eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 77/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Tend: Deprofessionalisierung (in) der Sonder-/Heilpädagogik - gefordert, notwendig, überlebenswichtig

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2008
Andreas Hinz
Anscheinend sieht Motsch (2008) Deprofes-sionalisierung der (Sprach-)Heilpädagogik als Verfallsprozess, bei dem die Spezifik des Faches von innen ausgehöhlt und von außen immer weiter beschnitten wird - letztlich ein professionelles und disziplinäres Untergangsszenario. Nun ist nicht erst seit Helmut Reiser klar - aber durch ihn stark repräsentiert, dass das (wissenschaftliche) Leben in der Regel nicht nur eindimensional und linear verläuft, sondern mit Widersprüchen, in Ambivalenzen; daher - auch wenn die Überschrift vielleicht anderes signalisiert - geht es hier nicht darum, einfach das Gegenteil zu behaupten, also Schwarz in Weiß zu verwandeln, und Bedenken und Befürchtungen auszureden, aber es macht Sinn, auch die zweite Seite der Medaille in den Blick zu nehmen.
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VHN, 77. Jg., S. 138 - 141 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 138 Anscheinend sieht Motsch (2008) Deprofessionalisierung der (Sprach-)Heilpädagogik als Verfallsprozess, bei dem die Spezifik des Faches von innen ausgehöhlt und von außen immer weiter beschnitten wird - letztlich ein professionelles und disziplinäres Untergangsszenario. Nun ist nicht erst seit Helmut Reiser klar - aber durch ihn stark repräsentiert -, dass das (wissenschaftliche) Leben in der Regel nicht nur eindimensional und linear verläuft, sondern mit Widersprüchen, in Ambivalenzen; daher - auch wenn die Überschrift vielleicht anderes signalisiert - geht es hier nicht darum, einfach das Gegenteil zu behaupten, also Schwarz in Weiß zu verwandeln, und Bedenken und Befürchtungen auszureden, aber es macht Sinn, auch die zweite Seite der Medaille in den Blick zu nehmen. Sicherlich hängt es mit dem jeweiligen spezifischen Fokus und damit verbundener Perspektivität zusammen - Sprachheilprofessor und Professor für Allgemeine Rehabilitations- und Integrationspädagogik -, wenn unterschiedliche Einschätzungen und Wahrnehmungen vorhanden sind. Eines erscheint allerdings unabhängig davon wenig konsensfähig: Das Bild der Deutschen, die sich als eifrige Internationalisten zu mustergültigen Erfüllungsgehilfen des Bologna-Prozesses machen. Wer im Rahmen europäischer Forschungsverbünde arbeitet, weiß schon lange, dass das deutsche Hochschulsystem international gesehen in seinen Strukturen ein exotisches ist, und wer je versucht hat, es Kolleg/ innen aus anderen Ländern zu erklären, weiß, wie sie - schon lange auf „Bologna-Kurs“ - denken und arbeiten und wie weit weg Deutschland bis vor Kurzem davon war. Das heißt absolut nicht, dass der Bologna-Prozess nur positiv zu bewerten wäre, zumal wenn er unter dem Motto „alles neu, aber nichts verändert“ praktiziert wird. Er bildet aber allemal - unter starkem institutionellen Druck - einen Anlass, gemeinsam in Instituten zu reflektieren, was denn eigentlich in den Universitäten gearbeitet und gelehrt wird und ob es sich dabei um sinnvolle Strukturen handelt bzw. wo Veränderungen angemessen oder sogar ohnehin notwendig sind. Tradierte Spezialisierung als administrative Behinderung von flexiblen Zugängen Die hier vertretene These besagt, im Kontrast zu Motsch, dass die tradierte Spezialisierung innerhalb der Sonderpädagogik ein massives Problem ist, das die notwendige Flexibilität im Zugang zu Kindern und zu Situationen behindert. Was