Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Das sonderpädagogische Lehramtsstudium wissenschaftlicher gestalten
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Michael Grosche
Matthias Grünke
Kenntnisse über fundierte Theorien und über die Wirksamkeit von Unterrichtsmethoden stellen zwar zentrale Kompetenzen für eine sonderpädagogische Lehrkraft dar, ihr Stellenwert wird von Studierenden jedoch oftmals eher gering geschätzt. Die Konsequenzen dieser Abwertung sind relativ unerfreulich und äußern sich in einer Unterrichtspraxis, die mehr auf persönlichen Glaubensbekenntnissen und subjektiven Alltagserfahrungen als auf wissenschaftlichen Befunden beruht. Darüber hinaus bleiben die Erfolge der Bemühungen weit hinter ihren Möglichkeiten. Um an diesem Zustand etwas zu verändern und die Grundlage für eine enge Verzahnung von Theorie, Forschung und Praxis zu legen, müssen Dozierende an Hochschulen die Bedeutung der Empirie für die praktische Arbeit überzeugender als bisher vermitteln. In dem vorliegenden Aufsatz werden hierzu fünf Vorschläge unterbreitet.
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VHN, 77. Jg., S. 190 - 197 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 190 Das sonderpädagogische Lehramtsstudium wissenschaftlicher gestalten Michael Grosche, Matthias Grünke Universität zu Köln n Zusammenfassung: Kenntnisse über fundierte Theorien und über die Wirksamkeit von Unterrichtsmethoden stellen zwar zentrale Kompetenzen für eine sonderpädagogische Lehrkraft dar, ihr Stellenwert wird von Studierenden jedoch oftmals eher gering geschätzt. Die Konsequenzen dieser Abwertung sind relativ unerfreulich und äußern sich in einer Unterrichtspraxis, die mehr auf persönlichen Glaubensbekenntnissen und subjektiven Alltagserfahrungen als auf wissenschaftlichen Befunden beruht. Darüber hinaus bleiben die Erfolge der Bemühungen weit hinter ihren Möglichkeiten. Um an diesem Zustand etwas zu verändern und die Grundlage für eine enge Verzahnung von Theorie, Forschung und Praxis zu legen, müssen Dozierende an Hochschulen die Bedeutung der Empirie für die praktische Arbeit überzeugender als bisher vermitteln. In dem vorliegenden Aufsatz werden hierzu fünf Vorschläge unterbreitet. Schlüsselbegriffe: Effizienz, Empirie, Verzahnung von Theorie, Forschung und Praxis To Organise the Academic Studies for Special Education Teachers in a More Scientific Way n Summary: The knowledge of well-founded theories and of the effectiveness of teaching methods constitutes a central competence of special education teachers, but the students often disesteem its significance. The consequences of such devaluation are quite annoying because the lack of a wellgrounded theoretical basis leads to a classroom instruction that is based on personal creeds and on subjective everyday experiences instead of scientific findings. Thus the results of the teachers’ efforts stay way behind their potential. To change this situation and to establish the fundament for a close link-up between theory, research and practice, the university lecturers have to emphasise the significance of empiricism for practical work more convincingly than hitherto. In their article the authors present five propositions to achieve this aim. Keywords: Empiricism, effectiveness, link-up between theory, research and practice Das provokative Essay Die Ausbildung von Lehrkräften, die auch oder ausschließlich Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichten sollen, findet im deutschsprachigen Europa überwiegend an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen statt. An den meisten dieser höheren Bildungseinrichtungen gehört es mittlerweile zum guten Ton, Lehrveranstaltungen von Studierenden evaluieren zu lassen. Vielerorts ist dies inzwischen sogar zur Pflicht geworden. Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer in der Bundesrepublik Deutschland, die nach einer der neuen Besoldungskategorien W 2 oder W 3 bezahlt werden, erhalten ihre leistungsgebundenen Bezüge oftmals in Abhängigkeit von den Ergebnissen der studentischen Veranstaltungsbeurteilungen. Für Dozierende in der sonderpädagogischen Lehramtsausbildung stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Mehr als in vielen anderen Studiengängen werden Vorlesungen und Seminare, deren Inhalte für eine solide Qualifikation als unabdingbar erscheinen, als überflüssig angesehen und entsprechend schlecht bewertet. Was ist damit gemeint? Während Mädchen und Jungen ohne Beeinträchtigungen oder Behinderungen normalerweise von sehr verschiedenen Unterrichtsmethoden und Lernangeboten profitieren können, trifft dies auf Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf VHN 3/ 2008 191 Das sonderpädagogische Lehramtsstudium meist nicht in derselben Weise zu (Gildroy/ Deshler 2005; 2006). Bis vor wenigen Jahren wurde in der Fachwelt noch intensiv darüber diskutiert, ob die Einzellaut- oder die Ganzwortmethode den besseren Weg zum Schriftspracherwerb darstellen würde. Provokant formuliert kann man mittlerweile feststellen, dass Kinder normalerweise durch keinen der beiden Ansätze davon abgehalten werden, lesen und schreiben zu lernen. Auf Schülerinnen und Schüler mit gravierenden Lernschwierigkeiten trifft eine derartige Beliebigkeit allerdings weit weniger zu. Die empirische Befundlage zeigt sehr deutlich, dass leistungsschwache Mädchen und Jungen fast ausschließlich von ganz bestimmten Vorgehensweisen mit sehr spezifischen Merkmalen profitieren (z. B. Swanson 1999). Die Arbeit mit beeinträchtigten oder behinderten Kindern ist anspruchsvoller als der Unterricht mit Schülerinnen und Schülern ohne Förderbedarf, da man im ersten Fall durch Unkenntnis meist mehr Unheil anrichten kann als im zweiten. Dass es für eine erfolgreiche Ausübung des Berufes äußerst wichtig ist, über relevante Theorien informiert zu sein und hinsichtlich aktueller Forschungsentwicklungen „am Ball zu bleiben“, versteht sich etwa für Ärztinnen oder Ärzte von selbst. Für Lehrerinnen und Lehrer, die mit beeinträchtigten oder behinderten Kindern arbeiten, wäre dies jedoch ebenso bedeutsam, wie etwa die Studie von Stough und Palmer (2003) zeigt. In dieser qualitativen Arbeit wurden sonderpädagogische Lehrkräfte beim Unterrichten auf Video aufgenommen. Unmittelbar im Anschluss daran sollten sie ihr Verhalten ansehen und spontan begründen. Einige von ihnen waren über Jahre hinweg sehr gut in der Lage, ihren Schülerinnen und Schülern die Kulturtechniken zu vermitteln und den Spaß am Lernen zu fördern - andere konnten dies hingegen deutlich schlechter. Es zeigte sich, dass besonders „erfolgreiche“ Pädagoginnen und Pädagogen relativ viele Gedanken äußerten, die auf ein gezieltes Adaptieren der Lernangebote auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler bezogen waren. Die Personen begründeten ihre Entscheidungen (im Gegensatz zu ihren relativ wenig effektiven Kolleginnen und Kollegen) in der Regel nicht mit persönlichen Präferenzen oder subjektiven Überzeugungen, sondern mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. In der Veröffentlichung heißt es über das Vorgehen der Lehrkräfte: „… their instructional activities reflected current knowledge of effective instruction“ (219). Natürlich kann der Unterschied zwischen „guten“ und „weniger guten“ Lehrerinnen und Lehrern nicht nur über ein einziges Merkmal definiert werden. Auf Basis der empirischen Forschung über die „ideale“ Lehrkraft (vgl. Masendorf 1997; Wilbert/ Gerdes 2007) lassen sich in dieser Hinsicht zweifelsohne mehrere Variablen nennen. Gemäß einer aktuellen Studie von Santangelo (2007) zeichnen sich besonders „gute“ Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen aus Sicht ihrer Schülerinnen und Schüler vornehmlich dadurch aus, dass sie sich freundlich und hilfsbereit verhalten, Humor zeigen, ein fundiertes Fachwissen aufweisen, einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besitzen, die Zusammenarbeit zwischen den Kindern fördern u. v. m. Befragt man die Lehrkräfte selber, so werden v. a. didaktische Fähigkeiten, Kompetenzen im Bereich des „Classroom Managements“, grundlegendes Wissen über Lernstörungen, praktische Erfahrungen und diagnostische Expertise genannt (Grünke 2007a). Allerdings liegen den verschiedenen Untersuchungen zur „idealen“ Lehrkraft oft jeweils unterschiedliche Fragestellungen zugrunde: Teilweise geht es um Beliebtheit, um professionelles Auftreten, um Souveränität, um Erziehungsaspekte oder um die Fähigkeit, Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Kulturtechniken zu vermitteln. Der zuletzt genannte Aspekt wird in seiner Bedeutung unter Verweis auf die vielfältigen Aufgaben einer Lehrkraft in der öffentlichen und in der Fachdiskussion häufig relativiert: „In der Schule kommt es nicht nur auf das Lesen, Schreiben und Rechnen an, sondern auch auf Erziehung, VHN 3/ 2008 192 Michael Grosche, Matthias Grünke Persönlichkeitsentwicklung, Anleitung zur Teamarbeit usw.“, heißt es oft. Diesem Einwand ist nichts entgegenzusetzen. Und trotzdem sollte der Erwerb der Kulturtechniken in der Schule zweifelsohne keine Neben-, sondern eine Hauptrolle spielen. Um diesem Anliegen gerecht zu werden, stellt es in der Regel eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dar, dass Lehrkräfte freundlich, zugewandt, gerecht, kreativ usw. sind. Die Kernkompetenzen sind mit Blick auf die hierzu vorliegenden Studien allerdings das Wissen um die Wirksamkeit verschiedener Unterrichts- und Förderkonzepte sowie die Fähigkeit zu deren adäquatem Einsatz. Das wissenschaftliche Personal in der sonderpädagogischen Lehramtsausbildung steht nun vor der schwierigen Aufgabe, den eigenen Studierenden einen wissenschaftlichen Zugang zu ihrem Fach zu eröffnen. Angehende Lehrpersonen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sollen letztendlich in die Lage versetzt werden, ihren Unterricht so zu konzipieren, dass er auf einem theoretisch und empirisch soliden Fundament steht und seinen Zweck erfüllt. Denn es kommt hier eben mehr als in der Arbeit mit unauffälligen Kindern darauf an, die „richtigen“ Methoden zur „richtigen“ Zeit einzusetzen. Die besondere Schwierigkeit besteht darin, dass wissenschaftliche Inhalte von Studierenden oftmals mit eher mäßigem Interesse aufgenommen und dass Veranstaltungen mit starker theoretischer und empirischer Schwerpunktsetzung nicht sonderlich wohlwollend beurteilt werden. Die Studierenden fordern vielmehr praktische Handlungsempfehlungen, die sich direkt und leicht im Schulalltag umsetzen lassen (unabhängig davon, ob sie ihr Ziel besser erreichen als entsprechende alternative Zugänge). Häufig zu hören ist der Ruf vieler Studentinnen und Studenten der Sonderpädagogik nach „mehr Praxis“, und ebenso häufig wird der Ruf nach „weniger Theorie“ und insbesondere „weniger Forschung“ vernommen. Bewährte Modelle und Theorien werden abgelehnt und Empirie und Wissenschaftlichkeit als nicht relevant für die sonderpädagogische Kompetenz bewertet. Im Gegenzug werden die Prinzipien der Kindorientierung und Individualisierung stark betont. In einer gewissen Übergeneralisierung dieser Grundsätze führen einige Studierende an, dass sich allgemein Theorien nicht auf einzigartige Individuen anwenden lassen und man diese nicht „als Zahlen sehen darf“. Empirischquantitative Forschung wird somit als eben nicht kind-, sondern als technologieorientiert angesehen, und sie widerspricht (scheinbar) dem sonderpädagogischen Menschenbild: Quantitative