ ist“ VHN 2/ 2008 105 Schwerstbehindertenpädagogik (Wellmer 2004, 17). Sprachlich werden darauf hin die Dinge der Welt in verschiedene Relationen miteinander gebracht, in verschiedene „Sachverhalte“, auf die sich zwischenmenschliche Kommunikation richtet. „Im Sachverhalt sind die Dinge durch eine Relation verknüpft. Diese Relationen bilden das logische Gerüst der Welt und damit auch das Gemeinsame von Sprache und Welt“ (Kunzmann/ Burkard/ Wiedmann 2001, 215). Während Wittgenstein zunächst eine „Philosophie der idealen Sprache“ favorisierte, welche die Umgangssprache als ungenau betrachtete und nur einer formalen, logischen und somit idealen Sprache Erkenntnisgewinn zusprach (1963), näherte er sich später der Idee an, dass dies auch von der alltäglichen Sprache zu leisten sei (1984). Berühmtheit erlangte vor allem Wittgensteins Aussage „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Damit ist jedoch weniger eine Grenze im Sinne der menschlichen Erkenntnisfähigkeit gemeint, sondern eine Form der zwischenmenschlichen „Wahrheit“, die im sprachlichen Konsens entsteht. Wittgenstein fasst dies derart zusammen: „Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform“ (1984, 256). Wichtig ist hierbei der Standpunkt, dass erst in der zwischenmenschlichen Kommunikation die Wirklichkeit in Bedeutungszusammenhänge gebracht und somit fassbar wird. Austin analysiert Sprache bezüglich ihrer verschiedenen Funktionen und kommt zu dem Ergebnis, dass sie nicht nur deskriptive und konstative Funktion hat, sondern auch performativ sein kann, also nicht nur Handlungen beschreibend, sondern selbst Handlungen darstellend (Beispielsweise: „Ich ernenne sie zu Mann und Frau“ auf dem Standesamt). „Die Analyse der Sprache erstreckt sich damit auf Felder, in denen Wertungen, Vorschriften, Haltungen ausgedrückt werden“ (Austin 1982, 223). Von verschiedenen Seiten wurden ähnliche Erkenntnisse auch auf die Gebärdensprache als nicht-verbale Sprache übertragen (vgl. Louis-Nouvertné 2001). Die folgenden Überlegungen zum Phänomen „Sprache“ beziehen damit auch immer die Gebärdensprachen mit ein. Obwohl sich ideengeschichtlich der Übergang des „Lingustic Turn“ hauptsächlich auf die genannten Wissenschaftszweige bezog, hatte er enormen Einfluss auf nahezu alle Geisteswissenschaften. Dieser Einfluss wird deutlich am Begriff und an der Methode des „Diskurses“ bzw. der „Diskursanalyse“: Die populäre Variante dieses Begriffs geht auf Michel Foucault zurück, der jedoch kein geschlossenes Theoriekonzept zeichnete. Sein Ansatz besagt, dass sich ein Diskurs auf „die Regelmäßigkeit sozialer Handlungen bezieht. Letztere kann selbst wieder aus materiellem und sprachlichem/ zeichenhaften ‚Symbolhandeln‘ bestehend gedacht werden“ (Kraler/ Iacopino 2007). Der Foucault’sche Diskursbegriff ist also nicht ein rein sprachlicher, sondern ein sprachlich-sozialer, der zudem nicht unabhängig von der jeweiligen Epoche, in der er Anwendung findet, genutzt werden kann. Somit ist die „Wahrheit“ von Aussagen gebunden an Intersubjektivität und verbunden mit zeitlich begrenzt gültigen Ideen und Grundpositionen. „Diskurse sind nach Foucault jedenfalls mehr als bloße Sprache. Das Hin- und Herlaufen konkretisiert sich im Begriff der Beziehung“ (vgl. Kraler/ Iacopino 2007), mit der die Fähigkeit gemeint ist, Beziehungen zwischen „Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen herzustellen“ (Foucault 1997, 68). Den hier sehr kurz skizzierten Ansätzen und Entwürfen ist im Hinblick auf den Begriff „Linguistic Turn“ gemeinsam, dass der Sprache