eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 77/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2008
774

Aktuelle Forschungsprojekte (4/08)

101
2008
Die Erlebensqualität Lernender in der integrativen und separativen Schulform – Eine Untersuchung mit der Experience Sampling Method (ESM)
5_077_2008_004_0351
VHN 4/ 2008 351 Aktuelle Forschungsprojekte Die Erlebensqualität Lernender in der integrativen und separativen Schulform - Eine Untersuchung mit der Experience Sampling Method (ESM) Martin Venetz, Rupert Tarnutzer Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich Hintergrund Ausgangspunkt des Forschungsprojekts ist die Frage nach der Erlebensqualität Lernender mit einer Schulleistungsschwäche oder Verhaltensauffälligkeit, die entweder gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern der Regelklasse oder aber in Sonderklassen unterrichtet werden. Wie fühlen sich diese Lernenden im konkreten Unterricht? Erleben integrierte Lernende den Unterricht anders als ihre Mitschüler und -schülerinnen? Und: Unterscheidet sich ihr Erleben im Vergleich zu den Schülerinnen und Schülern in Sonder- oder Kleinklassen? Solche Fragen stellen sich vor allem auf dem Hintergrund der Reformen im Bildungswesen, die zurzeit an den Schweizer Volksschulen stattfinden: In immer mehr Kantonen und Gemeinden ist ein Übergang von separierenden zu integrierenden Schulformen zu konstatieren. Die Integrationsforschung beschäftigt sich zwar schon seit mehr als 20 Jahren mit den Effekten der Integration von Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelklassen. In der Fülle von empirischen Studien, die diese Frage zum Gegenstand haben, ist aber bislang vorwiegend ein Forschungsansatz gewählt worden: Das Ausmaß des Integriertseins wird mit generellen, bilanzierenden Selbst- oder Fremdeinschätzungen erhoben. Studien, die sich mit dem aktuellen Erleben von Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf in ihrem natürlichen Kontext (der Schule) befassen, fehlen bislang völlig. Diese Forschungslücke möchte das beantragte Projekt schließen. Viele empirische Befunde weisen nämlich darauf hin, dass die Qualität des Erlebens eine wichtige Rolle für das Lernen, die (Lern-)Motivation, die Schulleistung, die Interessenbildung sowie das persönliche Wohlbefinden spielt. Forschungsmethode Zur Beantwortung der Fragestellung soll die Experience Sampling Method (ESM) eingesetzt werden. Die ESM ist ein signalkontingentes Zeitstichprobenverfahren, welches erlaubt, das Erleben von Personen direkt aus dem natürlichen Erlebens- und Verhaltensstrom in ihrem natürlichen Lebenskontext zu erfassen - zusammen mit dessen situativen und tätigkeitsspezifischen Bedingungen. Zur Beschreibung der Erlebensqualität werden das Circumplex-Modell affektiver Zustände sowie das Konzept des Flow- Erlebens herangezogen. Lernende aus sechs Kantonen der Deutschschweiz sollen während einer regulären Schulwoche an 15 zufällig gewählten Zeitpunkten im Unterricht ihr aktuelles Befinden, ihre aktuelle Tätigkeit sowie die Situation in einem kurzen standardisierten Fragebogen (der sog. Experience Sampling Form; ESF) registrieren. Es ist geplant, etwa 100 Lernende mit einer Schulleistungsschwäche (erfasst über Klassencockpit-Resultate) oder einer Verhaltensauffälligkeit (erfasst mit dem SDQ) und Lernende ohne sonderpädagogischen Förderbedarf aus 45 Regelschulklassen der oberen Mittelstufe mit integrativer Schulform sowie rund 150 Kinder aus 15 Sonderklassen in die Stichprobe aufzunehmen. Neben der Erhebung mit der ESM werden die Schülerinnen und Schüler auch mit einem konventionellen Fragebogen zu allgemeinen personalen Merkmalen sowie zu Merkmalen des Integriertseins und der Lernmotivation befragt. Mit einem Fragebogen für die Lehrpersonen werden zudem weitere Auskünfte über die beteiligten Kinder (z. B. ISF-Status, Migrationshintergrund) sowie die Zusammensetzung der Klasse (z. B. Klassengröße, Anzahl Migrantenkinder, Geschlechterverhältnis) eingeholt. Erste Ergebnisse Bisher wurde eine Pilotstudie mit 177 Lernenden der Mittelstufe in der integrativen Schulform zur Erlebensqualität durchgeführt. Eine grundlegende Frage war, ob sich die ESM auch bei Lernenden mit einer Schulleistungsschwäche oder einer Verhaltensauffälligkeit durchführen lässt und ob die eingesetzten Skalen befriedigende interne Konsistenzen erzielen. Die Befunde dazu sind gesamthaft