Forschung reduziert das Kind unzulässig auf einzelne Zahlen und ignoriert dadurch seine Individualität. Zugegeben, empirische Forschung ist nicht der einzige Weg, Fördermaßnahmen zu begründen. Doch wenn es um die Einschätzung ihrer Effektivität geht, so gilt die quantitative Forschung nach wie vor als der pädagogisch-psychologische Königsweg. Eine weitere Herausforderung an die in der sonderpädagogischen Lehramtsausbildung tätigen Personen besteht darin, dass sich Studierende häufig als reine Praktikerinnen und Praktiker betrachten, die Dozierenden hingegen als reine Theoretikerinnen und Theoretiker. Aufgrund dieser Zweiteilung in Theorie und Praxis ist es nicht verwunderlich, dass die Theorie als praxisfern abgeschwächt und dass dem wissenschaftlichen Personal vorgeworfen wird, seine theoretischen Konzepte seien in der Praxis zum Scheitern verurteilt. Hinterfragt wird diese Dichotomie aber anscheinend viel zu selten. Das geht so weit, dass Dozierenden an Hochschulen mitunter jegliche (sonder-)pädagogische Kompetenz abgesprochen wird, ohne dass man Möglichkeiten sucht oder zumindest zulässt, diese Annahme zu falsifizieren. Wenn nun eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler eine Theorie vorstellt, so muss die Theorie zwangsläufig Theorie bleiben, denn die betreffende Person ist ja keine Lehrkraft und hat daher keinen Bezug zur Schule. Ähnlich verhält es sich mit Forschungsergebnissen. Die Glaubwürdig- VHN 3/ 2008 193 Das sonderpädagogische Lehramtsstudium keit der Dozierenden und der von ihnen vertretenen Theorien wird oftmals in Abhängigkeit von ihren Praxiserfahrungen gesehen. Unklarheit besteht jedoch darüber, wie lange eine Person vor ihrem Wechsel an eine Hochschule in einer Schule gearbeitet haben sollte: Genügen zwei Jahre Praxistätigkeit in einer Förderschule? Sollten es nicht besser fünf Jahre sein? Oder lieber zehn, zwanzig oder vielleicht sogar vierzig Jahre? Doch sind die Dozierenden dann nicht viel zu alt und unfähig, einen Zugang zur modernen Welt der Schülerinnen und Schüler zu finden? Derartige Argumente mancher Studentinnen und Studenten gipfeln oft in der Auffassung, dass eine Lehrkraft, die an einer Hochschule unterrichtet, jeglichen Bezug zur sonderpädagogischen Praxis verloren hat und sich nicht herausnehmen darf, Theorien und empirische Forschungsergebnisse darauf anzuwenden. Nach Ansicht von Gersten, Vaughn, Deshler und Schiller (1997) stellt sich die geschilderte Problemlage in der sonderpädagogischen Lehramtsausbildung extremer dar als anderswo. Wie erwähnt erfordert es der Umgang mit beeinträchtigten und behinderten Kindern, dass Lehrkräfte sehr gut über fundierte Theorien und die (differenzielle) Effektivität von Unterrichts- und Förderkonzepten informiert sind. Die Studierenden arbeiten allerdings auf ein ganz spezielles Berufsziel hin und bewerten die an sie herangetragenen Inhalte häufig danach, inwieweit sie für ihre spätere Tätigkeit direkte Relevanz besitzen. Kenntnisse über Modelle und Forschungsbefunde sind für sie in Anbetracht dieses Maßstabes bestenfalls von mittelbarer Bedeutung. Ihr Erwerb wird als lästige Pflichtübung betrachtet, um die nächste anstehende Prüfung zu bestehen. Gemäß Gersten u. a. (1997) ist eine derart „ökonomische“ Auslese und Beurteilung von Informationen in anderen Studiengängen deutlich weniger oder überhaupt nicht üblich. Vermutlich würde kaum jemand auf den Gedanken kommen, die Kompetenz einer Professorin oder eines Professors für Bauwesen zu hinterfragen und die in den Veranstaltungen vermittelten physikalischen Gesetzmäßigkeiten und Theorien als irrelevant für die Planung von Gebäuden zu betrachten, nur weil die betreffende Person nicht selbst eine Baufirma betreibt. Wenn das Wissen über die empirische Bewährung von Theorien und Unterrichtskonzepten für die Qualität