Motsch als bewahrungswürdige Struktur sieht, wird hier genau als Problem wahrgenommen. Es ist geradezu banal: Kinder richten sich in ihren Unterstützungsbedarfen eben nicht nach tradierter Fachsystematik. Die Deprofessionalisierung (in) der Sonder-/ Heilpädagogik - gefordert, notwendig, überlebenswichtig Gedanken zum Provokativen Essay von Hans-Joachim Motsch in VHN 1(2008) 4 -10 Andreas Hinz Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Trend VHN 2/ 2008 139 Deprofessionalisierung (in) der Sonder-/ Heilpädagogik Entwicklung von Förderzentren ist - neben manchen kritisierbaren Gegebenheiten, unklaren Zielrichtungen und eingebauten internen Interessenkonflikten (vgl. Hinz 2007) - ein möglicher Ansatz und somit eine sinnige administrative Reaktion auf diese Tatsache. Werden mehrere Förderschwerpunkte zusammengefasst, erspart dies Kindern soziale Exklusion durch Umschulungen und mehr. Insofern ist die Konstruktion des bayrischen Förderzentrums mit der Zusammenführung der Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung vielleicht auch eine Möglichkeit zum Einsparen, vor allem aber dieser fachlichen Flexibilisierung geschuldet. Tradierte Spezialisierung als professionelles Kooperationsproblem Dass dies nicht nur auf administrativer Ebene in Bezug auf Kinder, sondern auch in Bezug auf Situationen gilt, ist leicht in der Situation des Gemeinsamen Unterrichts nachzuvollziehen. Die massivsten Kooperationsprobleme in Integrationsklassen gibt es üblicherweise dort, wo Lehrer/ innen der allgemeinen Schule ihren tradierten gleichschrittigen Frontalunterricht weiterführen wollen, und dort, wo Sonderschullehrer/ innen ihre tradierten Formen von sonderschulischer Arbeit fortsetzen wollen. Dies sind nicht selten Sprachheillehrer/ innen, die mit einzelnen Kindern oder Kleingruppen „intensive sonderpädagogische Förderung“ (vgl. eine der Nanu-Geschichten in Boban/ Hinz 1993) praktizieren wollen - und teils gar nicht merken, welche Segregationstendenzen innerhalb der Klasse sie damit konstruieren und wie sehr sie sich in der Wahrnehmung ihrer Kooperationspartner/ innen disqualifizieren. Dass Kooperation in beiden (gerade nicht) ideal-typischen Situationen problematisch ist, liegt auf der Hand. Tradierte Konzepte werden so zur professionellen Behinderung der eigenen Praxis in einer gemeinsamen Schule. Der Kern: Kontroversen über Spezifisches und Allgemeines Die Basis solcher Kooperationskonflikte dürfte darin liegen, dass es keinen Konsens über notwendige Spezifik und gemeinsames Allgemeines gibt. Brauchen denn Kinder mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf, z. B. im Bereich Sprache, etwas völlig anderes als andere Kinder? Und wenn ja, in welchem Maße? Was ist also (im wahrsten Sinne des Wortes) Not-wendig - und welche Arbeitsweisen sind lediglich historisch tradiert und ggf. spezifischen Umfeldbedingungen einer bisherigen Sonderschulform geschuldet? Genau diese Frage spielte im Hamburger Schulversuch Integrative Grundschule eine große Rolle, als im Vorfeld u. a. aus Sprachheilschulen ähnliche Untergangsszenarien zu hören waren wie die von Motsch. So wurde u. a. der Frage nachgegangen, was Sonderpädagog/ innen eigentlich in einer Grundschule tun und wie sie ihre Aufgaben definieren, wenn es keine sonderpädagogikbedürftig etikettierten Kinder mehr gibt, sondern die Grundschule aufgrund der Selbstverpflichtung, keine Kinder mit bestehenden und vermuteten Entwicklungsrisiken abzuweisen und die Grundschulzeit hindurch an Sonderschulen abzugeben, zusätzliche Ressourcen bekommt (vgl. Hinz 1999). Eine erfahrene Sprachheilkollegin