gesehen sehr ermutigend. Zentrale Erkenntnisse waren ferner, dass - mehr als bei konventionellen Befragungen - der Instruktion der Lernenden eine zentrale Rolle zukommt und dass es wichtig ist, die Lehrpersonen für die Studie gewinnen zu können. Das wichtigste inhaltliche Ergebnis war, dass sich die (mittels ESM erfasste durchschnittliche) Erlebensqualität integrierter Kinder nicht von jener ihrer Mitschülerinnen und -schüler unterscheidet. VHN 4/ 2008 352 Aktuelle Forschungsprojekte Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei martin.venetz@hfh.ch und rupert.tarnutzer@hfh.ch Effektivität der Kontextoptimierung beim Kasuserwerb von Kindern mit Spezifischer Sprachentwicklungsstörung (SSES) - Interventionsstudie im sprachtherapeutischen Unterricht Hans-Joachim Motsch, Stephanie Riehemann Universität zu Köln Theoretischer Hintergrund Der Kasus definiert als morphologische Flexionskategorie, in welcher Beziehung Nomen zu anderen Wörtern im Satz stehen, und er weist ihnen ihre Rolle oder Funktion im Satz zu. Die Kasusmarkierungen führen im Deutschen zu unterschiedlichen Flexionsformen bei Artikeln, Pronomen, Adjektiven und Nomen, wobei in germanischen Sprachen der Artikel die maximale Differenzierungsfähigkeit zeigt. Die ausgeprägte Homophonie von Flexionsformen verursacht sprachliche Mehrdeutigkeit, die nur durch die sichere Beherrschung der Deklinationsformen des bestimmten Artikels reduziert werden kann (Cholewa/ Mantey 2007). Zudem erfordert die Flexibilität der Satzbaupläne im Deutschen als Preis unverzichtbar morphologisches Kasus-Wissen für die Produktion eigener unmissverständlicher Sätze, das korrekte Sprachverständnis gehörter Äußerungen und das Verständnis geschriebener Texte. Clahsen (1982) beschreibt den Erwerb von Nominativ-, Akkusativ- und Dativmarkierungen im 3. - 4. Lebensjahr. Die Ergebnisse eines ersten Teilprojektes, die Untersuchung der Kasusfähigkeiten von Erstklässlern, belegen hingegen, dass der Kasuserwerb bei Kindern mit und ohne Spracherwerbsstörungen bis ins Grundschulalter nicht abgeschlossen ist. So erreichten im Dativ nur 32,7 % der sprachnormalen Grundschüler und 1,4 % der Kinder mit SSES einen Erwerbsstand von über 90 % korrekter Markierungen. Alles in allem wird damit der Dativ zum herausragenden Therapieziel kasusgestörter Kinder, zumal diese Störungen ohne spezifische Sprachtherapie persistieren (Grimm 1995). Kontextoptimierung (KO) ist eine Therapiemethode, deren Effektivität bereits in unterschiedlichen Untersuchungssettings für verschiedene grammatische Therapieziele evaluiert wurde. Damit versuchen die Autoren der Forderung einer evidenzbasierten Sprachtherapie nachzukommen. Die Zielstruktur wird in den sprachlichen und situativen Kontext hochfrequent eingebettet. Durch die Optimierung der veränderbaren Komponenten des Kontextes soll dabei eine optimale Fokussierung der Zielstruktur erreicht werden. KO spricht zeitnah rezeptive, produktive und reflexive Fähigkeiten des Kindes an und versucht, diese zu erweitern. In der Planung der Intervention berücksichtigt der Therapeut mögliche Risikofaktoren von Beginn an und nutzt vorhandene Ressourcen (z. B. schriftsprachliche und metasprachliche Fähigkeiten). KO kann nicht nur im therapeutischen Setting (Einzel-, Gruppentherapie), sondern auch in unterrichtlichen Situationen realisiert werden (Motsch/ Ziegler 2004, Motsch 2005). Methode, Untersuchungsdesign Ziel der Studie ist es zu untersuchen, ob Kinder mit SSES, die im Unterricht kontextoptimiert gefördert werden, signifikante Fortschritte beim Erwerb der Kasusregeln machen und wenn ja, ob diese Intervention effektiver ist als die Förderung mit herkömmlichen Methoden in der Kontrollgruppe. Insgesamt nahmen 478 Schüler der 2. Klassenstufe aus 19 Förderschulen Sprache des Landes NRW an der Studie teil. Zu Beginn des Schuljahres 2005/ 2006 wurde zunächst ein Akkusativ-Screening mit allen Schülern durchgeführt, um Schüler mit Therapiebedarf aus der ungesiebten Zusammensetzung der Förderschule Sprache zu filtern. Schüler mit mehr als einer Fehlmarkierung wurden anschließend individuell überprüft. Dazu wurden neben dem ESGRAF Ergänzungstest 2 (Motsch 2006) auch ursachenorientierte Verfahren eingesetzt. Schüler mit Akkusativfähigkeiten unter 80 % wurden in die Studie eingeschlossen und auf Experimental- und Kontrollgruppe (EG/ KG) verteilt. Die Zuteilung basierte dabei vor allem