der praktischen sonderpädagogischen Tätigkeit nun tatsächlich einen so hohen Stellenwert besitzt wie oben angedeutet, dann kommt der Begeisterungsfähigkeit und Kreativität der Dozierenden eine große Bedeutung zu. Ihnen obliegt es, die bestehenden Vorbehalte und Abneigungen der Studierenden besser als bislang zu überwinden und nachhaltige Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn bislang klappt es bei uns mit der Verzahnung von Theorie, Empirie und Praxis eher schlecht. Eine schriftliche Befragung von knapp 200 angehenden Lehrkräften der Universität Oldenburg aus dem Hauptstudium ergab, dass Studierende der Sonderpädagogik im Vergleich zu Studierenden der Regelschulpädagogik weniger fundierte Kenntnisse in effektiven sonderpädagogischen Methoden aufwiesen und in ihrem Unterricht eher unwirksame und weniger wirksame Ansätze berücksichtigen würden (Hintz/ Grünke 2007). Bei einer Erhebung von Runow und Borchert (2003) wurden 375 Lehrkräfte aus Norddeutschland um ihre Einschätzung der Effektivität von 20 empirisch relativ gut überprüften sonderpädagogischen Methoden gebeten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stuften nur vier dieser Interventionsformen einigermaßen adäquat ein. In der praktischen Arbeit verließen sie sich primär auf das eigene „Bauchgefühl“ und die persönlichen Erfahrungen. Derartige Befunde können nicht zufrieden stimmen, und es besteht die ernsthafte Gefahr, dass die deutschsprachige Sonderpädagogik in Zeiten der Qualitätssicherung mehr und mehr „entlarvt“ wird. Hätten die Ingenieurwissenschaften den Prozess der technologischen Entwicklung wissenschaftlich so stiefmütterlich VHN 3/ 2008 194 Michael Grosche, Matthias Grünke behandelt wie die Erziehungswissenschaften die Frage nach der Leistungsfähigkeit von Schulen, so hätte dies in Deutschland nach Ansicht von Weiler (2005), dem ehemaligen Rektor der Stanford-University, sicherlich eine empörte öffentliche Diskussion über die Daseinsberechtigung der Ingenieurwissenschaften ausgelöst. Bezogen auf die Sonderpädagogik im deutschsprachigen Raum wäre eine solche Debatte sicher ganz besonders beunruhigend. Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Ausbildungsstätten für zukünftige sonderpädagogische Lehrkräfte obliegt es uns, die Einstellungen unserer Studierenden im Hinblick auf die Bedeutung von fundierten Modellen und Befunden über die Wirksamkeit von Maßnahmen zu prägen. Es ist zwar nicht allein unsere Aufgabe, die Brücke zwischen Theorie, Forschung und Praxis zu schlagen, aber ohne uns wird sich die Breite der Kluft kaum verringern können. Die damit verbundene Herausforderung ist anspruchsvoll, da es sicher bessere Wege gibt, sich bei Studierenden beliebt zu machen und für die eigenen Veranstaltungen gute Evaluationsergebnisse zu erzielen, als theoretische Ansätze und Wirksamkeitsnachweise zu thematisieren. Ungeachtet dessen ist es von entscheidender Bedeutung, sich dieser Aufgabe mit Enthusiasmus und Überzeugung zu widmen. Um die mit diesem Unterfangen verbundenen Ziele zu erreichen, ist jedoch Reflexionsfähigkeit und Selbstkritik nötig. Viele der von Studierenden geäußerten Kritikpunkte sind nicht unbegründet. Oft werden in Veranstaltungen kaum Bezüge zur Praxis hergestellt, und wir sind mitunter nur sehr bedingt in der Lage, die Gültigkeit von Kurt Lewins (1951) bekanntem Ausspruch „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“ (196) anhand geeigneter Beispiele und Erläuterungen überzeugend zu demonstrieren. Um dies gut zu können, ist es sicherlich sehr hilfreich, intensive Kontakte mit Schulen zu pflegen und - soweit möglich - häufig Gelegenheiten für eigene praktische Tätigkeiten im Bereich der Förderung oder des Unterrichts zu nutzen. Grünke (2007 b) hat kürzlich eine Reihe von Vorschlägen formuliert, deren Umsetzung bewirken