sowohl eine subjektiv als auch intersubjektiv sinnstiftende und wirklichkeitskonstruierende Funktion zukommt. Gleichzeitig beinhaltet dies eine grundlegende Skepsis bezüglich der Möglichkeit, durch Sprache Wirklichkeit zu erfassen, denn die Sprache folgt nicht einer in- VHN 2/ 2008 106 Sebastian Barsch trinsischen, stets für alle Kulturen, Epochen und Individuen gleichsam gültigen objektiven Logik. Zusammenfassend: n Sprache schafft subjektive Wirklichkeit. n Der Mensch ist auf Kommunikation angelegt. n Sprache schafft Beziehungen. 2 Postmoderne Mit dem Begriff „Postmoderne“ wird in der Geschichtswissenschaft die Epoche bezeichnet, deren Beginn auf die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts datiert wird. „Die Postmoderne ist diejenige geschichtliche Phase, in der radikale Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaften real und anerkannt wird und in der daher plurale Sinn- und Aktionsmuster vordringlich, ja, dominant und obligatorisch werden. […] Daher ergreift sie für das Viele Partei und wendet sich gegen das Einzige, tritt Monopolen entgegen und decouvriert Übergriffe. Ihre Option gilt der Pluralität - von Lebensweisen und Handlungsformen, von Denktypen und Sozialkonzeptionen, von Orientierungssystemen und Minderheiten“ (Welsch 1991, 5). In Abgrenzung zur Moderne, die - zwar nicht einheitlich - auf das Zeitalter der Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert festgelegt wird, kennzeichnet sich die Postmoderne durch „Wandel als einer dauerhaften Gegebenheit des menschlichen Lebens“ (Bauman 2004/ 2007). Galt darüber hinaus im Zeitalter der Moderne der unbedingte Fortschrittsglaube sowie der Glaube an die Rationalität und die Wirksamkeit der Vernunft (vgl. Luhmann 2006), entfallen diese Betrachtungsweisen in der Postmoderne - somit auch die Annahme, universelle Wahrheiten erkennen und benennen zu können. Zusammenfassend: n Die Postmoderne kennzeichnet sich durch die Akzeptanz der Pluralität von Lebensweisen und Lebensentwürfen. n Sie kennzeichnet sich darüber hinaus durch eine Abkehr vom Fortschrittsglauben. n „Vernunft“ und „Rationalität“ gelten nicht mehr als wesentliche Bestimmungsmerkmale des Menschen. 3 Anthropologische Positionen in der Schwerstbehindertenpädagogik Die Schwerstbehindertenpädagogik gilt in der Sonderpädagogik als jüngste Disziplin (vgl. Fornefeld 1995, 19). Ihre akademische Entfaltung in den deutschsprachigen Ländern lässt sich ab den 1970er Jahren beobachten, initiiert teils durch den Einfluss von Elternverbänden wie der Lebenshilfe, aber auch durch nunmehr frei gewordene Ressourcen in Form von Wissenschaftlern, die sich dieser Gruppe von Kindern zuwenden konnten, nachdem sich das allgemeine Sonderschulsystem nach dem 2. Weltkrieg etabliert und gefestigt hatte (vgl. ebd., 22). Während auf der einen Seite eher praktische Konzepte erprobt und entwickelt wurden (Basale Stimulation [vgl. Fröhlich 1998], Basale Kommunikation [vgl. Mall 1984] und Basale Aktivierung [vgl. Breitinger/ Fischer 1982]) - und dies teils auch schon vor der Einführung der Schulpflicht auch für schwerstbehinderte Kinder -, wurden zeitgleich anthropologische Grundannahmen der Sonderpädagogik, d. h. Fragen zum Bildungs- und Erziehungskonzept, überprüft und teilweise revidiert. Neben eher an medizinischen Grundlagen orientierten Theorien etablierten sich schon früh solche auf geisteswissenschaftlich-anthropologischer Basis, um die es im weiteren Verlauf geht. 1977 verfasste Begemann eine frühe anthropologische Reflexion über Fragen der Schwerstbehindertenpädagogik. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war das Postulat einer „Leib-Seele-Einheit“ des Menschen, mit der die Erziehungsbedürftigkeit auch von schwerstbehinderten Kindern gegeben sei (vgl. Fornefeld 1995, 26). „Der Begriff der Erziehung muss so formuliert und interpretiert werden, […] dass menschliches Verhalten nicht an ein Bildungsniveau gebunden erscheint“ (Begemann 1977, VHN 2/ 2008 107 Schwerstbehindertenpädagogik 89). Feuser entwirft ab 1978 die von ihm benannte „Basispädagogik“, welche nach Dreher von der Frage bestimmt ist, „wie sich der Mensch als Mensch in seinem Verhältnis zu sich und der Welt entfaltet“ (Dreher 1991, 62). Mit Mall vollzog sich eine Konzentration auf das Körperliche in der Schwerstbehindertenpädagogik, jedoch nicht aus dem Blickwinkel der somatischen Medizin heraus. Der Körper als „Basis der Kontaktaufnahme, des Zugangs zur Welt bzw. dessen Vermeidung“ (Dreher 1991, 63) wurde als primäre Möglichkeit der Kommunikation betrachtet, wenn lautsprachliche Fähigkeiten fehlten. Mit dem Einbezug (leib-)phänomenologischer Theorien insbesondere auf Basis der Philosophie Merleau-Pontys (v. a. Pfeffer 1988; Fornefeld 1989, Stinkes 1991) wurde die Beziehung zwischen dem schwerstbehinderten Kind und seinem sozialen Umfeld dahin gehend reflektiert, dass „geistige Behinderung verstanden wird als ‚leibliche‘ Behinderung im Sinne eines eingeengten Spielraums der Antwortmöglichkeiten des Leibes auf Welt“ (Dreher 1991, 65). Die Hinwendung der Schwerstbehindertenpädagogik auf phänomenologische Ansätze bietet - oft vermittelt in komplexer und schwer verständlicher Sprache - den anthropologisch-argumentativen Vorteil, dass die Beziehung vom Menschen zur Welt und vom Menschen zum Menschen nun nicht mehr bei den Leistungen und der Notwendigkeit der „klassischen“ Vernunft wie etwa bei Kant ansetzt, sondern den Leib als allen Menschen gemeinsamen, auch unabhängig von reflektiert-verbaler Ratio existenten Bezugsrahmen heranzieht. „Leib“ bezeichnet hiermit eine Instanz, die Körper und Geist einander vermittelt. Angesiedelt zwischen Empirismus und Idealismus gilt der Leib „als Grundphänomen der Existenz im Sinne eines Mediums und Mittels der Welterfahrung“ (Stoller 2007). Das Verständnis vom Menschen und seinen Beziehungen untereinander bedarf also in diesem Sinne nicht der Vernunft, Rationalität und Sprache, sondern äußert sich „leiblich“, bei Menschen mit oder ohne Behinderung: „Die meisten Menschen mit schwerer geistiger Behinderung vermögen ihre Befindlichkeit, ihr Erleben und ihr Handeln an der Welt nicht zu verbalisieren. Präreflexiv und präverbal drücken sie sich in und durch ihre leibliche Erscheinung aus, die es zu verstehen gilt“ (Pfeffer 1988, 31). Aus diesem Ansatz folgt, dass der Zugang zu schwerstbehinderten Menschen durch Nichtbehinderte auf das Gemeinsame - den Leib und seine Äußerungen - und nicht auf das Trennende - die (sprachliche) Vernunft - bezogen werden sollte. Für den pädagogischen Bereich ausgedrückt heißt das: „Zugang zum schwerstbehinderten Menschen im Erziehungsprozess [wird] erst möglich, wenn sich der Lehrer auf den leibhaften Dialog mit dem Kind einlässt [...]“ (Fornefeld 1991, 126). Deutlich wird hier, dass der Fokus auf den Dialog gelegt wird. Sinnstiftung und soziale, also intersubjektive Wirklichkeitskonstituierung vollziehen sich demnach leiblich: „Die Leiblichkeit des schwerstbehinderten Kindes muss also im Erziehungsprozess Berücksichtigung finden und Erziehung als intersubjektive Wirklichkeit von Schülern und Lehrern verstanden werden“ (Fornefeld 1995, 109). Zusammenfassend: n Die Schwerstbehindertenpädagogik distanziert sich von einer Verortung der Vernunft in der Sprache. n Sie erweitert die Idee der dialogischen Kommunikation um den Aspekt des Leibes. n Kommunikation schafft gemeinsame und somit soziale Wirklichkeit. 