Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Trend: Chancen der Ökonomisierung. Zehn Thesen
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Klaus Dörner
Bevor ich meine zehn Thesen zu Chancen der Ökonomisierung skizziere, muss ich betonen, dass dies auch Gefahren mit sich bringt. Diese kann man zunächst auf einen Punkt konzent-rieren: Wenn ich marktwirtschaftlichen Gesetzen unterworfen bin und mich dem nicht entziehen kann, bin ich, ob ich will oder nicht, systematisch gezwungen, mich vorwiegend auf solche Hilfsbedürftigen zu konzentrieren, mit denen man in der kürzesten Zeit mit dem geringsten Einsatz den größten Profit machen kann. Was zwangsläufig dazu führt, dass die Bedürftigsten dabei unter den Tisch fallen. Das Resultat ist also das Gegenteil von dem, was mit der Organisation eines sozialen Bereichs in der Gesellschaft beabsichtigt war.
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329 VHN, 77. Jg., S. 329 - 332 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Trend Chancen der Ökonomisierung. Zehn Thesen* Klaus Dörner Hamburg Bevor ich meine zehn Thesen zu Chancen der Ökonomisierung skizziere, muss ich betonen, dass dies auch Gefahren mit sich bringt. Diese kann man zunächst auf einen Punkt konzentrieren: Wenn ich marktwirtschaftlichen Gesetzen unterworfen bin und mich dem nicht entziehen kann, bin ich, ob ich will oder nicht, systematisch gezwungen, mich vorwiegend auf solche Hilfsbedürftigen zu konzentrieren, mit denen man in der kürzesten Zeit mit dem geringsten Einsatz den größten Profit machen kann. Was zwangsläufig dazu führt, dass die Bedürftigsten dabei unter den Tisch fallen. Das Resultat ist also das Gegenteil von dem, was mit der Organisation eines sozialen Bereichs in der Gesellschaft beabsichtigt war. Das kann man überall nachweisen. Ein Beispiel ist der psychiatrische Bereich. Hier werden heute immerzu neue diagnostische Etiketten geschaffen, mit denen man einen immer größeren Teil der Bürger anwirbt, sich als psychisch krank etikettieren zu lassen, und denen man dann mit Hilfe von Psychotherapie oder Psychopharmaka oder auch von beidem in ihrer neuen Rolle als psychisch Kranke Hilfe angedeihen lässt. Auf diese Weise hat sich die Zahl derjenigen, die als psychisch krank definiert werden, etwa vervierfacht. Die Zahl der ‚Psychoanbieter‘ hat sich in den letzten 25 Jahren verachtfacht, und die wollen alle leben. Etwa vier Fünftel von den Menschen, die heute als psychisch krank gelten, wären vor dreißig, vierzig Jahren nie als psychisch krank angesehen worden. Sicherlich ist diese Entwicklung im Einzelfall auch mal ein Gewinn, das ist ja nicht zu leugnen; aber unter dem Strich ist sie eher zum Nachteil der davon Betroffenen. Das System der niedergelassenen Psychiater hat nicht die geringste Chance, sich beispielsweise mit Schizophrenen, schon gar sich mit chronisch Schizophrenen zu beschäftigen, weil das so wenig Geld einbringen würde, dass sie Pleite gehen würden (nicht wenige sind auch schon Pleite gegangen). Rentabel ist eine psychotherapeutische Weiterbildung eben nur für diesen Bereich der neo-psychisch Kranken, die sich täglich vermehren, um da genügend Geld zu verdienen. Die Krankenkassen sind schon so weit, dass sie sagen: Der Zuwachs an Alterspflegebedürftigen ist schon fast ruinös, aber der überhaupt nicht zu stoppende Zuwachs an psychisch Kranken ist langfristig gesehen noch ruinöser für uns. Zumal es im gesamten gesellschaftlichen Selbstverständnis nicht die geringsten Chancen gibt, hier irgendwo kritisch eine Grenze zu ziehen. Man kann eine beliebige Diagnose auch quasi künstlich erfinden, man findet sofort hinreichend viele Menschen, die bereit sind, sich darunter einreihen zu lassen. Das gegenwärtige System fördert eine ungerechte Verteilung der Hilfe zu Lasten der Bedürftigsten. Nun zu meinen zehn Thesen. Vorneweg möchte ich nochmals betonen, dass der Markt zwar der Güterproduktion angemessen ist. Jedoch ist seine Übertragung auf die gesellschaftlichen Bereiche des Gemeinwohls - und dies auch nach dem Bundesverfassungsgericht - nicht zulässig, sondern geradezu