soll, Studierenden die Bedeutung der Empirie für ihre spätere Berufspraxis vor Augen zu führen. Im Folgenden werden diese Empfehlungen in verkürzter Form wiedergegeben. Sie muten teilweise trivial an, dennoch werden sie in unseren Hochschulen im Vergleich zu den Gepflogenheiten in den USA insgesamt nur wenig berücksichtigt. (1) Zitieren von empirischen Arbeiten in Lehrveranstaltungen Theorien und Unterrichtsmethoden sollten in Veranstaltungen stets mit Verweisen auf einschlägige Forschungsarbeiten vorgestellt werden. Studierende dürfen nicht im Unklaren darüber gelassen werden, inwieweit sich die präsentierten Konzepte aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht bewährt haben oder nicht. Gilt ein Ansatz aufgrund mangelnder oder unzureichender empirischer Befunde als fragwürdig, so ist dies klar herauszustellen. Vorhandene Ergebnisse aus Untersuchungen sollten spannend und kurzweilig präsentiert werden. Im Rahmen einer Umfrage unter knapp 28.000 „novice special education teachers“ (sonderpädagogische Lehrkräfte, die sich erst seit wenigen Jahren im Schuldienst befinden) gaben jeweils ca. 90 % der Teilnehmenden zu verschiedenen Fragen bezüglich der Qualität ihrer Ausbildung an, sich aufgrund ihres stark wissenschaftlich geprägten Studiums sehr kompetent zu fühlen. Darüber hinaus waren sie bemerkenswert gut in der Lage, Fördermaßnahmen entsprechend ihrer empirisch belegten Wirksamkeit zu beurteilen (Connelly 2005). Mit Blick auf die oben referierten Arbeiten von Hintz und Grünke (2007) sowie von Runow und Borchert (2003) besteht kaum Anlass zu der Annahme, dass das Ausmaß, in dem wir wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse in unseren Lehrveranstaltungen in attraktiver Weise an Studierende herangetragen haben, bei jungen Lehrkräften ähnliche Spuren hinterlassen hat. VHN 3/ 2008 195 Das sonderpädagogische Lehramtsstudium (2) Zitieren von empirischen Arbeiten in eigenen Veröffentlichungen Glücklicherweise liegen mittlerweile zahlreiche gut lesbare Lehrbücher zur Sonderpädagogik in deutscher Sprache vor. Bei den meisten der aktuellen Werke bereitet es jedoch keinerlei Schwierigkeit, mehrere hintereinander folgende Seiten zu finden, in denen kein einziger empirischer Befund zur Unterstützung der jeweiligen Aussagen angeführt wird. Zuweilen sind es sogar ganze Kapitel. Dies trifft auch auf Passagen zu, in denen es konkret um unterschiedliche Wege der Förderung oder die Art des Unterrichtens geht. Die angeführten Argumente beruhen auch heute noch häufig auf subjektiver Logik, und man verweist in den Zitaten nicht selten auf Meinungsäußerungen oder feuilletonistische Betrachtungen von Kolleginnen und Kollegen, jedoch nicht auf Studien (geschweige denn auf hochklassige wissenschaftliche Arbeiten aus internationalen Fachjournalen). In den meisten Standardwerken der angloamerikanischen Sonderpädagogik (z. B. Hallahan/ Kauffman 2006; Heward 2006 oder Smith 2006) finden sich hingegen zahlreiche Hinweise auf empirische Untersuchungen. Ein Manuskript, das derart wenige Bezüge zur Empirie aufweist wie ein Großteil unserer Werke, hätte vermutlich nicht die leiseste Chance, bei einem der großen internationalen Fachverlage (z. B. Pearson oder McGraw Hill) als Lehrbuch veröffentlicht zu werden. (3) Thematisieren von theoretisch und empirisch fundierten Fördermethoden in Lehrveranstaltungen Gemäß der bekannten Megaanalyse von Forness, Kavale, Blum und Lloyd (1997) zählen die direkte Instruktion, die Strategieinstruktion, eine bestimmte Form der computerunterstützten Förderung oder die curriculumbasierte Messung zu den effektiven oder gar hocheffektiven sonderpädagogischen Maßnahmen. Bewegungserziehung, sensorische Integration oder Wahrnehmungstraining zeigen hingegen kaum Wirkungen. Natürlich darf das jeweilige Lernziel bei der Frage nach der