eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 77/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Aktuelle Forschungsprojekte

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Das Kohärenzgefühl als eine relevante Ressource im Prozess des erfolgreichen Alterns von Frauen mit Behinderung Julia Strupp Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung Bonn Hintergründe Erstmals erreichen Kohorten lebenslang behinderter Frauen und Männer das Rentenalter, dies infolge des Euthanasie-Programms in der NS-Zeit von 1943 bis zum Ende des Regimes im Mai 1945, als behinderte Menschen systematisch ermordet wurden. Die Erfahrungen mit älter werdenden und alten behinderten Menschen sind daher noch recht begrenzt.
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VHN 2/ 2008 148 Aktuelle Forschungsprojekte Das Kohärenzgefühl als eine relevante Ressource im Prozess des erfolgreichen Alterns von Frauen mit Behinderung Julia Strupp Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung Bonn Hintergründe Erstmals erreichen Kohorten lebenslang behinderter Frauen und Männer das Rentenalter, dies infolge des Euthanasie-Programms in der NS-Zeit von 1943 bis zum Ende des Regimes im Mai 1945, als behinderte Menschen systematisch ermordet wurden. Die Erfahrungen mit älter werdenden und alten behinderten Menschen sind daher noch recht begrenzt. Dass Frauen mit Behinderung im Alter noch nicht wahrgenommen werden, zeigt sich deutlich in der Literatur. Die Daten- und Erkenntnislage zur Situation älterer Frauen mit Behinderung ist unbefriedigend: Bei alten Menschen wird oft nicht nach Frauen und Männern unterschieden; bei Projekten für ältere Personen mit Behinderung fehlt oft die Geschlechterperspektive; bei Projekten für ältere Frauen fehlt der Blick auf eine eventuelle Behinderung. Hier existieren Forschungsdesiderata. Ausgangspunkt des geplanten Forschungsprojekts bildet die Frage, inwieweit das Kohärenzgefühl eine Ressource im Prozess des erfolgreichen Alterns darstellt und so möglicherweise einen Beitrag zur Lebensqualität von älteren Frauen mit Behinderung leisten kann. Das Kohärenzgefühl (sense of coherence) ist ein zentrales Konzept in Antonovskys Salutogenese-Modell. Es bestimmt darüber, wie effektiv eine ältere Person in der Lage ist, geeignete Widerstandsquellen (GRRs - Generalized Resistance Ressources) für die Erhaltung ihrer Gesundheit zu aktivieren. Diese GRRs sind jene Faktoren der Umwelt oder Person, welche Lebenserfahrungen schaffen. Diese Lebenserfahrungen führen zur Ausbildung des Sense of Coherence, kurz SOC genannt. Salutogenetisch gesehen verliert der Organismus mit zunehmendem Lebensalter die Fähigkeit, Gesundheit zu erhalten. Die salutogenetische Frage lautet, warum es einigen Menschen überhaupt gelingt, in relativer Gesundheit alt zu werden. In der geplanten Untersuchung würde diese Frage lauten: Welche Frauen mit lebenslanger Behinderungserfahrung haben einen starken SOC entwickelt? Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Bedeutung von Kohärenzerfahrungen für alle Menschen gilt, unabhängig davon, ob eine lebenslange Behinderungserfahrung vorliegt oder nicht. Die Frage ist jedoch, wie sich eine Behinderung auf die Herausbildung von Kohärenzerfahrungen auswirkt. Trotz mehrerer Definitionsversuche besteht bislang noch kein Konsens darüber, woran genau sich erfolgreiches Altern festmachen lässt. Nach Havighurst u. a. (1968) wird erfolgreiches Altern als Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen und dem vergangenen Leben konzeptualisiert. Grundsätzlich werden für erfolgreiches Altern sowohl subjektive wie auch objektive Kriterien festgelegt. Subjektiv betrachtet ist das wahrnehmende Selbst der entscheidende Indikator für Lebensqualität und -zufriedenheit, kann aber allein nicht als ausreichendes Kriterium für den Erfolg des Alterns gelten, da das Individuum über ein weites Spektrum an Anpassungsleistungen verfügt, die selbst in schwierigsten Situationen und Lebensumgebungen erfolgreiches Altern vorspiegeln können. Eine Theorie zum erfolgreichen Altern liefern Baltes und Baltes (1989) mit ihrem Modell der