4 Ergebnis Die Entwicklungen der anthropologischen Grundlagen der Schwerstbehindertenpädagogik zeigen in vielen Punkten Analogien zu Tendenzen, die mit dem „Linguistic Turn“ als ein Produkt der Postmoderne einhergehen. Wie auch in der Philosophie und Soziologie vollziehen sie sich als „sprachpragmatische“ Wende, die jedoch um wesentliche Inhalte auf Basis VHN 2/ 2008 108 Sebastian Barsch (leib-)phänomenologischer Grundsätze erweitert wurde: Kommunikation wird somit auch ohne verbale Sprache oder rational-reflektive Zeichennutzung als möglich betrachtet. Der Kommunikation kommen wirklichkeitskonstruierende Fähigkeiten zu, sie wird erst durch den Aspekt der Beziehung (Intersubjektivität) wirklichkeitskonstituierend und somit sozial zugänglich. Auch für die Schwerstbehindertenpädagogik sind sprachlich-kommunikative Akte ein zentraler Aspekt. Da bei Menschen mit schwersten Behinderungen aber „Sprache als Ausdrucksmittel in aller Regel unzulänglich bleibt, bezieht sich der phänomenologische Blick, aber auch [die] ganze Haltung in der Begegnung mit dem Anderen im Besonderen auf seine Leiblichkeit“ (Speck 2005, 45). Erst mit der Abkehr vom bis dahin vorherrschenden philosophischen Vernunftbegriff konnte die Idee geboren werden, dass auch „Nichtsprecher“ bildungs- und erziehungsfähig seien. Es ist grundsätzlich nicht verwunderlich, dass Wissenschaftler als „Kinder ihrer Zeit“ und Wissensproduzenten stets in den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext eingebunden sind (vgl. Choluj 2007). Mit dem „Linguistic Turn“ einhergehende Ideen gelangten zu Popularität bei einer ganzen Generation von Wissenschaftlern. Auch Heilpädagogen nahmen Impulse dieser Theorie in ihre Forschungen auf und entwickelten sie weiter. Daraus ergeben sich abschließend folgende Überlegungen: n Eine Schwerstbehindertenpädagogik heutiger Ausprägung wäre vor dem „Linguistic Turn“ ideengeschichtlich nicht möglich gewesen, da mit diesem erstmals Sprache, Kommunikation und Diskurs in den Mittelpunkt geisteswissenschaftlicher Theoriebildung gelangte. Indem verschiedene Vertreter der Schwerstbehindertenpädagogik Elemente dieser Theorien für „leibliche“ Kommunikationsansätze adaptierten, konnten Alternativen zu medizinorientierten Konzepten entwickelt werden. n Schwerstbehindertenpädagogik ist ein Resultat der Postmoderne, da ihre anthropologischen Grundannahmen auf der Anerkennung von Pluralität und Abkehr vom Vernunftsubjekt beruhen. Ausblickend bleibt abzuwarten, ob die Schwerstbehindertenpädagogik auf (leib-)phänomenologischer Grundlage in Zukunft weiter entwickelt wird oder ob sich herausstellt, dass dieser Ansatz langsam verblasst. Verfolgt man die Veröffentlichungen in der Heilpädagogik der letzten Jahre, kann der Eindruck gewonnen werden, dass dieser Ansatz den Höhepunkt seiner Entwicklung bereits hinter sich hat. Literatur Austin, John Langshaw (1982): Wort und Bedeutung. Philosophische Aufsätze. München: DTV Bauman, Zygmunt (2004): Vortrag zum Thema „Flüchtige Moderne“ und Supervision auf einer europäischen Fachkonferenz am 7. Mai 2004 in Leiden, Niederlande. In: http: / / www.supervisioneu.org/ anse/ bauman%20dtsch.pdf, 10. 4. 