kriminell, weil dadurch systematisch die am wenigsten Bedürftigen begünstigt und die Bedürftigsten benachteiligt werden. Profitstreben, Wettbewerb und betriebswirtschaftlicher Expansionszwang schädigen die Menschen und haben hier nichts zu suchen. VHN 4/ 2008 330 Klaus Dörner Da aber an allem Schlechten auch etwas Gutes ist und da - noch wichtiger - offenbar die Mehrheit von uns die unsozial gewordene Markwirtschaft noch einige Zeit will, sind wir verpflichtet, auch über die Chancen des Marktes nachzudenken. Erstens: Wenn der Staat sich aus der Steuerung des Gesundheits- und Sozialwesens mehr und mehr zurückzieht und diese mehr den Kräften der Gesellschaft überlässt, erweitert er dadurch nicht nur den Zuständigkeitsbereich des Marktes, sondern auch den Zuständigkeitsbereich des bürgerschaftlichen Engagements, also das, was man bisher die dritte Säule der Gesellschaft genannt hat. Der Beweis dafür ist darin zu sehen, dass etwa zeitgleich mit der Forcierung der Ökonomisierung des Sozialen, also etwa seit 1980, alle Messinstrumente zeigen, dass die Bereitschaft der Bürger, sich nicht mehr nur auf ihren Eigennutz zu konzentrieren, sondern sich auch den Nöten und Bedürfnissen anderer Menschen wieder zu öffnen, in der Breite kontinuierlich zugenommen hat. Dafür gibt es unendlich viele Beispiele. Zweitens: Damit verschiebt sich das bisher ungute Gleichgewicht zwischen Profihelfern und Bürgerhelfern zugunsten der Letzteren: Sie haben nämlich jetzt die historische Chance, aus der traditionellen, vertikalen Unterordnung unter die Profihelfer zu einer horizontalen Beziehung der Selbstorganisation auf derselben Ebene zu kommen. Drittens: Da aber Profis eher institutionalisierungsfreundlich wirken, Bürgerhelfer jedoch eher integrationsfreundlich sind, bedeutet das gerade auch für die Bedürftigsten eine größere Chance, mit mehr Selbstbestimmung und mit mehr Bedeutung für Andere in familiärer oder nachbarschaftlicher Integration zu leben. Dies könnte gesamtgesellschaftlich eine Resozialisierung aller Bürger bewirken: Die Bürger haben nicht zuletzt auch durch die explosive Vermehrung der Alterspflegebedürftigen offensichtlich künftig ihr Wochenzeitbudget nicht mehr nur nach freier Zeit und arbeitsgebundener Zeit zu unterscheiden, sondern sie haben künftig auch noch eine dritte, die soziale Zeit, vorzuhalten. Viertens: Dies lässt sich in quantitativen und qualitativen empirischen Ergebnissen nachvollziehen 1 . Diese verweisen auf eine Wiederbelebung des dritten Sozialraums, also dessen, was früher einmal überwiegend Nachbarschaft genannt wurde. Heute jedoch muss man andere Begriffe hierfür finden. Diesen neuen dritten Sozialraum, der zwischen dem Sozialraum des Privaten und dem Sozialraum des Öffentlichen liegt und mit dem wir hundert Jahre lang gar nicht mehr so gerechnet haben, kann man in Anschluss an Plessner als ‚Wir-Raum‘ bezeichnen, also den Sozialraum, in dem die Bürger ‚wir‘ zueinander sagen oder zumindest sagen könnten. Hier kommen also anthropologische Überlegungen ins Spiel. In diesem dritten Sozialraum steckt ganz viel an Funktionalität drin, die sich gar nicht so recht in Sprache übersetzen lässt, weil es eigentlich ohne Sprache am besten funktioniert. Dieser Sozialraum hat mit einer sozialen Aufmerksamkeit dafür zu tun, dass ein Mensch in meinem begrenzten Umkreis hilfsbedürftig geworden ist. So gesehen geht es um eine Resozialisierung aller Bürger, sowohl der behinderten wie jener ohne Behinderung. In diesem Sozialraum können wir entdecken, dass jeder Mensch das Grundbedürfnis hat, Bedeutung für Andere zu haben. Wir betonen immer den Wert der Selbstbestimmung, und ohne Zweifel ist sie ein hohes, unverzichtbares Gut: Zeit für sich selbst haben. Dieser Wert braucht aber einen Gegenwert, und den nenne ich ‚Bedeutung für Andere haben‘. Man braucht irgendetwas, durch das man eine Belastung durch Andere spürt, eine Bindung durch Andere. Das kann für den einen wenig sein, für den anderen viel, aber im Prinzip braucht es jeder, deswegen sage ich gern: „Seine Tagesdosis an Bedeutung für Andere braucht jeder“. Und erst wenn man