Selektiven Optimierung mit Kompensation (kurz: SOK). Selektiv bedeutet, dass ein alternder Mensch die Anzahl und Breite seiner Ziele von sich aus reduziert. Optimierung meint den Umstand, dass besonders die Bereiche trainiert werden, die höchste Priorität haben. Mit der Kompensation wird nach alternativen Wegen gesucht, um mit dem Abbau fertig zu werden, wie z. B. durch das Leben in einer altersgerechten Umgebung. Das erwähnte Kohärenzgefühl ist nach Antonovsky (1997) eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein intensives, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat. Es besteht aus den drei Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Für die geplante Studie wird angenommen, dass das Kohärenzgefühl eine intervenierende Variable darstellt, das heißt, dass stark kohärente Personen eher in der Lage sind, erfolgreich selektiv zu optimieren und zu kompensieren. Man hat herausgefunden, dass erfolgreich alternde Menschen nach dem Prinzip des SOK vorgehen. Der Grund dafür ist noch nicht untersucht. Es ist anzunehmen, dass das Kohärenzgefühl vor dem Hintergrund der biografischen Entwicklung hier eine Antwort liefern könnte. VHN 2/ 2008 149 Aktuelle Forschungsprojekte In Bezug auf das SOK-Modell von Baltes und Baltes (1989) kann demnach vermutet werden, dass das Kohärenzgefühl zu einem erfolgreichen Altern beiträgt. Im Rahmen dieses Modells erfolgt eine Beschreibung des Prozesses der effektiven psychologischen Anpassung an das Alter anhand der Mechanismen Selektion, Optimierung und Kompensation. Für ein Individuum, das die Welt als verstehbar, handhabbar und bedeutsam wahrnimmt, wird es vermutlich leichter sein, subjektiv als bedeutsam empfundene Bereiche auszuwählen und so zu einer Optimierung der eigenen Funktionalität zu gelangen (siehe auch Wiesmann 2004). Hypothesen Angenommen wird, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Kohärenz und erfolgreichem Altern gibt und dass psycho-soziale GRRs für die Stabilisierung des Kohärenzgefühls und demnach auch für ein erfolgreiches Altern wesentlich sind. Des Weiteren wird angenommen, dass eine lebenslange Behinderungserfahrung einen Einfluss auf die Ausbildung des Kohärenzgefühls hat, da die Personen einer permanenten Belastungssituation ausgesetzt sind. Nach Antonovsky (1997) sind die wichtigsten Determinanten bei der Herausbildung des Kohärenzgefühls gesellschaftlicher Art: die historische Periode, in der ein Mensch lebt, und die soziale Rolle, in die er eingebunden ist. Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung - gerade auch alte Menschen mit Behinderung, die die NS-Zeit überlebt haben - sind im sozialen Kontext zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt: von einer Heimunterbringung über den Besuch einer Sonderschule bis zur fehlenden Barrierefreiheit im Alltag. Belastende Lebensbedingungen haben erhebliche Auswirkungen auf Umgang, Nutzung und Wahrung von Ressourcen. In Anlehnung an Antonovskys Überlegungen können Behinderungen je nach Bewertung als Widerstandsdefizite verstanden werden und Stress erzeugen. Wird eine Behinderung als Bedrohung aufgefasst, ist anzunehmen, dass sie sich auch negativ auf das subjektive Gesundheitserleben auswirkt. Dies gilt umso mehr, je schwächer der SOC ist. Eine weitere Annahme betrifft den Zusammenhang zwischen Kohärenzgefühl und Geschlecht. Wie in einzelnen Studien verdeutlicht (u. a. Anson u. a. 1993; Larsson/ Kallenberg 1996), haben Frauen im Vergleich zu Männern niedrigere Werte des SOC. Dies, so die Hypothese, gilt ebenso für Frauen mit lebenslanger Behinderungserfahrung. Forschungsfragen n Was ist die Bedeutung des Kohärenzgefühls in Relation zum erfolgreichen Altern bei Frauen mit Behinderung? n Hat eine lebenslange Behinderungserfahrung Einfluss auf das Kohärenzgefühl und auf erfolgreiches Altern? n Hat das Geschlecht Einfluss auf das Kohärenzgefühl und auf erfolgreiches Altern? n Welche Strategien und Ressourcen lassen sich ableiten, damit Frauen mit lebenslanger Behinderungserfahrung erfolgreich altern? n Mit welchen Ressourcen stabilisieren ältere Menschen/ ältere Frauen mit Behinderung ihr