auf den Vorerfahrungen der beteiligten Lehrer in Bezug auf KO. Am Ende des Schuljahres konnten je 63 Kinder in beiden Gruppen überprüft werden. Vor Interventionsbeginn wurden die Lehrkräfte der EG speziell für die kontextoptimierte Kasusintervention ausgebildet. Ende 2005 fand in den Klassen der EG dann die erste sechswöchige Interventionsphase zum Akkusativ statt. Die zweite Interventionsphase wurde Anfang 2006 unter gleichen Bedingungen durchgeführt. Hierbei schloss sich an die auf vier Wochen verkürzte Dativtherapie direkt VHN 4/ 2008 353 Aktuelle Forschungsprojekte eine zweiwöchige Förderung der Kontrastierung (Akkusativ und Dativ) an. Im Rahmen des normalen Unterrichts führten die EG-Lehrer kontextoptimierte Therapiesequenzen durch und dokumentierten sie anhand eines standardisierten Bogens. Die Kasustherapie wurde viermal wöchentlich und ausschließlich im Klassenunterricht durchgeführt. Die Phasen dauerten durchschnittlich etwa 17 Minuten, was insgesamt eine unterrichtsintegrierte Therapiezeit von rund zwölf Stunden pro Klasse ergibt. Die Schüler der KG erhielten laut Aussagen ihrer Lehrer im gleichen Schuljahr ebenfalls eine Förderung der Kasusmarkierung, größtenteils im Unterricht, teilweise auch in Einzel- oder Gruppentherapie. Im Gegensatz zu ihren Kollegen der EG gingen die Lehrkräfte der Kontrollgruppe aber nicht kontextoptimiert vor. Im März 2006 wurden alle EG-Schüler einem ersten Posttest (T 2) unterzogen, um unmittelbare Fortschritte festzustellen. Die Stabilität des Therapieerfolgs wurde drei Monate später überprüft (T 3). Zu diesem Zeitpunkt fand auch die Nachuntersuchung der KG statt. Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse sicherzustellen, wurde zu allen Überprüfungen das gleiche diagnostische Verfahren genutzt. Ergebnisse Bereits direkt nach Ende der Intervention (T2) waren in der EG signifikante Fortschritte zu beobachten, die sich bis zum letzten Posttest (T3) stabilisierten, sodass in der EG höchst signifikante Fortschritte der Akkusativ- und Dativfähigkeiten zu verzeichnen waren. Die erreichten Fortschritte erwiesen sich als unabhängig von Risikofaktoren wie Sprachwahrnehmungs- und Sprachverarbeitungsdefiziten, Genusunsicherheit und Mehrsprachigkeit. Während die KG im Akkusativ ebenfalls signifikante Fortschritte erzielen konnte, stagnierten die Werte im Dativ. Der Gruppenvergleich zeigt damit in Hinblick auf das vorrangige Therapieziel eine höchst signifikante Überlegenheit der EG am Ende des Untersuchungsjahres. Während KO sowohl zur Verbesserung des Akkusativs als auch des Dativs führte, waren die herkömmlichen Methoden nur hinsichtlich des Akkusativs effektiv. Fazit Die Hypothesen, dass KO in Hinblick auf Kasustherapie im sprachtherapeutischen Unterricht effektiv ist, und dass Kinder, die kontextoptimiert unterrichtet werden, größere Fortschritte erzielen als traditionell unterrichtete Kinder, können beide bestätigt werden. Erfreulich ist auch, dass es mit KO gelingt, bei Kindern mit Risikofaktoren gleich hohe Therapieeffekte zu erreichen wie bei Kindern ohne diese Einschränkungen. Dies könnte dahingehend interpretiert werden, dass die Berücksichtigung möglicher Risikofaktoren bereits in der Planungsphase hilft, negative Effekte in Sprachwahrnehmung und -verarbeitung von vornherein zu vermeiden. Aufgrund der bei annähernd 90 % der Schüler vorhandenen massiven Genusunsicherheiten ist eine erste methodische Konsequenz, die Kasusförderung in ritualisierten Formaten (meist in einem Fach) zu wählen, in denen die immer gleichen, für alle Schüler genussicheren Wörter verwendet werden (z. B. Detektiv- und Merkspiele). Damit wird vermieden, die Kasusregeln bei ständig wechselndem Wortmaterial etablieren zu wollen. Für das zeitliche Vorgehen in der Praxis einer Schulklasse empfiehlt sich als weitere Optimierung eine Individualisierung des Vorgehens, indem es an das Niveau der Schüler und die erreichten Fortschritte angepasst wird. Bei großen Unterschieden in den Lernfortschritten einzelner Schüler können die in diesem Schultyp vorhandenen Möglichkeiten der Einzeltherapie genutzt werden, um schwächere Schüler zusätzlich zu unterstützen. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei j.motsch@uni-koeln.de Screening zum Erfassen von rechenschwachen Schülerinnen und Schülern ab Klasse 4 Elisabeth Moser Opitz, Okka Freesemann, Claudia Wittich Technische Universität Dortmund Brigitte Anliker, Magdalena Moeri Müller, Lis Reusser Institut für Heilpädagogik/ PH Bern Forschungshintergrund und Fragestellung Rechenschwäche wird als deutlich unterdurchschnittliche Mathematikleistung definiert, und es gibt empirische Hinweise, dass rechenschwache Schülerinnen und Schüler spezifische Inhalte der Grundschulmathematik nicht verstanden haben. Damit stellt sich die Frage, wie dieser Leistungsrückstand festgestellt wer- VHN 4/ 2008 354 Aktuelle Forschungsprojekte den kann. Lernzielorientierte standardisierte Mathematiktests sind dazu nur bedingt geeignet. Sie ermöglichen wohl Aussagen über die Leistungen eines einzelnen Kindes im Vergleich zur Alterspopulation. Die Testergebnisse geben jedoch in der Regel keine Auskunft über spezifische Schwierigkeiten und fehlende Kompetenzen - oder nur in einer sehr allgemeinen Form. Ricken (2003) stellt fest: „Bei der Konstruktion der Tests wählt man dann Aufgaben mit unterschiedlichen empirischen Schwierigkeiten aus. Eine inhaltliche Systematik für die Auswahl und Anordnung, die über eine globale Orientierung am Lehrplan hinausgeht, liegt nicht zu Grunde.“ Auch aus fachdidaktischer Sicht sind einige der vorliegenden standardisierten Instrumente kritisch zu betrachten, da häufig einseitig Kopfrechnenkompetenzen und die schriftlichen Verfahren getestet werden. Ein Weiteres kommt dazu: Schülerinnen und Schüler mit Rechenschwäche weisen oft einen sehr großen Leistungsrückstand auf und sind mit den stofflichen Anforderungen von lernzielorientierten Tests überfordert. Auch erfüllen standardisierte Verfahren längst nicht immer die Anforderungen bezüglich der Testgütemerkmale. So werden z. B. in einigen neueren Verfahren (z. B. Zareki-R, Heidelberger Rechentest, RZD) gar keine Angaben zu den Trennschärfen gemacht. Es muss vermutet werden, dass diese den Anforderungen nicht genügt haben und deshalb verschwiegen wurden. Dies ist problematisch, da zum Diagnostizieren von Rechenschwäche Aufgaben notwendig sind, welche zwischen Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen Kompetenzen differenzieren. In den vergangenen Jahren wurde deshalb immer wieder die Forderung laut, es seien Instrumente zu entwickeln, die Fertigkeiten und Fähigkeiten überprüfen, welche „Nadelöhre“ für die mathematische Wissensaneignung darstellen (Fritz/ Ricken 2005). Es wird verlangt, Aufgaben nach theoriegeleiteten, entwicklungsorientierten und empirisch überprüften Kriterien zu konstruieren. Theoriegeleitete Instrumente liegen bisher vor allem als qualitative Lernstandserfassungen vor (z. B. Schmassmann/ Moser Opitz 2007/ 2008; Moser Opitz/ Schmassmann 2003, 2004, 2005; Scherer 2005, 2003, 1999). Diese beinhalten aber auch Nachteile. Zum einen ist die Durchführung oft zeitaufwendig, zum anderen sind die Testaufgaben in der Regel nicht empirisch erprobt, und die Entscheidung, ob ein Kind besondere Förderung braucht, bleibt dem subjektiven Urteil der testenden Person überlassen. In einem Forschungsprojekt der PH Bern, zu welchem auch in Nordrhein-Westfalen Daten gesammelt werden, wird ein Instrument entwickelt und validiert, das ab Ende des 4. Schuljahres bis zum 8. Schuljahr eingesetzt werden kann. Angestrebt wird ein Instrument, das n sich als Screening eignet, um unterdurchschnittliche Mathematikleistungen von Schülerinnen und Schülern ab dem 4. Schuljahr zu erfassen, n im unteren Leistungsbereich gut differenziert, n theoriegeleitet mathematische „Schlüssel- oder Basiskompetenzen“ überprüft, n fachdidaktisch durchdachte Aufgaben enthält, n Hinweise gibt für eine weiterführende qualitative Diagnostik, n empirisch validiert ist, n einen sowohl theoretisch als auch empirisch begründeten Cut-off-Score enthält, n falsch-negative Klassifikationen vermeidet, n praxistauglich ist. Erste Bestrebungen in diese Richtung wurden für die Klassen 1 - 3 mit dem Berner Screening Mathematik BeSMath 1 - 3 (Moser Opitz/ Berger/ Reusser 2007; www.erz.be.ch/ besmath) gemacht. Methoden Als Grundlage dient ein Test, welcher in einem Forschungsprojekt am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg/ CH im Rahmen einer Studie entwickelt und verwendet wurde (Moser Opitz 2007). Dieses Instrument wurde überarbeitet und soll nun als Screening validiert werden. Überprüft werden Kompetenzen der Grundschulmathematik, von denen aufgrund empirischer Studien bekannt ist, dass sie für den mathematischen