sagte damals sinngemäß im Interview: „Was ich früher in der Einzelsituation vor dem Spiegel oder in der Kleingruppe gemacht habe, das mache ich jetzt mit der ganzen Klasse - und dass es spezifisch im Hinblick auf ein bestimmtes Kind geplant ist, das merkt gar keiner. Und unser Stotterer, der stottert im dritten Schuljahr ganz entspannt - was wollen wir denn mehr? ! “ Entwicklungsaufgabe: Überprüfung und Weiterentwicklung bisheriger sonderpädagogischer Expertise Mit dieser ausschnitthaften Episode ist bereits angedeutet, worum es geht: Die Weiterentwick- VHN 2/ 2008 140 Andreas Hinz lung der sonderpädagogischen Unterstützung kann angemessen nicht als übles Spiel von Schulverwaltungen mit dunklen finanziellen Interessen betrachtet werden; selbst wenn es so wäre, stellt sie eine fachliche Notwendigkeit dar. Somit bilden etwa die Bedingungen der Integrativen Grundschule in Hamburg oder die Rahmenbedingungen von FLEX in Brandenburg mit dem Grundsatz der Nichtetikettierung für einige sonderpädagogische Förderschwerpunkte eine Chance, sonderpädagogische Unterstützung weiterzuentwickeln und für diese veränderten Bedingungen zu adaptieren. Sie bieten die Chance, sich von der tradierten wie unrealistischen Alltagstheorie der „Andersartigkeit von Menschen mit Behinderungen“ (Hinz 2000) zu lösen und auch ihre Gemeinsamkeiten und Aspekte von Gleichheit mit anderen in den Blick zu bekommen. Anders gesagt, bietet sich die Chance, dass die Sonderpädagogik aus ihrem selbst geschaffenen Separee herauskommt und (wieder? ) Anschluss an die Erziehungswissenschaft zu finden beginnt. Es ist ja nicht so, dass mit dem behinderungsspezifisch gegliederten Sonderschulwesen alles zum Besten bestellt gewesen wäre; Untersuchungsergebnisse der letzten Jahre zeigen zum wiederholten Mal, dass etwa die Schule für Lernbehinderte insgesamt keine leistungsförderliche und auch keine sozial beschützende, weil einen Schonraum bietende Schulform ist (vgl. etwa Wocken 2005; Schumann 2007; schon Haeberlin u. a. 1990; Tent u. a. 1991). Dass sich das deutsche Sonderschulsystem, auch Sprachheilschulen mit ihrem viel beschworenen „sprachtherapeutischen Unterricht“ (Motsch 2008), bisher in so hohem Maß der Evaluation hat entziehen können, erscheint problematisch, da besteht Konsens. Die Entwicklungsaufgabe - und das kann durchaus als Programm der Deprofessionalisierung gelesen werden - besteht gerade darin, die bisherige sonderpädagogische Expertise zu überprüfen, in allgemeine Kontexte hineinzubringen und sie dementsprechend systemisch angelegt zu verändern. Bezogen auf die Sprachheilpädagogik stellt sich - aus der Perspektive eines Nicht-Sprachheilpädagogen - beispielsweise die durchaus offene Frage nach dem Stellenwert von Therapie (im Sinne einer längerfristigen Einzel- oder Kleingruppensituation) im schulischen Kontext, auch in Relation zu anderen Berufsgruppen mit ähnlichen professionellen therapeutischen Kompetenzen. Ebenso stellt sich die Frage nach der Grenzziehung zwischen einer diagnostizierten Therapiebedürftigkeit und dem üblichen Spektrum kindlicher Entwicklung; die deutliche Zunahme des sprachheilpädagogischen Bedarfs in einigen Bundesländern ist vor diesem Hintergrund durchaus diskussionsbedürftig (ein Kollege berichtete kürzlich von sprachheilpädagogischer Diagnostik als „Fischzug“ in Kindertageseinrichtungen). Vor vielen Jahren zeigte ein hospitierender Sprachheillehrer in einer Integrationsklasse auf diverse Kinder und glaubte, bei ihnen Therapiebedarf diagnostizieren zu können und zu müssen. Eine solche „Weiterentwicklung“ sonderpädagogischer Unterstützung, die