Kohärenzgefühl? Die Stichprobe für die geplante Untersuchung soll sich aus Frauen mit lebenslanger Körperbehinderung im Alter von 50 + zusammensetzen, auch ein Vergleich mit Männern ist geplant, um so geschlechtsspezifische Unterschiede deutlich machen zu können. Forschungsziel Die Studie verfolgt folgende Ziele n Identifizierung eines Modells erfolgreichen Alterns n Ausweitung bereits existierender Forschungen zum erfolgreichen Altern n Ableitung eines Konzepts, das Strategien vorschlägt, damit Frauen mit Behinderung erfolgreich altern können. Weitere Informationen können eingeholt werden bei julia.strupp@cews.org Analyse der Erzählfähigkeiten von 6-jährigen Kindern mit SSES Anja Schröder Technische Universität Dortmund Die Erfassung und Förderung von Erzählfähigkeiten ist für sprachtherapeutische und schulische Kontexte aus mindestens zwei Gründen relevant: Zum einen dient das Erzählen eigener alltäglicher Erlebnisse der Konstruktion einer kontinuierlichen Identität. Durch Erzählen entwickelt sich das VHN 2/ 2008 150 Aktuelle Forschungsprojekte autobiografische Gedächtnis. Zum anderen ist die Fähigkeit, kohärent und kohäsiv erzählen zu können, eine wesentliche Vorläuferfertigkeit sowohl für den Lese- und Schreiberwerb als auch für bestimmte mathematische Fähigkeiten. Das in der Folge vorgestellte Forschungsprojekt ist eine gegenwärtige Teilstudie des interdisziplinären Forschungsprojektes zur Erfassung der interaktiven Erzählfähigkeiten an der TU Dortmund (Dortmunder Beobachtungsverfahren zur Interaktions- und Narrationsentwicklung - DO-BINE). Auf der Grundlage von DO-BINE sollen die Erzählfähigkeiten von Kindern mit einer sogenannten spezifischen Sprachentwicklungsstörung (im Folgenden SSES) differentiell analysiert werden. Leitende Fragestellungen 1. Unterscheiden sich die Erzählfähigkeiten von 6-jährigen Kindern mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (Leitsymptom grammatische Störungen) von den Erzählfähigkeiten gleichaltriger sprachunauffälliger Kinder? 2. Wenn ja: Sind dann bei den Kindern mit grammatischen Störungen Auffälligkeiten in der textstrukturellen Organisation beim Erzählen zu beobachten, die bei normal entwickelten Kindern nicht zu beobachten sind, machen sie also andere Fehler? Oder sind sie „entwicklungsverzögert“, zeigen also Fähigkeiten früherer Entwicklungsstufen? 3. Inwieweit muss die Auswertung von DO-BINE verändert werden, um (möglicherweise) die unterschiedlichen Leistungen von Kindern mit grammatischen Störungen und sprachunauffälligen Kindern differenziert erfassen zu können? Methodische Vorgehensweise Zur Beantwortung der oben gestellten Fragen werden die Erzählfähigkeiten von Kindern mit und ohne SSES am Übergang zum Schuleintritt miteinander verglichen. Dieser Vergleich lässt - für den Fall, dass Kinder mit einer SSES hier schlechtere Leistungen erbringen als ihre altersgleichen Peers - noch keine eindeutige Aussage darüber zu, worin die Abweichung genau besteht. Prinzipiell wären zwei Möglichkeiten denkbar: Kinder mit einer SSES erbringen schlechtere Leistungen 1. auf der lokalen Ebene der sprachlichen Formen oder 2. in der Strukturierung, also auf der globalen Ebene der Erzählung. Um eine genauere Betrachtung der abweichenden Leistungen von der altersparallelen Kindergruppe zu erhalten, ist es notwendig, eine Vergleichsgruppe zu haben, die sprachlich ähnliche Fähigkeiten aufweist wie die Gruppe der sprachbeeinträchtigten Kinder. Die Gruppen müssen also bezüglich ihrer Sprachleistungen parallelisiert werden. Zur Ermittlung der sprachlichen Leistungen aller Kinder in den Stichprobengruppen wurden die Kinder ab drei Jahren mit ESGRAF (Evozierte Sprachdiagnose grammatischer Fähigkeiten) und AWST (aktiver Wortschatztest) überprüft, Kinder unter drei Jahren mit SET-K2 (Sprachentwicklungstest für Kinder). Die Untersuchung wurde mit folgenden drei Stichprobengruppen (mit jeweils ca. 20 Kindern) durchgeführt: 1. 6-jährige Kinder mit Störungen im morphologisch-syntaktischen Bereich, 2. 