Lernprozess besonders bedeutsam sind (Zählen in Schritten, Dezimalsystem, Verständnis und Strategien Grundoperationen). Der Test wird mit ca. 350 Schülerinnen und Schülern aus sieben Schweizer Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein sowie mit ca. 300 Kindern und Jugendlichen aus Nordrhein-Westfalen als Einzeltest durchgeführt. Getestet werden Kinder mit und ohne Rechenschwierigkeiten (Einschätzung der Lehrpersonen) ab Ende des 4. Schuljahres bis zum 8. Schuljahr. Die Vergleichsgruppe von Schülerinnen und Schülern ohne Probleme wird benötigt, um die Schwierigkeit der Items bzw. die VHN 4/ 2008 355 Aktuelle Forschungsprojekte Personenparameter zuverlässig schätzen zu können bzw. um überhaupt ein Kontinuum mit verschiedenen Fähigkeitsausprägungen zu erhalten. Damit der Gefahr einer Stichprobenverzerrung begegnet werden kann (Testung von vielen eher leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern) wird der IQ als Kontrollvariable mit dem CFT-20R erhoben. Die Daten sollen anschließend mit dem Raschmodell skaliert werden. Dieses erlaubt, Item- und Personenparameter auf der gleichen Skala abzubilden. Es wird die Wahrscheinlichkeit bestimmt, mit der Personen mit einer bestimmten Kompetenz bzw. mit einem bestimmten Fähigkeitsprofil eine bestimmte Aufgabe lösen können (Bond/ Fox 2001). Anschließend kann das ermittelte Kontinuum in Teilbereiche bzw. Kompetenzstufen unterteilt werden. Zudem wird überprüft, inwiefern einzelne Items dem zugrunde liegenden theoretischen Modell bzw. Konstrukt entsprechen. Dieses Vorgehen ermöglicht es, qualitative Klassifikationen vorzunehmen und für einzelne Schülerinnen und Schüler Kompetenzprofile zu erstellen (Rupp/ Leucht/ Hartung 2006). Besonders interessant im vorliegenden Projekt ist die Möglichkeit, Daten aus einer Schweizer Stichprobe mit denjenigen einer Stichprobe aus Deutschland in Beziehung zu setzen und zu vergleichen. Nach Abschluss des Projekts soll das Instrument für die Praxis zugänglich gemacht werden. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei elisabeth.moser@tu-dort mund.de Verhaltensauffällig? Psychisch gestört? Problematisches und herausforderndes Verhalten von Schülern und wie Lehrer damit umgehen - eine qualitative Untersuchung an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Gwendolin-Julia Schulz Technische Universität Dortmund Beim nachfolgend vorgestellten Forschungsprojekt handelt es sich um ein Dissertationsvorhaben an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften (Lehrstuhl für Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung) der Technischen Universität Dortmund. Hintergrund Die Dissertation beschäftigt sich mit sogenannten „verhaltensauffälligen“ Schülern (Der besseren Lesbarkeit halber wird nur die männliche Bezeichnung verwendet.) an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in NRW aus der Perspektive ihrer Lehrer. Ausgangspunkt der Betrachtungen sind die Forschungsergebnisse einer Staatsexamensarbeit (Schulz 2005), die sich mit Gewalt von Lehrern gegenüber ihren Schülern an Förderschulen des genannten Förderschwerpunktes beschäftigte. Die Angaben der damals befragten Lehrer zeigten, dass Lehrerpersonen im Schulalltag Gewalt ausüben, dies aber sehr häufig mit dem Verhalten der von ihnen als („verhaltens-“)auffällig bezeichneten Schüler erklären und begründen. Weitere Literaturrecherchen zeigten zudem, dass sich die Schülerklientel an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung verändert (vgl. z. B. Franz 2008). Diese Veränderung der Schülerschaft wurde auch von den befragten Lehrern beschrieben. Die Förderschullehrer der genannten Schulform sehen sich mit neuen/ anderen Herausforderungen wie einem höheren Aggressionspotenzial der Schüler konfrontiert, denen sie häufig ratlos gegenüber stehen. Hinzu kommen gesellschaftliche und auch (schul-)organisatorische Entwicklungen, die ebenfalls zur Veränderung der Schülerklientel und damit zu einer veränderten Arbeitswelt an Förderschulen beitragen. Die Durchsicht der Forschungsarbeiten zu „Verhaltensauffälligkeiten“ in der Geistigbehindertenpädagogik machte deutlich, dass zwar mittlerweile „verhaltensauffällige Schüler“, also Schüler, die zum Beispiel als „problematisch“ „(erziehungs-)schwierig“ oder „herausfordernd“ gelten, beachtet werden. Sie werden jedoch als jeweils isoliertes Phänomen ohne Bezug zur Schule als Sozialraum