die hat - und zwar ist die Reihenfolge vermutlich nicht umkehrbar -, kann man den dann noch vorhandenen Teil an freier Zeit als Selbstbestimmungsgewinn auch von Herzen genießen. Umgekehrt geht dies wahrscheinlich nicht so gut. VHN 4/ 2008 331 Chancen der Ökonomisierung Fünftens: Offensichtlich geht damit einher, dass die neue Bürgerhilfe-Bewegung seit ihren Anfängen ab etwa 1980 stetig expandiert. Diese neue Bürgerbewegung zeichnet sich - und das scheint mir besonders wichtig zu sein - dadurch aus, dass die heute in bürgerschaftlichem Engagement tätigen Bürger in der Breite nicht nur Zeit geben, sondern durchaus auch Geld dafür nehmen, in ganz unterschiedlichen Formen, was allerdings noch dabei ist, sich zu entwickeln. Dies weist aber zweifellos darauf hin, dass die Vermarktlichung und die Globalisierung ja auch dazu führen, dass die Erwerbsarbeit immer knapper wird. Das heißt, dass es immer mehr Menschen gibt, die ihre Haushalte nur noch finanzieren können, wenn sie sich einen Zweit- oder Drittjob hinzunehmen. Und hier ist der Bereich des expandierenden gesamtgesellschaftlichen Hilfebedarfs geradezu einschlägig geeignet, um die Funktion solcher Zweitjobs zu übernehmen. Dies ist, gemessen an der Tradition, durchaus etwas Neues und sicherlich auch durch den Prozess der Vermarktlichung begünstigt, wenn nicht geradezu kausal ermöglicht. Sechstens: In diesem neuen Hilfesystem, (Bürger-Profi-Mix), das sich am Horizont abzeichnet, können offenbar die Profi-Helfer sogar mit Vorteil für die Behinderten oder Kranken im Unternehmerstatus tätig sein. Ein Beispiel: Zweihundert von den dreihundert Mitarbeitern in der ambulanten Pflege des Trägervereins „Alt und Jung“ in Bielefeld für die inzwischen siebzig ambulanten Wohnpflegegruppen arbeiten als selbstständige Unternehmer mit einem deutlich erkennbaren Zuwachs an Verantwortung - nicht nur für sich, sondern auch für Andere und sogar mit finanziellem Vorteil. Die Bedingung dafür, dass dies funktioniert, besteht allerdings darin, dass alle diese Mitarbeiter sich mit ihrer Unterschrift verpflichten, die gemeinwohlorientierte Satzung des Trägervereins zu übernehmen und umzusetzen. Siebtens: Dieses für uns eher ungewohnte Prinzip ließe sich sicherlich auf manche andere Bereiche übertragen, beispielsweise auf die Ärzteschaft. Dies würde dann funktionieren, wenn sich die Selbstverwaltung der Ärztekammer trauen würde, ihr vorgegebenes Ethos und ihre Berufsordnung wieder so streng zu handhaben, wie das früher einmal der Fall und damals auch tragfähig gewesen war. Achtens: Die mit dem Markt einhergehende Globalisierung vergrößert vermutlich die Verantwortung gerade auch gegenüber den Bedürftigsten und Letzten in anderen (unterentwickelten) Ländern im Sinne einer auch sozialen Globalisierung der menschenrechtlichen Gleichstellung aller Menschen - auch um den Preis einer eigenen Standardsenkung. Neuntens: Für das gleichberechtigte Leben der Behinderten und anderer Benachteiligter kann der Markt auch bedeuten, dass die Wohnungswirtschaft - schon aus Eigennutz - allen Mietern, egal mit welchem Behinderungs- oder Pflegegrad, ein Leben und Sterben in der gemieteten Wohnung garantiert. Zehntens: Da eine volle Integration der Behinderten erst erreicht ist, wenn auch die Integration in den Arbeitsmarkt für alle garantiert ist, würde eine mehr volkswirtschaftliche als betriebswirtschaftliche Perspektive des Marktes bedeuten: Ein Arbeitsmarkt für alle! - also eine Bewegung, die beispielsweise bei den Integrationsfirmen zu beobachten ist oder auch bei den sogenannten CAP-Läden (Kurzform für ‚Handicap‘), von denen es inzwischen in Deutschland über 50 gibt. Die CAP-Läden beruhen auf folgender Idee: Wo der einzige Lebensmittelladen in einem Viertel, in einem Stadtteil oder in einem Dorf eingegangen ist, wird ein solcher die Bevölkerung versorgender Laden wieder eröffnet. Betrieben wird er von Menschen mit körperlicher, seelischer oder geistiger Behinderung, was nur für Menschen mit einer solchen Behinderung möglich ist, weil sie einen Teil ihrer Finanzierung schon mitbringen, während dies für unbehinderte