6-jährige Kinder mit unauffälliger Sprachentwicklung (altersparallelisiert), 3. jüngere Kinder mit ähnlichen sprachlichen Leistungen wie die erste Gruppe (sprachlich parallelisiert). Erste Auswertungsergebnisse mit DO-BINE Vergleicht man die Gesamtpunktzahl, die die 6-jährigen Kinder mit SSES und die 6-jährigen Kinder ohne SSES mit der DO-BINE-Auswertung erhalten, zeigt sich eine gleichmäßige Verschiebung der Punktwerte der Kinder mit SSES in einen niedrigeren Leistungsbereich. Dieses Ergebnis könnte die Annahme bestärken, dass Kinder mit SSES eine Verzögerung im Erwerb von Erzählfähigkeiten zeigen und damit ähnliche Leistungen erbringen müssen wie jüngere sprachlich parallelisierte Kinder. Ein Vergleich der erreichten Gesamtpunktwerte der drei Stichprobengruppen ergibt Folgendes: Die Werte der 6-jährigen Kinder ohne SSES liegen stets über denen der beiden Vergleichsgruppen. Die jüngere Kindergruppe erreicht in etwa der Hälfte der Fälle (im unteren Leistungsbereich) gleiche oder geringfügig abweichende Werte wie die Kinder mit SSES. In der anderen Hälfte der Fälle (im oberen Leistungsbereich) zeigen sie deutlich schlechtere Werte als die Kinder mit SSES. VHN 2/ 2008 151 Aktuelle Forschungsprojekte Insgesamt zeigt sich demnach, dass die Kinder mit SSES keine „einfache“ Verzögerung in ihrem Erzählerwerb aufweisen, da sie z.T. deutlich über bzw. auch unter den Fähigkeiten der jüngeren sprachlich parallelisierten Kinder liegen. Für die genauere Beschreibung der Abweichungen in den Erzählleistungen scheint es somit erforderlich zu sein, eine qualitative Analyse der erzählspezifischen Fähigkeiten der Kinder mit SSES entlang der Dimensionen von DO-BINE vorzunehmen. Qualitative Analyse Da der qualitativen Analyse der Erzählfähigkeiten die Auswertung des DO-BINE-Verfahrens zugrunde gelegt wird, fließen dessen Kategorien in die Auswertung mit ein. Mit DO-BINE werden die Erzählfähigkeiten auf drei Dimensionen systematisch erfasst: der globalstrukturellen, der globalsemantischen und der globalformalen Dimension. Diese drei Ebenen werden für die Analyse der Äußerungen der erzählenden Kinder wie folgt erweitert: n Ergänzung zu der globalstrukturellen Dimension: Die TURNs des erzählenden Kindes werden auf ihre pragmatische Angemessenheit in Bezug auf den Vorgänger-TURN des Zuhörers zur Erledigung des jeweiligen Erzähljobs bewertet. n Ergänzung zu der globalsemantischen Dimension: Die beiden Vorfälle von DO-BINE werden in ihre Inhaltskomponenten zerlegt. Dabei werden diese u. a. eingeteilt in äußerlich wahrnehmbare und solche, die der subjektiven Interpretation der inneren Haltungen von anderen Personen unterliegen. Jeder TURN des Kindes wird auf seinen Beitrag zur Realisierung der Inhaltskomponenten der Erzählgeschichte hin bewertet. n Ergänzung zu der globalformalen Dimension: Die Fähigkeit zur Herstellung von Kohäsion wird zum einen auf lexikalischer Ebene (Art der Referenteneinführung, Art und Vollständigkeit der Referentenfortführung) und zum anderen auf syntaktischer Ebene (Stellung neuer und bekannter Informationen im Syntagma) untersucht. Da sich die Analyse (wie DO-BINE) auf eine interaktive Sicht von Erzählen stützt, auf deren Grundlage die Art und die Quantität der Zuhöreräußerungen als Unterstützung für den Erzählprozess angesehen werden, ist es erforderlich, diese in die Analyse mit einzubeziehen. Für die Analyse der Zuhöreräußerungen werden im Prinzip ähnliche Kategorien angelegt wie oben. Ziel dieser Analyse ist jedoch nicht die Ermittlung der Zuhörerkompetenz, sondern die Ermittlung der Reichweite der Zuhörerimpulse auf die nachfolgende Erzähläußerung des Kindes und damit die Beeinflussung der Erzählleistung des Kindes. Trends aus ersten Auswertungen Globalstrukturelle Dimension: In den Unterstützungen durch den Zuhörer zeigen sich qualitative Unterschiede, je nachdem, ob diese mit Kindern mit SSES oder mit den sprachlich parallelisierten Kindern gemeinsam erzählen. Sie trauen den jüngeren Kindern die Bewältigung höherer Anforderungen zu als den Kindern mit SSES. Globalsemantische Dimension: 6-jährige Kinder mit unauffälliger Sprachentwicklung geben Informationen aus allen überprüften Kategorien; die Kinder mit SSES liefern jedoch häufig wesentliche Informationen, die für das Verständnis unbedingt relevant sind. Dieser Trend ist auch bei den jüngeren sprachlich parallelisierten Kindern zu erkennen. Im Vergleich der Häufigkeit der Zuhörerunterstützung zeigt sich deutlich, dass keine Zuhörerunterstützung für die 6-jährigen Kinder mit unauffälligem Spracherwerb gegeben wird, d. h., dass die Kinder ihre Informationen selbstständig liefern. Globalformale Dimension: 6-jährige Kinder mit unauffälliger Sprachentwicklung verwenden Formen aus fast allen abgefragten Kategorien. Die Kinder mit SSES verwenden hingegen weniger Formen und zeigen eine geringere Varianz in der Formenverwendung. 