gesehen. Die Rolle der Lehrer im komplexen Gefüge Schule wird kaum, und wenn, dann in einer überspitzt formuliert „eher passiven Rolle“ thematisiert. Wie Lehrer agieren, wie sie ihre Bewertungen und ihr Verhalten reflektieren und wie sie den Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten und dem Verhalten von Schülern sehen - all dies wird in den Arbeiten, wenn über- VHN 4/ 2008 356 Aktuelle Forschungsprojekte haupt, nur auf einer strategisch-pädagogischen Ebene bei Befragungen zu Konzepten erörtert. Arbeiten zu dieser Thematik können sich u. E. jedoch nicht nur auf den strategisch-pädagogischen Umgang beschränken, sondern müssen auch und gerade die persönliche Ebene beachten, da die Persönlichkeit von Lehrern, etwa ihr Belastungserleben, in den bisherigen Forschungsarbeiten nur im Rückschluss angesprochen wird (vgl. Meyer/ Penz 2002). Das heißt: Trotz einer Vielzahl an Beiträgen besteht für die Schule nach wie vor das Problem, das Dederich, Allar und Fabig (1999) in Anlehnung an Seifert (1995) für den Wohnbereich bereits vor einigen Jahren ausgemacht haben: „Nur selten werden die Grenzerfahrungen, denen sich Betreuer (…) in der alltäglichen Interaktion mit ,schwierigen‘ Bewohnern ausgesetzt sehen, thematisiert“ (zit. n. Dederich/ Allar/ Fabig 1999, S. 476, Hervorhebung im Original). In verschiedenen Theoriebereichen, etwa der Psychologie und Pädagogik, wird auf die Komplexität, Diffusität und Verschiedenheit der Vorstellungen über Verhaltensauffälligkeiten hingewiesen (vgl. z. B. Petermann/ Kusch/ Niebank 1998; Mühl 2002; Theunissen 2005). Die Einschätzungen von Lehrern bezüglich „Verhaltensauffälligkeiten“ wurden bisher aber nicht berücksichtigt, so dass Lehrer häufig mit theoretisch entwickelten Begriffen umgehen, diese aber unterschiedlich füllen, mit ihnen arbeiten und ihre Schüler bewerten. Da die Bewertungen des Schülerverhaltens offenbar als Rechtfertigung oder Erklärung des eigenen Verhaltens dienen und damit auch gewalttätige Handlungen gerechtfertigt oder erklärt werden, wird im Forschungsprojekt die Lehrerperspektive in Bezug auf „verhaltensauffällige“ Schüler in den Blick genommen. Bewertungen, Einschätzungen und Beschreibungen der Lehrer sind die zentralen Anknüpfungspunkte für eine weitere Betrachtung so genannter „verhaltensauffälliger“ Schüler. Schwerpunkte Erstens geht es um das Bezugsthema „Verhaltensauffälligkeiten“. Zunächst gilt es zu klären, was Lehrkräfte unter diesem vielschichtigen und entsprechend vielfältig und diffus verwendeten Begriff verstehen, welche Definitionen sie verwenden und welche Aspekte bei „Verhaltensauffälligkeiten“ für sie eine Rolle spielen. Zweitens liegt der Fokus auf den Lehrpersonen, ihrer Ausbildung und Vorbereitung auf die besonderen Herausforderungen durch „verhaltensauffällige“ Schüler (Stichwort: Theorie-Praxis-Verknüpfung), ihrer Entwicklung als Lehrer und ihren persönlichen Erfahrungen. Drittens geht es um den Umgang der Lehrer mit ihren Schülern. Wie schildern die Lehrkräfte den Umgang in schwierigen Situationen? Welche Strategien haben sie dafür entwickelt? Welche Strategien sind hilfreich und welche weniger? Viertens geht es um den Umgang der Lehrkräfte mit sich selbst. Wie reflektieren sie sich und ihre Arbeit? Was tun sie, um belastende Situationen zu meistern? Wie sehen sie sich im Schulalltag? Fünftens geht es um die Kommunikation und Interaktion zwischen Schülern und Lehrern. Damit stehen beide Akteure des Schullebens trotz der ausschließlichen Befragung der Lehrer im Fokus. Sechstens geht es um das Arbeitsleben und den Alltag an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Daher sind Aspekte des schulischen Lebens, etwa die Schul- und Personalentwicklung, organisatorische und rechtliche Rahmenvorgaben sowie Überlegungen zu Problemen und Belastungen an Schulen je nach Darstellung der befragten Lehrer zu berücksichtigen. Theoretischer und methodischer Rahmen Um die subjektiven Theorien der Lehrer zu erfassen, werden qualitative, problemzentrierte Interviews (Witzel 1982) geführt. Den theoretischen Rahmen hierzu bieten im Allgemeinen die theoretischen Konzepte der qualitativen Sozialforschung, im Speziellen das Konzept der Grounded Theory (vgl. v.a. Strauss/ Corbin 1996). Die Interviews wurden anhand eines Leitfadens geführt, der auf der Basis der Ergebnisse einer Staatsexamensarbeit sowie anhand von Hospitationen an Förderschulen und