Bürger wirtschaftlich nicht machbar wäre. Wenn ich diese erweiterte Perspektive, also nicht mehr nur betriebswirtschaftlich, sondern den Markt auch volkswirtschaftlich zu denken, konkretisiere, würde das VHN 4/ 2008 332 Klaus Dörner eben bedeuten, dass wir alle uns darauf umstellen, all unser segensreiches Tun im Sozial- oder Gesundheitswesen stets vom gesamtgesellschaftlichen Hilfebedarf her zu denken und nicht aus der Warte unserer gerade mal eben im Vordergrund stehenden Spezialität, worin wir Profis leider eine hundertjährige Übung haben - durchaus eher zum Schaden als zum Vorteil der von uns gemeinten Behinderten. Mein Fazit aus diesen Überlegungen lautet: Wenn der Staat den Markt wieder verbindlich als ‚soziale‘ Marktwirtschaft, also als eine gemeinwohlorientierte Marktwirtschaft definieren würde, gäbe es vermutlich nur noch relativ wenige Reibungspunkte, an denen sich die Marktmechanismen schädlich auf Menschen mit Behinderung auswirken würden. Man könnte sogar sagen, dass in gesamtgesellschaftlicher Betrachtung unsere Sichtweise, die davon ausgeht, dass es sowohl einen marktwirtschaftlichen als auch einen gemeinwohlorientierten Bereich unterscheidbar voneinander gibt, dazu führt, dass auch die Marktwirtschaft, selbst so, wie sie heute ist, eine höhere Legitimation hätte, weil sie sich unterscheiden könnte von einem anderen Bereich, in dem die Marktprinzipien nicht so gelten. Dies wäre die Voraussetzung dafür, von einer insgesamt lebensfähigen Gesellschaft zu sprechen. Es gibt, soweit ich sehen kann, ein Organisations- und Finanzierungssystem, mit dessen Hilfe wir auch heute schon, also unter den Bedingungen einer unsozialen neoliberalen Radikalmarktwirtschaft, den gemeinwohlorientierten Bereich so betreiben können, dass die Schädigung von betroffenen benachteiligten Menschen sich zumindest in Grenzen hält. Die Jugendhilfe hat dieses Modell bisher am deutlichsten vorgemacht - mit dem Prinzip des Sozialraumbudgets, das etwa in Hamburg und in Husum bereits ziemlich vorbildlich verwirklicht wurde: All jene Träger, die bereit sind, für einen bestimmten Sozialraum in der Größenordnung von 20.000 bis 30.000 Einwohner ihr Engagement anzumelden, vereinbaren mit den Kostenträgern ein Jahresbudget. Dabei werden nur Ziele festgelegt, die man am Ende des Jahres einigermaßen erreicht haben soll. Den konkret tätigen Mitarbeitern unterschiedlicher Träger bleibt es überlassen, auf welchem Weg sie diese Ziele erreichen wollen. Im Budget eingeschlossen ist übrigens auch ein Anteil für die Bürgerhelfer sowie ein Anteil, der gar nicht für betroffene Menschen ausgegeben werden darf, sondern der für die Integrationsförderung dieses Sozialraums selbst gedacht ist. Ein solches Finanzierungsmodell hat zur Folge, dass alle dort tätigen Profihelfer wie auch Bürgerhelfer ungestraft, also ohne sich selbst finanziell zu schädigen, mit den Bedürftigsten oder ‚Letzten‘ dieser Region beginnen können. Sie können also denen, die das meiste brauchen, auch das meiste geben; sie sind nicht, wie es sonst üblich ist, betriebswirtschaftlich gezwungen, einen Teil ihrer Zeit und einen Teil ihres Geldes für solche Menschen zu verausgaben, die besonders profitabel sind, bei denen man also mit wenig Einsatz schnell großen Gewinn machen kann. Und damit wäre den - gerade für die bedürftigsten Menschen - extrem destruktiven Folgen der Marktprinzipien zumindest teilweise der Zahn gezogen. Das heißt, dass ein derartig organisierter dritter Sozialraum mit dem beschriebenen Bürger-Profi-Mix selbst schon unter den gegebenen Bedingungen sicherlich nicht ganz, aber weitgehend marktresistent ist; denn: Weniger Staat und daher mehr Gesellschaft heißt nie nur mehr Markt, sondern immer auch mehr Bürgerhilfe und dadurch mehr Integration der behinderten Bürger. Anmerkungen * Auszüge aus einem Gespräch zwischen Klaus Dörner und Markus Dederich am 8. Februar 2008 in Hamburg 1 vgl. Dörner, Klaus (2007): Leben und sterben, wo ich hingehöre - Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem. Neumünster: Paranus Verlag Prof. Dr. Klaus Dörner Nissenstraße 3 D-20251 Hamburg