6-jährige Kinder ohne SSES erhalten für die Formverwendung keine Zuhörerunterstützung. Die Kinder mit SSES werden unterstützt, wobei sich zeigt, dass nicht jede Unterstützung auch zu einer korrekten Formverwendung führt. Die sprachlich parallelisierten Kinder werden weniger unterstützt als die Kinder mit SSES und zeigen häufiger eine korrekte Formverwendung als diese. Fazit und Ausblick Die Analyse der Erzählfähigkeiten auf der Grundlage eines interaktiven Erzählbegriffs bietet vor allem auf zwei Ebenen eine Herausforderung. Zum einen ist Erzählen eine sehr komplexe (hier primär sprachliche) Leistung, die in den gängigen Sprachdiagnos- VHN 2/ 2008 152 Aktuelle Forschungsprojekte tiken bisher noch wenig Berücksichtigung fand. Zum anderen erfordert der interaktive Zugang für die Analyse, dass das Ausmaß der Einwirkung der Zuhöreräußerungen auf die nachfolgende Erzähleräußerung bewertet werden muss, beides unter besonderer Berücksichtigung von Kindern mit SSES in der Erzählerrolle. In weiteren Untersuchungen wird sich zeigen, inwiefern sich die vorgestellten Trends in der Auswertung mit größeren Stichproben bestätigen lassen. Zudem soll der Frage nach einem Zusammenhang zwischen globalen Erzählleistungen und grammatischen Fähigkeiten nachgegangen werden. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei anja.schroeder@unidortmund.de. Die schulische Integration von Kindern mit einer geistigen Behinderung - eine Wirkungsanalyse Gérard Bless, Rachel Sermier Universität Freiburg/ Schweiz Das vorliegende, vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützte Projekt wurde im September 2007 in Angriff genommen. Die Laufzeit der Forschungsarbeit beträgt drei Jahre. Das Forschungsprojekt ist Teil der langjährigen Forschungsbemühungen zu Fragen der Integration bzw. Separation (INTSEP- Forschungsprogramm) des Heilpädagogischen Instituts der Universität Freiburg/ Schweiz. Im Sog internationaler Bestrebungen zugunsten der integrativen Beschulung sowie in Anbetracht der künftig möglichen Veränderungen im schweizerischen Sonderschulwesen (bedingt durch das Inkrafttreten der Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen und deren Finanzierung [NFA]) ist eine vermehrte Schulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Rahmen der Regelschule wahrscheinlich. In den letzten Jahren haben einzelne Kantone nebst der schulischen Integration von Kindern mit „Lernbehinderungen“ begonnen, auch Kinder mit einer geistigen Behinderung in die Regelklasse zu integrieren, wobei die dafür zur Verfügung gestellten heilpädagogischen Ressourcen intensiver sind als bei der integrativen Beschulung von „Lernbehinderten“. Während bisher zu den Wirkungen der Integration von „Lernbehinderten“ international wie national intensiv Forschungen realisiert wurden, ist die Forschungslage bei Geistigbehinderten deutlich geringer. Bis anhin liegt in der Schweiz keine empirische Längsschnittuntersuchung mit Kontrollgruppendesign zu dieser Thematik vor. Mit dem vorliegenden Forschungsprojekt soll nun ein erster Beitrag hierzu geleistet werden. Empirische Befunde dieser Art scheinen uns im Hinblick auf kommende bildungspolitische Entscheide besonders relevant zu sein. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen Fragestellungen zur Entwicklung der Kinder (schulisches Lernen sowie adaptive Kompetenzen), zur Wirkung der Integration auf die Mitschülerinnen und Mitschüler sowie zur Einstellung der Lehrpersonen zur Integration von Kindern mit einer geistigen Behinderung. Fragestellung A: Entwicklung der Kinder mit einer geistigen Behinderung Sind die Fortschritte von Kindern mit einer geistigen Behinderung, welche mit Hilfe heilpädagogischer Maßnahmen in Regelschulklassen integriert beschult werden, in Bezug auf ihre schulische Lernentwicklung und ihre adaptiven Fähigkeiten ebenso groß wie jene vergleichbarer Kinder, die eine Sonderschule besuchen? Eine erste Durchsicht der Forschungsliteratur (Freemann/ Alkin 2000; Katz/ Mirenda 2002; Cunningham u. a. 1998; Buckley u. a. 2002; Karsten/ Peetsma 2002; Cole u. a. 2004) legt nahe, dass bezüglich der Lernentwicklung insgesamt von einer Pattsituation mit Hinweisen auf einen leichten Vorteil der integrativen Beschulung ausgegangen werden muss. Diese Vorteile scheinen insbesondere Kinder mit einer „leichten“ geistigen Behinderung zu betreffen. Keine der genannten Untersuchungen oder Überblicksarbeiten geht in Bezug auf die Lernentwicklung von einem Vorteil der Sonderschule aus. In Bezug auf die Entwicklung adaptiver Kompetenzen kamen Buckley u. a. 2002 in ihrer Untersuchung mit Jugendlichen mit Down Syndrom zu folgenden Ergebnissen, wobei allerdings eine Übertragung dieser Befunde auf die wesentlich jüngere Population, die hier untersucht wird, problematisch ist: Vorteil integrativer Beschulung in Bezug auf funktionale schulische Fähigkeiten sowie in Bezug auf kommunikative Fähigkeiten; keine signi- VHN 2/ 2008 153 Aktuelle Forschungsprojekte fikanten Unterschiede zwischen Integration und Separation in den Bereichen Autonomie, häusliche Fähigkeiten, soziale Fähigkeiten; Vorteil der Separation im Hinblick auf Freundschaften und Liebschaften. In Übereinstimmung mit der momentanen Befundlage internationaler Forschungen wird in der allgemeinen Untersuchungshypothese zu dieser Fragestellung ebenfalls von einer Pattsituation ausgegangen. Die Beantwortung der Fragestellung setzt die Durchführung einer Längsschnittuntersuchung (drei Messzeitpunkte) mit einem Kontrollgruppendesign voraus. In die Untersuchungsstichprobe werden geistig behinderte Kinder mit Geburtsjahr 1999 oder 2000 aufgenommen, die kurz vor dem Messzeitpunkt t 1 in die erste Primarschulklasse eingetreten sind oder eine Sonderschule für Geistigbehinderte besuchen. In dieser Altersgruppe bestehen die größten Chancen, eine ausreichende Stichprobe rekrutieren zu können. Es werden vergleichbare Kinder aus den Kantonen Freiburg, Wallis, Zürich, Waadt und Bern für die Untersuchung ausgewählt und nach verschiedenen Kriterien parallelisiert. Die Datenerhebungen finden im Oktober/ November 2007, im Mai/ Juni 2008 sowie im Mai/ Juni 2009 statt. Fragestellung B: Wirkung auf die Mitschülerinnen und Mitschüler Werden die nicht behinderten Mitschüler durch die Integration von geistig behinderten Kindern in ihrer Entwicklung in den Kernfächern Sprache und Mathematik benachteiligt? Die Relevanz dieser Fragestellung steht im Zusammenhang mit den sehr häufig geäußerten Befürchtungen von Eltern, Lehrpersonen und Bildungsverantwortlichen, dass die „normal“ begabten Regelschüler durch die Integration und somit durch die Präsenz von geistig behinderten Kindern in ihrer Lernentwicklung gebremst werden. Die bisher gesichtete internationale Forschungsliteratur (Hollowood u. a. 1994; Dumke u. a. 1991; Sharpe u. a. 1994; Huber u. a. 2001; Cole u. a. 2004 sowie Kalamboukha u. a. 2005) liefert keine Hinweise, welche die geäusserten Befürchtungen stützen, weshalb hier von keinem negativen Einfluss der Integration ausgegangen wird. Zur Beantwortung dieser Fragestellung wird ebenfalls eine Längsschnittuntersuchung mit zwei Messzeitpunkten (t 1 zu Beginn des Schuljahres 2008/ 09, t 2 Ende des Schuljahres 2008/ 09) mit einem Gruppenvergleich durchgeführt. Die Mathematik- und Sprachleistungen von Regelschülern in Klassen mit Integration werden mit jenen von Regelschülern in Klassen ohne Integration verglichen. Zudem ist geplant, die Situation für Schülergruppen mit unterschiedlichen Leistungsniveaus zu analysieren. Fragestellung C: Einstellungen zur Integration von geistig behinderten Kindern Wie steht es um die Einstellungen der Lehrpersonen gegenüber