Literaturrecherchen entstanden ist. Im Sinne der Grounded Theory, die eine Überschneidung von Datenerhebung und -auswertung vorsieht, wird dieser laufend überprüft und weiterentwickelt. Zudem wurden in die Stichprobe Schulleiter mit aufgenommen, da deren Rolle innerhalb der bereits geführten Interviews als wichtig herausgestellt wurde. Zusammenfassung Das Anliegen des Forschungsprojektes kann folgendermaßen zusammengefasst werden: VHN 4/ 2008 357 Aktuelle Forschungsprojekte n Darstellung der persönlichen Situationen einzelner Lehrer in Bezug auf „Verhaltensauffälligkeiten“; n kritische Betrachtung des Schüler- und Lehrerverhaltens; n Erörterung belastender und entlastender Faktoren, Ressourcen und Strategien bei Auftreten von „Verhaltensauffälligkeiten“ und n Schlussfolgerungen zu Fragen der Ausbildung, Intervention und Prävention und der Relevanz des Themas an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei gwendolin.schulz@unidortmund.de Die Stimme von Kindern psychisch kranker Eltern Barbara Jeltsch-Schudel, Alexandra Rohrer Universität Freiburg/ Schweiz Hintergrund Psychische Erkrankungen betreffen bekanntlich nicht nur einzelne Menschen, sondern immer auch ihre Umgebung. Dies bedeutet, dass auch Kinder psychisch erkrankter Eltern Wege finden müssen, mit den Herausforderungen dieser besonderen Situation umzugehen. Obwohl sie in der Fachliteratur zuweilen unter „vergessene Kinder“ figurieren, werden sie in letzter Zeit vermehrt zur Kenntnis genommen. In der Schweiz wurde im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms „Integration und Ausschluss“ (NFP 51) von 2003 bis 2006 ein Forschungsprojekt „Children of Parents with Mental Illness“ durchgeführt. Dieses Teilprojekt ging vor allem der Frage nach, wie erwachsene Söhne und Töchter psychisch kranker Mütter oder Väter mit der elterlichen Erkrankung umgehen und wie sich ihre Identität auf dem Hintergrund der frühen Belastungen und außergewöhnlichen Erfahrungen entwickelt hat. Dabei war unter anderem auch von Interesse, wie es Kindern gelang, ihre Identität unter erschwerenden Bedingungen aufzubauen (siehe Resilienzforschung). Söhne und Töchter im Erwachsenenalter wurden retrospektiv schriftlich bzw. mündlich befragt. Unter dem Titel „Biografische Identität und Bewältigung“ wurden Ergebnisse an einer Tagung 2006 an der Universität Basel vorgestellt. In der Psychiatrieregion Winterthur wurde 2006 eine Studie durchgeführt, welche herausfinden wollte, wie viele Kinder von einer psychischen Erkrankung der Eltern betroffen sind. Am 21. März 2006 wurden alle Leistungserbringer beider Versorgungssysteme (jenem für Erwachsene und jenem für Kinder) schriftlich befragt. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der Psychiatrieregion Winterthur psychisch erkrankt, d. h. aktuell in Behandlung sind. 700 Kinder und minderjährige Jugendliche - so wird aufgrund des Zahlenmaterials angenommen - sind somit von einer psychischen Erkrankung ihrer Eltern oder eines Elternteils betroffen. Während die Angaben über die erkrankten Erwachsenen sehr detailliert erhoben wurden, sind über die Kinder nur spärliche Daten vorhanden. Dies liegt unter anderem auch daran, dass die beiden Versorgungssysteme kaum zusammenarbeiten. Fragestellung und Vorgehen Den beiden Studien, welche fast zur gleichen Zeit durchgeführt wurden, ist gemeinsam, dass sie zwar die Thematik Kinder psychisch kranker Eltern untersuchten, dies jedoch aus der Retrospektive erwachsener Betroffener (NFP 51) oder aus der Sicht der Leistungserbringer (Winterthurer Studie). Das Projekt „Kinder psychisch kranker Eltern“, welches 2007 im Rahmen des Studienganges Klinische Heilpädagogik und Sozialpädagogik des Heilpädagogischen Instituts der Universität Freiburg/ Schweiz angelaufen ist, interessiert sich für die aktuelle Situation dieser „vergessenen“ Kinder. Dabei wird die subjektive Bedeutsamkeit, welche die psychische Erkrankung eines oder beider Elternteile für ein Kind hat, besonders fokussiert. Zunächst erfolgte die Auseinandersetzung mit der Thematik im Rahmen eines Seminars (Heinrich Nufer). Eine erste Fragestellung, welche sich aus heilbzw. sozialpädagogischer Sicht zur Thematik Kinder psychisch kranker Eltern stellte, wurde danach für ein Diplomarbeitsprojekt formuliert (geleitet von Barbara Jeltsch und Alexandra Rohrer). Untersucht werden sollte die Frage, welche Erfahrungen ein Kind macht, welches