2007 Begemann, Ernst (1977): Anthropologische Aspekte der Erziehung Schwerstbehinderter. In: Fröhlich, Andreas; Tuckermann, Ulrike (Hrsg.): Schwerstbehinderte. Rheinstetten: Schindele, 64 - 84 Breitinger, Manfred; Fischer, Dieter (1982): Intensivbehinderte lernen Leben. Würzburg: Vogel Verlag Choluj, Boz˙ena: Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Diskussion um Wissen, Kultur und Macht in Polen und Deutschland. Tagungskonzept. In: http: / / www.vmes.euv-ffo.de/ vmes-2/ konzept-fleck.pdf, 20. 9. 2007 Dreher, Walther (1991): Anthropologische Fragen angesichts schwerster Behinderung. In: Fröhlich, Andreas (Hrsg.): Pädagogik bei schwerster Behinderung. Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 12. Berlin: Wissenschaftsverlag Spiess, 60 - 69 Fornefeld, Barbara (1989): „Elementare Beziehung“ und Selbstverwirklichung geistig Schwerstbehin- VHN 2/ 2008 109 Schwerstbehindertenpädagogik derter in sozialer Integration. Reflexionen im Vorfeld einer leibortientierten Pädagogik. Mainz: Wissenschaftsverlag Mainz Fornefeld, Barbara (1991): „Elementare Beziehung“ und Selbstverwirklichung geistig Schwerstbehinderter in sozialer Integration. Reflexionen im Vorfeld einer leiborientierten Pädagogik. 2. Aufl. Mainz: Wissenschaftsverlag Mainz Fornefeld, Barbara (1995): Das schwerstbehinderte Kind und seine Erziehung. Beiträge zu einer Theorie der Erziehung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter Foucault, Michel (1997): Archäologie des Wissens. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Fröhlich, Andreas (1998): Basale Stimulation. Das Konzept. Düsseldorf: Verlag Selbstbestimmtes Leben Hansen, Klaus P. (1995): Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Francke Kraler, Albert; Iacopino, Thomas (2007): Die Macht des Diskurses - Michel Foucault. In: http: / / evakreisky.at/ onlinetexte/ nachlese_diskurs.php, 9. 4. 2007 Kunzmann, Peter; Burkard, Franz-Peter; Wiedmann, Franz (2001): dtv-Atlas Philosophie. 9. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag Louis-Nouvertné, Ulla (2001): Was sind Gebärdensprachen? Eine Einführung in die wichtigsten Ergebnisse der linguistischen Gebärdensprachenforschung. In: Sprache und Literatur 32, 3 - 20 Luhmann, Niklas (2006): Beobachtungen der Moderne. Wiesbaden: Vs Verlag Mall, Winfried (1984): Basale Kommunikation - ein Weg zum andern. In: Geistige Behinderung 23, 1 - 16 Okonkwo, Jerome Ikechukwu (2001): ‚Linguistic Turn‘: The Passage from the Philosophy of Nature to the Philosophy of Language. In: Prima Philosophia 14, 289 - 300 Pfeffer, Wilhelm (1988): Förderung schwer geistig Behinderter. Eine Grundlegung.Würzburg: Johann Wilhelm Klein-Akademie Speck, Otto (2005): Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung. 10. Aufl. München: Reinhardt Stinkes, Ursula (1991): Spuren eines Fremden in der Nähe. Das „geistig behinderte“ Kind aus phänomenologischer Sicht. Köln: Koenigshausen + Neumann Stoller, Silvia (2007): Merleau-Ponty lesen. In: http: / / www.information-philosophie.de/ philosophie/ merleauponty html, 12. 4. 2007 Wellmer, Albrecht (2004): Sprachphilosophie. Eine Vorlesung. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Welsch, Wolfgang (1991): Unsere postmoderne Moderne. Weinheim: Wiley-VCH Wittgenstein, Ludwig (1963): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Wittgenstein, Ludwig (1984): Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe, Bd. 1. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Dr. Sebastian Barsch Lindenthalgürtel 94 D-50935 Köln Tel.: ++49 (0) 22 12 48 45 28 E-Mail: s.barsch@heilpaedagogik-online.com Mosaikschule Winzerather Straße D-41516 Grevenbroich