der schulischen Integration von geistig behinderten Kindern? Diese dritte Fragestellung wurde auf Wunsch des Forschungsrates des Schweizerischen Nationalfonds in unser Forschungsprojekt aufgenommen. Dabei soll geklärt werden, wie die Lehrpersonen zur Integration von Kindern mit einer geistigen Behinderung stehen, ob sie diese unterstützen und ob die Integration ihrer Ansicht nach realisierbar ist. Das Vorgehen zur Beantwortung dieser Fragestellung befindet sich noch in der Planung. Sie orientiert sich am Ziel, sowohl Lehrpersonen, welche in integrativen Settings arbeiten, als auch Lehrpersonen, welche in „reinen Regelklassen“ unterrichten, zu befragen und die Ergebnisse miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise können Hinweise gewonnen werden, die eine Analyse des eventuellen Einflusses der Erfahrungen mit dem integrativen Unterricht ermöglichen. Der Schlussbericht zur vorliegenden Untersuchung ist gegen Ende 2010 zu erwarten. Weitere Informationen können über rachel.sermier@unifr.ch eingeholt werden. Die Bedeutung der schulischen Integration für die soziale und berufliche Situation im frühen Erwachsenenalter Michael Eckhart, Caroline Sahli Universität Freiburg/ Schweiz Forschungshintergrund und Fragestellung Die Frage nach langfristigen Wirkungen von schulischen Integrationserfahrungen bezieht sich auf einen Kerngedanken in der umfangreichen program- VHN 2/ 2008 154 Aktuelle Forschungsprojekte matischen Literatur zur „Integrationspädagogik“ und zur „Interkulturellen Pädagogik“. Inwieweit prägt der gemeinsame Unterricht von verschiedenen Kindern, z.B. von einheimischen und zugewanderten Kindern oder von behinderten und nichtbehinderten Kindern, deren spätere soziale und berufliche Situation? Antworten auf diese Frage fallen je nach Standpunkt unterschiedlich aus. Zum einen werden Befürchtungen laut, welche negative Auswirkungen auf die spätere gesellschaftliche und berufliche Integration prognostizieren. Zum anderen werden an den integrativen Unterricht große Erwartungen geknüpft. Hier soll das Fundament für das spätere Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft gelegt werden. Trotz der zentralen Bedeutung von langfristigen Wirkungen der schulischen Integration stehen hierzu nur wenige empirisch abgesicherte Erkenntnisse zur Verfügung. Aussagen bleiben damit vorwiegend spekulativ. Betrachtet man den Forschungsstand, so erhellt sich die Lage nicht wesentlich. Es liegen nur wenige Untersuchungen zu langfristigen Entwicklungen vor. Das diesbezügliche Forschungsdefizit erklärt sich insbesondere daraus, dass Längsschnittstudien über die erforderliche Dauer von mindestens acht bis zehn Jahren im europäischen und amerikanischen Wissenschaftsbetrieb äußerst selten möglich sind. Ebenfalls bestehen praktisch keine größeren Längsschnittstudien, welche sich mit der Situation von Kindern mit Migrationshintergrund auseinandersetzen. Vergleichbar schmal ist die empirische Basis, wenn langfristige Wirkungen schulischer Integration auf Kinder mit Schulleistungsschwächen ins Auge gefasst werden. Im Rahmen eines Nationalfondsprojekts (SNF- Nr. 1160379), das seit September 2007 unter der Leitung von Prof. Dr. Urs Haeberlin am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg (Schweiz) durchgeführt und während drei Jahren vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird, soll diese Forschungslücke geschlossen werden. Entsprechend konzentriert sich die Untersuchung auf langfristige Wirkungen der Integration von Immigrantenkindern und von traditionell separiert unterrichteten sog. „lernbehinderten“ Kindern in Regelklassen. Die übergeordnete Fragestellung des Gesamtprojekts kann wie folgt zusammengefasst werden: Wie beeinflussen schulische Integrationserfahrungen soziale und berufliche Integrationsprozesse im frühen Erwachsenenalter? Forschungsplan und Forschungsmethoden Die Untersuchung einer solch umfassenden Forschungsfrage wird möglich, weil mit Rückgriff auf Studien, welche in den vergangenen zehn Jahren im Rahmen des IntSep-Forschungsprogramms des Heilpädagogischen Instituts durchgeführt wurden, langfristige Entwicklungen