vorhandene Expertise „nur“ exportiert, dürfte im Sinne von Dagmar Hänsels (2003) Idee einer standespolitischen Ausweitung des Wirkungskreises (vgl. auch Haeberlin 2007) zu einer sonderpädagogischen „Verseuchung des allgemeinen Schulsystems“ (Reiser 1989, 163) führen; die tatsächliche Herausforderung besteht in der Veränderung von Expertise im Rahmen gemeinsamer und damit allgemeiner Situationsgestaltungen und Lernprozesse. Ob diese Expertise in einer ferneren Zukunft sich dann noch sonderpädagogisch nennen möchte, ist eine sekundäre Frage. Die universitäre Sonderpädagogik ist gut beraten, diese Herausforderung anzunehmen; wenn sie sich selbst in die Ecke stellt und über die Schlechtigkeit der bildungspolitischen, schulpädagogischen, kultusbürokratischen, Bologna-bestimmten, … Welt greint, dürfte sie deutlich selbst dazu beitragen, dass sie eines Tages anderen tatsächlich als überflüssig erscheint. VHN 2/ 2008 141 Deprofessionalisierung (in) der Sonder-/ Heilpädagogik Literatur Boban, Ines; Hinz, Andreas (1993): Geistige Behinderung und Integration. Überlegungen zum Begriff der „Geistigen Behinderung“ im Zusammenhang integrativer Erziehung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 44, 327 - 340 Haeberlin, Urs (2007): Aufbruch vom Schein zum Sein. In: VHN 76, 253 - 255 Haeberlin, Urs u. a. (1990): Die Integration von Lernbehinderten. Versuche, Theorien, Forschungen, Enttäuschungen, Hoffnungen. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt Hänsel, Dagmar (2003): Die Sonderschule - ein blinder Fleck der Schulsystemforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 49, 591 - 609 Hinz, Andreas (1999): Sonderpädagogische Arbeit in Integrativen Regelklassen. Eine Studie zur Praxisentwicklung im ersten und vierten Schuljahr. In: Katzenbach, Dieter; Hinz, Andreas (Hrsg.): Wegmarken und Stolpersteine in der Weiterentwicklung der Integrativen Grundschule. Hamburg: Feldhaus, 201 - 301 Hinz, Andreas (2000): Sonderpädagogik im Rahmen von Pädagogik der Vielfalt und Inclusive Education. Überlegungen zu neuen paradigmatischen Orientierungen. In: Albrecht, Friedrich; Hinz, Andreas; Moser, Vera (Hrsg.): Perspektiven der Sonderpädagogik. Disziplinäre und professionsbezogene Standortbestimmungen. Neuwied: Luchterhand, 124 - 140 Hinz, Andreas (2007): Förderzentrum. In: Theunissen, Georg u. a. (Hrsg.): Handlexikon Geistige Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer, 120 Motsch, Hans-Joachim (2008): Deprofessionalisierung der (Sprach-)Heilpädagogik - internationalisiert, inkompetent, wegrationalisiert. In: VHN 77, 4 - 10 Reiser, Helmut (1989): Probleme der Kooperation zwischen allgemeinen Pädagogen und Sonderpädagogen. In: Sonderpädagogik heute - Bewährtes und Neues. Berlin: Der Senator für Schulwesen, Berufsausbildung und Sport, 146 - 164 Schumann, Brigitte (2007): „Ich schäm mich ja so! “ Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“. Bad Heilbrunn: Klinkardt Tent, Lothar u. a. (1991): Über die pädagogische Wirksamkeit der Schule für Lernbehinderte. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 42, 289 - 320 Wocken, Hans (2005): Andere Länder, andere Schüler? Vergleichende Untersuchungen von Förderschülern in den Bundesländern Brandenburg, Hamburg und Niedersachsen (Forschungsbericht). In: http: / / bidok.uibk.ac.at/ download/ wocken-forschungsbericht.pdf, 24. 7. 2007 Prof. Dr. Andreas Hinz Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Philosophische Fakultät III - Erziehungswissenschaften Institut für Rehabilitationspädagogik D-06099 Halle (Saale) E-Mail: andreas.hinz@paedagogoik.uni-halle.de