Effektivität einer Methode nicht außer Acht gelassen werden. Dennoch ist es erstaunlich, dass sich in den Vorlesungsverzeichnissen deutschsprachiger Ausbildungsstätten für angehende Lehrkräfte kaum oder überhaupt keine Hinweise auf Lehrveranstaltungen über die genannten effektiven Konzepte finden, während es mancherorts sogar ein Überangebot an Seminaren über ineffektive Ansätze zu geben scheint. (4) Vermitteln von anerkannten Kriterien zur Beurteilung der Qualität von empirischen Arbeiten in Lehrveranstaltungen Hinsichtlich der Begriffe „Wissenschaft“, „Empirie“ und „Wirksamkeitsnachweis“ existiert in der Fachwelt kein einheitliches Verständnis. Zweifelsohne liegen hier verschiedene Ansichten und Zugänge vor. Des Weiteren weisen unterschiedliche Studien unterschiedliche Qualitätsniveaus auf. Studierende sind mit den diversen Ansätzen und Perspektiven vertraut zu machen. Darüber hinaus ist es wichtig, sie in die Lage zu versetzen, wissenschaftliche Arbeiten kritisch zu bewerten. Die internationale Gesellschaft „Council for Exceptional Children“ (CEC) hat im Januar 2003 eine Task Force eingerichtet, die Kriterien qualitativ hochwertiger Effektivitätsuntersuchungen formulieren sollte. Man kam zu dem Schluss, dass verschiedene Ansätze und Herangehensweisen wichtig sind, um den Nutzen sonderpädagogischer Maßnahmen zu dokumentieren. Experimentelle Kontrollgruppendesigns sind demnach lediglich ein Weg von mehreren. Die Mitglieder der Task Force würdigten auch den Stellenwert verschiedener Formen quasi-experimenteller, korrelativer, Einzelfall- und sogar qualitativer Studien. Für jede Form wurden eigene, differenziert begründete Qualitätsstandards formuliert, um Forscherinnen und Forschern dabei zu hel- VHN 3/ 2008 196 Michael Grosche, Matthias Grünke fen, aussagekräftige Untersuchungen zu konzipieren und um es Praktikerinnen und Praktikern zu ermöglichen, die Brauchbarkeit der Befunde besser zu bewerten (Odom/ Brantlinger u. a. 2005). Studierende sollten über derartige aktuelle Entwicklungen informiert sein. Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, dass sie diese kritisch diskutieren und darüber reflektieren, welche Auswirkungen sie auf die zukünftige Rezeption wissenschaftlicher Arbeiten zum Zwecke der Verbesserung der eigenen Praxis haben. (5) Anleiten von Studierenden bei der Durchführung eigener Forschungsarbeiten Die Internetdatenbank www.hausarbeiten.de enthält derzeit ca. 600 wissenschaftliche Examens- und Diplomarbeiten aus dem Bereich der Sonder- und Heilpädagogik. Beim Großteil dieser Werke handelt es sich offenkundig um sogenannte „Literaturarbeiten“, Erfahrungsberichte oder Erläuterungen über selbst entwickelte Förderkonzepte. Diese Ausführungen zeugen oftmals von bemerkenswerter Kreativität. Doch erfährt die Leserin oder der Leser hierbei häufig mehr über die persönlichen Ansichten der Verfasserin oder des Verfassers als über den behandelten Gegenstandsbereich. Empirische Arbeiten (egal ob experimentelle, quasi-experimentelle oder qualitative Untersuchungen, egal ob Gruppen- oder Einzelfallstudien) besitzen hingegen Seltenheitswert. Es ist von entscheidender Bedeutung im Hinblick auf das oben erwähnte Ziel einer verbesserten wissenschaftlichen Qualifizierung, Studierenden mehr als bisher durch eigene Erfahrung einen Einblick in die Praxis empirischer Forschung zu ermöglichen. Im wörtlichen Sinne geht es in der Wissenschaft darum, Wissen zu schaffen. Dies sollte unter unserer Anleitung beim Erstellen wissenschaftlicher Abschlussarbeiten im Studium viel öfter als bisher berücksichtigt werden. Literatur Connelly, Vincent (2005): The value of teacher training: Analyses of the preparation and experience of beginning special educators. Paper presented at the 14 th Annual World Congress on Learning Disabilities in Burlington/ Massachusetts (USA), October 28 - 29 Forness, Steven R.; Kavale, Kenneth A.; Blum, Ilaina M.; Lloyd, John W. (1997): What works in special education and related services: Using metaanalysis to guide practice. In: Exceptional Children 29, 4 - 9 Gersten, Russell; Vaughn, Sharon; Deshler, Don; Schiller, Ellen (1997): What we know about using research findings: Implications for improving special education practice. In: Journal of Learning Disabilities 30, 466 - 476 Gildroy, Patricia; Deshler, Donald D. (2005): Reading development and suggestions for teaching reading to students with learning disabilities: Part 1. In: Insights on Learning Disabilities 2, 1 - 10 Gildroy, Patricia; Deshler, Donald D. (2006): Reading development and suggestions for teaching reading to students with learning disabilities: Part 2. In: Insights on Learning Disabilities 3, 1 - 14 Grünke, Matthias (2007 a): Analysis of the preparation of future special education educators in Germany. Poster presentation at the 16th Annual World Congress on Learning Disabilities in Marlborough/ Massachusetts (USA), November 1 - 3 Grünke, Matthias (2007 b): An den Methoden sollt ihr sie erkennen. In: Mutzeck, Wolfgang; Popp, Kerstin: Professionalisierung von Sonderpädagogen. 2. Aufl. Weinheim/ Basel: Beltz, 71 - 86 Hallahan, Daniel P.; Kauffman, James M. (2006): Exceptional Learners: Introduction to Special Education. Harlow, UK: Pearson Education Heward, William L. (2002): Exceptional Children: An Introduction to Special Education. Upper Saddle River, NJ: Prentice Hall Hintz, Anna-Maria; Grünke, Matthias (2007): Einschätzung der Effektivität sonderpädagogischer Interventionen zur Förderung des Schriftspracherwerbs durch angehende Lehrkräfte. Vortrag auf der Frühjahrestagung der Arbeitsgruppe empirische sonderpädagogische Forschung (AESF) in Dortmund, 11. - 12. Mai VHN 3/ 2008 197 Das sonderpädagogische Lehramtsstudium Lewin, Kurt (1951): Field Theory in Social Science. New York: Harper/ Row Masendorf, Friedrich (1997): Wie charakterisieren Studienanfänger den sogenannten „idealen“ Lehrer? In: Heilpädagogische Forschung 23, 183 - 184 Odom, Samuel L.; Brantlinger, Ellen; Gersten, Russell; Horner, Robert H.; Thompson, Bruce; Harris, Karen R. (2005): Criteria for Evidence-based Practice. In: Exceptional Children (Themheft) 71 (2) Runow, Volker; Borchert, Johann (2003): Effektive Interventionen im sonderpädagogischen Arbeitsfeld: Ein Vergleich zwischen Forschungsbefunden und Lehrereinschätzungen. In: Heilpädagogische Forschung 29, 189 - 203 Santangelo, Tanya (2007): “What makes a great teacher? ”: A unique, multi-dimensional application of content analysis to capture student voice. Paper presented at the 16th Annual World Congress on Learning Disabilities in Marlborough/ Massachusetts (USA), November 1 - 3 Smith, Deborah D. (2006): Introduction to Special Education: Teaching in an Age of Opportunity. Boston, NY: Allyn/ Bacon Stough, Laura M.; Palmer, Douglas J. (2003): Special thinking in special settings: A qualitative study of expert special educators. In: The Journal of Special Education 36, 206 - 222 Swanson, H. Lee (1999): Interventions for students with learning disabilities: A meta-analysis of treatment outcomes. New York/ London: Guilford Weiler, Hans N. (2005): Bildungsforschung und Bildungsreform: Von den Defiziten der deutschen Erziehungswissenschaft. In: www.ub.unituebingen.de/ pro/ fach/ paed/ vortrag.php? la=de/ fr=y/ du/ y, 10.02.2008 Wilbert, Jürgen; Gerdes, Heike (2007): Lehrerbild von Schülern und Lehrern: Eine empirische Studie zum Vergleich der Vorstellungen vom idealen und vom typischen Lehrer. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht 54, 208 - 222 Michael Grosche Matthias Grünke Universität zu Köln Departement für Heilpädagogik und Rehabilitation Klosterstraße 79 b D-50931 Köln