nachgezeichnet werden können. Bereits im Schuljahr 1996/ 97 wurden die Grundschulkinder während eines Schuljahres ein erstes Mal in einer Nationalfondsuntersuchung begleitet. Eine zweite Längsschnittuntersuchung fand vier Jahre später in der 6. Klasse statt. In beiden Untersuchungen wurden Daten erhoben, die einen vielfältigen Blick in schulische Entwicklungen bieten. Neben personenbezogenen Informationen wurden die soziale Integration und die Schulleistung gründlich dokumentiert. Aktuell befinden sich die Jugendlichen ungefähr im Alter von 18 Jahren, also in der Übergangsphase zwischen Schule und Beruf. Bei einer Stichprobe von rund 500 Personen sollen nun Zusammenhänge zwischen den in der Schulzeit erhobenen Daten und den aktuellen Informationen aufgedeckt werden. Von besonderem Interesse sind dabei die Integrationserfahrungen, welche die Jugendlichen während ihrer Schulzeit in verschiedenen Schulklassentypen gesammelt haben. Forschungsmethodisch werden verschiedene Zugänge gewählt. Zum einen liegt der Schwerpunkt auf inferenzstatistischen Auswertungen zwecks Überprüfung von Hypothesen. Die durch Telefoninterviews erhobenen Daten werden varianzanalytisch ausgewertet. Mit diesem Untersuchungsteil sollen die oben angedeuteten Forschungsfragen beantwortet werden. Inhaltlich kreisen die Auswertungen um die beiden Untersuchungsschwerpunkte der sozialen Integration einerseits und der beruflichen Situation andererseits. Mit Hilfe von linearen Strukturgleichungsmodellen sollen theoretische Zusammenhänge zwischen den beiden Untersuchungsschwerpunkten analysiert werden. Zum andern ist geplant, dass mit ausgewählten Jugendlichen biografische Gespräche durchgeführt werden. Diese problemzentrierten Leitfadeninterviews werden einer inhaltsanalytischen Auswertung zugeführt. Ziel dieses Untersuchungsteils ist das Formulieren von begründeten Hypothesen. Zur Erhebung der sozialen und beruflichen Informationen, welche in der Untersuchung die abhängigen Variablen bilden, werden erprobte Verfahren so angepasst, dass sie in einer telefonischen Befra- VHN 2/ 2008 155 Aktuelle Forschungsprojekte gung genutzt werden können. So wird die Soziale Integration zum einen mittels egozentrierter Netzwerke erhoben. In Anlehnung an das Verfahren, das von Burt (1984) entwickelt wurde, werden persönliche Beziehungen erfragt. Zum andern dient zur Messung der Sozialen Integration die entsprechende Skala aus dem Fragebogen zur Sozialen Unterstützung (Sommer/ Fydrich 1989). Auch werden zur Messung von Kontaktvariablen sowie einstellungsbezogenen Merkmalen Items aus dem sogenannten ALLBUS-Fragebogen beigezogen. Weiter soll aufgeklärt werden, wie der Übergang von der Schule in den Beruf vonstatten gegangen ist, welche Stationen die Jugendlichen bis zum Zeitpunkt der Untersuchung durchlaufen haben und wie ihre beruflichen Zukunftsperspektiven aussehen. Zur Erfassung dieser Daten gibt das Vorgehen der TREE-Längsschnittstudie (Transition von der Erstausbildung ins Erwerbsleben; Meyer 2004) wichtige Impulse. Zusätzlich wird auf Skalen aus bestehenden Fragebogen zurückgegriffen (z. B. Müller 2006; Imdorf 2005; Herzog/ Neuenschwander/ Wannack 2006). Die Arbeit des Projektteams gestaltet sich nach mehreren Schwerpunkten. In den ersten Wochen standen die Identifizierung der Stichprobe, die Adressrecherchen und erste Kontaktnahmen mit Schulleitungen im Vordergrund. Ab Herbst 2007 wurden optimale Operationalisierungen der theoretisch zu erhebenden Konstrukte gesucht und in einer ersten, provisorischen Fragebogenversion vereinigt. Diese wurde in einem Vorlauf erprobt und wo notwendig korrigiert, ergänzt und angepasst. Im Frühjahr 2008 wird dann mit den jungen Erwachsenen Kontakt aufgenommen, um Telefontermine zu vereinbaren. Für die Haupterhebung ist ein Zeitrahmen von rund einem Jahr eingeplant. Ergänzend sollen mit einigen Jugendlichen zu thematischen Schwerpunkten vertiefende biografische Interviews durchgeführt werden. Nach der Auswertungsphase kann auf Mitte 2010 mit dem Schlussbericht gerechnet werden. Weitere Informationen und Literaturangaben können bei michael.eckhart@unifr.ch eingeholt werden.