mit einer psychisch kranken Mutter aufwächst. Dabei war von Interesse, wie das Kind von der Krankheit der VHN 4/ 2008 358 Aktuelle Forschungsprojekte Mutter erfährt, wie es auf die familiären Veränderungen reagiert, welche Unterstützung es erhält oder mit andern Worten, wo sich Risiken zeigen und wo Resilienzfaktoren auszumachen sind. In Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden der Winterthurer Studie (Kurt Albermann vom Sozialpädiatrischen Zentrum des Kantonsspitals Winterthur und Christine Gäumann von der Intergrierten Psychiatrie Winterthur) wurde eine empirische Untersuchung in Form einer mündlichen Befragung in Angriff genommen. Es erwies sich als schwierig - dies ist bereits als erstes Ergebnis zu werten -, Familien mit Kindern von rund zwölf Jahren zu finden, die für ein Interview bereit waren. Schließlich konnten vier Kinder befragt werden. Da die Erhebung darauf angelegt war, qualitativ ausgewertet zu werden, lassen sich auch bei dieser kleinen Stichprobe durchaus Tendenzen erkennen, denen weiter nachgegangen werden sollte. Erste Ergebnisse Zunächst löste die Erkrankung der Mutter Veränderungen in allen Familien aus. Die Kinder übernahmen vermehrt Verantwortung für sich selber und für ihre jüngeren Geschwister, aber auch für das Funktionieren des Haushaltes. Sie stellten ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der ganzen Familie zurück. Inwieweit dies ihrer Entwicklung förderlich ist oder sie schlichtweg überfordert, bleibt in dieser Momentaufnahme allerdings offen. Für den Umgang mit dieser veränderten Situation spielte das soziale Netz eine wichtige Rolle. Dazu gehörten insbesondere Nachbarn und Peers. Alle vier Kinder wurden von andern Familienmitgliedern (also nicht von Fachpersonen oder anderen Außenstehenden) über die Erkrankung der Mutter informiert, was allerdings sehr unterschiedlich geschah. Je nachdem hatten die Kinder schon selber Veränderungen im Verhalten der Mutter bemerkt und/ oder wurden mit einer plötzlichen Hospitalisation der Mutter konfrontiert. Die Beobachtungen der Kinder über die durch die Krankheit bedingten Veränderungen konnten sie zur Frage veranlassen, ob ihnen dies selber auch passieren könne. Denn die Aufklärung über die Krankheit erlebten sie teilweise problematisch. Wünschenswert wäre für alle Kinder gewesen, mit andern Personen (außerhalb der Familie) darüber sprechen zu können, welche möglicherweise das Gleiche erlebt hatten. Die Kinder suchten ihre eigenen Wege, um mit der Situation zurande zu kommen, etwa indem sie sich in ihr Zimmer zurückzogen. Dies scheint auch auf eine Tabuisierung der Krankheit innerhalb der Familie hinzuweisen. Das einzige, allen Kindern direkt zugängliche System außerhalb der Familie, die Schule, erwies sich als wenig hilfreich, da dort offenbar kaum etwas über die häusliche Problematik bekannt war, dies nicht zuletzt, weil die Familien selber nicht darüber sprachen. Zudem ist das Wissen um (zwar vorhandene) Hilfe- und Unterstützungsangebote sehr gering, und sie wurden entsprechend wenig genutzt. Dies alles weist darauf hin, dass die Tabuisierung der psychischen Krankheit überall sehr groß ist. Scham und Schuldgefühle scheinen eine offene Auseinandersetzung zu verhindern. Die Kinder wurden auch danach gefragt, was sie sich an Hilfe wünschen würden und welche Hinweise sie einem anderen Kind in der selben Situation geben würden. Ihre Antworten betreffen folgende Bereiche: n Unterstützung in der Schule n Austausch mit in gleicher Weise betroffenen Kindern n Vermehrter Kontakt zur getrennt lebenden Mutter n Mehr Informationen über die Krankheit. Fazit Diese ersten Ergebnisse generieren weitere Fragestellungen. Die Reflexion und mögliche Umsetzung der von den Kindern geäußerten unerfüllten Bedürfnisse und Wünsche geben Anregungen zu weiterer Projektarbeit. Insbesondere müssen die verschiedenen Lebensbereiche der Kinder stärker miteinander verknüpft und die bereits vorhandenen Unterstützungsangebote besser bekannt gemacht und aufeinander bezogen werden. Ein Schlüsselthema scheint die Vermittlung der psychischen Erkrankung der Mutter oder des Vaters zu sein. Hier altersangemessene, kindgerechte Vorgehensweisen zu finden, zu erproben und zu evaluieren ist dringend notwendig und wird als weiterer Projektschritt geplant. Weitere Informationen und Literaturhinweise können eingeholt werden bei barbara.jeltsch@unifr.ch